Zoë
Präfektur, Imperia, Italien
D
ie dicke Frau in dem Leoparden-T-Shirt betrachtete ihren Pass.
»Signora Julie Goya. Darf ich Ihre aktuelle Adresse haben?«
Ein kurzer Stich, doch dann zog Zoë die Schultern aufrecht. Was sollten sie ihr anhaben?
Klar, Zara hatte ihr empfohlen, wegzuziehen. Sie hatte etwas gespürt. Aber hier war nichts. Zoë hatte es die letzten Wochen wirklich immer wieder geprüft und durchdacht. Sie war hier sicher.
»Via Papa Giovanni XXIII in Ventimiglia.«
Die Beamtin sah sie über den Schreibtisch hinweg an. Misstrauen war es nicht, was in ihrem Blick lag, eher die Lust an Klatsch und Tratsch.
»Keine Jobs in Frankreich?«, fragte sie.
»Ich mag Italien einfach mehr«, antwortete Zoë. »Ihre Leute sind freundlicher. Deshalb lebe ich hier …«
Die Antwort genügte der Frau. Die italienische Trikolore hing träge hinter ihrem Schreibtisch herab.
»Gut. Dann sind hier die neuen Fahrzeugpapiere. Und, was, sagten Sie, ist das für ein Motorrad?«
»Ach, nur ein kleines. Für den Weg zur Arbeit und zurück.«
»Bene«, antwortete die Frau, ohne den Hauch einer Ahnung. »Hier, nehmen Sie.«
Sie gab ihr das winzige Kennzeichenschild mit dem Siegel der Repubblica Italiana.
Zoë dankte ihr und trat in den Sonnenschein vor der Präfektur der Region, die Palmen standen in Reih und Glied, als hätte ein Landschaftsgärtner Hand angelegt.
Sie ging auf die rot-weiß-grüne Maschine zu, die neben dem Parkplatz des Amtsgebäudes an eine Laterne gelehnt stand.
Sie musste lächeln, ganz unwillkürlich, weil sie schon jetzt den Wind im Gesicht spürte. Sie hatte sich endlich diesen Traum erfüllt.
Ducati Panigale V4 Speciale.
226 PS.
300 km/h Höchstgeschwindigkeit.
Von 100 auf 200 km/h in 3,7 Sekunden.
Sie brauchte jetzt endlich Urlaub. Sie musste etwas Gutes für sich tun.
Also war sie in den Bus gestiegen und gleich nach der Öffnung des Händlers in San Remo in den Ducati-Laden marschiert.
Das sei aber ein Ausstellungsstück, ein Rennmotorrad. Auf der Straße? Nein, das ginge ja gar nicht, also, er würde das nicht empfehlen, hatte der Mann erklärt, der wohl gedacht hatte, sie wolle einen Motorroller kaufen.
Sie hatte die 40000 Euro in bar aus der Tasche geholt und auf den Tresen gelegt. Dann war sie mit der Maschine aus dem Laden gefahren, ohne einen Kaufvertrag, ohne auch nur ihren Namen genannt zu haben.
Den Blick des Mannes im Rückspiegel würde sie nicht vergessen. Als sie zum ersten Mal am Gashebel gezogen hatte und die Maschine dabei fast abhob, hatte sie gejauchzt vor Freude.
Sie setzte sich den Helm auf und stieg auf.
Ab auf die Autobahn, in Richtung Genua, irgendwo in der Toskana würde sie in zwei Stunden absteigen und in einem Hotel einchecken, baden, essen, schlafen. Kein Koffer. Nichts. Klamotten könnte sie dort kaufen. Oder in Viareggio einen finden, mit dem sie keine Klamotten brauchen würde.
Es wurde höchste Zeit.
Sie wollte gerade den Startknopf drücken, als es in ihrer Hose surrte.
Sie knurrte, nahm den Helm aber ab und ging an ihr Handy.
»Ja?«
»Ciao, cara.«
Sie erkannte ihn sofort.
»Renato.«
»Genau. Der gute alte Renato. Freund aller wohltemperierten Weine und wohlgeformter Körper. Stets zu Diensten.«
»Da du mich angerufen hast, willst du allerdings nicht mir zu Diensten sein, sondern mir einen Dienst anbieten, nehme ich an?«
»Nun, ich will dafür sorgen, dass dein wohlgeformter Körper demnächst in noch feineren Samt gehüllt wird, bei dem Auftragsvolumen, das ich dir gleich offerieren werde.«
»Renato, wenn du mich jemals zu Gesicht bekommen hättest, wüsstest du, dass ich auf Samt scheiße. Und wenn du weiter so mit mir redest, wird das die Garantie dafür sein, dass du mich eines Tages zu Gesicht bekommen wirst.«
»Oh, Signora ist aber gar nicht gut gelau−«
»Signorina, so viel Zeit muss sein. Ich habe keine Zeit, ich trete soeben meinen Urlaub an.«
»Oh, Urlaub. Eine schöne Idee. Allerdings …«
Sie stöhnte genervt.
»Sprich endlich. Was gibt es?«
»Ich habe eine Fuhre.«
»Nicht interessiert.«
»Ach, Fürstin. Bitte. Eine Fuhre. Gleich morgen früh kannst du Urlaub machen.«
Sie hatte den Spitznamen, von dem sie wusste, dass alle sie so nannten. Von hier bis Marseille. Dennoch: Sie überlegte. Kurz nur.
»Eine Fuhre Gnocci, eine Fuhre Espresso oder eine Fuhre Prosecco aus dem Piemont? Herrje, nun rede schon.«
»I francesi.
Immer im Stress. Nun gut. Es ist nicht direkt eine Lieferung, sondern eine Abholung. Intellektuelles Zeug, Bücher und so weiter, Medizinbezug. Aber sehr hochgestochen, im besten Sinne des Wortes gewinnbringend.«
»Wie viele Tonnen?«
»Sechs.«
»In welcher Sprache?«
»Arabisch, Syrisch, Farsi, was weiß ich. Ich kenn mich da nicht so gut aus.«
»Gut. Ich verlange für die Tonne 150 Euro, Multiplikator ist 100.«
»Hast du schon wieder die Preise erhöht?«
»Willst du, dass die Ware ankommt, oder willst du am Ende ganz ohne Provision dastehen?«
»Gut. Wie machst du es?«
»Wie willst du es?«
»Über die SS1 in Italien, dann in Menton rüber über die Grenze und dann ab auf die Autobahn. Das hat immer gut geklappt in den letzten Wochen. Abladepunkt ist der alte Hafen in Nizza.«
»Gut. Dann Abholung in Ospedaletti. Am Meeresfrüchterestaurant, du weißt schon, am Bagni Regina. Sagen wir, um halb elf? Da ist spätabends viel Gewusel.«
»Es geht nicht so spät am Abend. Die Fuhre muss spätestens um Mitternacht drüben sein.«
»Dann müsste ich ja um 20 Uhr abholen. Das ist mir zu früh.«
»Die Ware besteht darauf.«
»Seit wann hat die Ware Wünsche?«
»Ich hab gehört, später gibt es Kontrollen. Du solltest wirklich um 20 Uhr da sein.«
»Treffe ich dich dort?«
»Hab was zu tun.«
»Gut. Dann gib mir die Nummer des Bücherfritzen.«