Zoë
Mittelmeer vor Ventimiglia, Italien
S
ie war die felsige Küste in den vergangenen Wochen so oft und genau abgefahren, dass sie nun, wo es dunkel war, navigierte, als habe sie nie etwas anderes getan.
Eigentlich hatte sie nur sichergehen wollen, dass sie im Notfall sofort abhauen könnte, mit dem kleinen Motorboot, das im Fischerhafen von Ventimiglia am Strand vertäut war. Nun aber nützte die ganze Vorbereitung sogar noch für einen Auftrag. Für einen Auftrag, der sie andernfalls das Leben gekostet hätte.
Sie sah den letzten scharfen Felsen hinter Latte, dort vorn war die Grenze.
Ein paar Hundert Meter noch.
Als sie den letzten Felsen passierte, sah sie schon das blaue Licht, das von dem dunklen Stein zurückgeworfen wurde. Die hellblauen Zuckungen, der Mond dort oben, die dunklen Felsen, das Bild sah aus, als hätte ein depressiver Maler es ersonnen.
Zoë zog den Gashebel zu sich, sofort verstummten die beiden großen Yamaha-Motoren, und das Boot nutzte den letzten Schub, um nun beinahe lautlos weiterzugleiten, wie ein Messer schnitt es durchs dunkle Meer.
Sie blickte sich um, sah die sechs Menschen im Heck stehen, unsicher sahen sie aus, wie sie da standen, verloren.
»Runter«, flüsterte sie, und als sie es nicht gleich verstanden, zeigte sie es deutlicher, machte eine ungeduldige Geste mit der Hand: »Runter!«
Doch noch bevor die sechs sich bewegen konnten, gab es einen Knall, dessen Echo derart laut in die Bucht zurückgeworfen wurde, dass sogar Zoë für einen Moment erschrak, sich hinter die Scheibe duckte und erst einmal die Umgebung sondierte.
Da oben war das Mündungsfeuer, sie sah es, es kam aus dem weißen Lkw. Und dann, nach Sekunden, sah sie die Schüsse der Gegenseite, kleine Feuerlachen aus unzähligen Pistolen.
Gut, es galt nicht ihnen.
Am Ufer brach ein regelrechter Sturm los, die Kugeln flogen durch die Luft, am Anfang kam noch Gegenwehr aus dem Lkw, doch schon nach einer halben Minute flogen die Kugeln nur noch in eine Richtung, im Motorraum des Lkw glimmte schon etwas, gleich würde sich dort alles entzünden, sie wusste das, sie hatte es oft genug gesehen.
Sie blickte sich wieder um, die Hand noch immer am Hosenbund, die sechs hinten im Heck hatten sich auf den Boden gekauert, die beiden Erwachsenen, Vater und Mutter, lagen quasi auf den vier Kindern.
Eines der Mädchen wimmerte leise, der Vater machte immer wieder Psst, die Mutter streichelte seinen Kopf.
Die Schüsse, das Wackeln des Bootes, das war alles zu viel für diese Kleinen, dachte Zoë.
Vielleicht war das Boot sogar noch schlimmer, denn der Lärm von Salven dürfte ihnen allzu bekannt vorkommen. Aber sicher waren sie nie zuvor auf offenem Meer gewesen, dachte Zoë.
Sie drückte den Knopf des Anlassers, das Geräusch der Motoren war der eines Raubtiers: leise und gefährlich. Sie legte den Gashebel leicht nach vorn, prüfte den Sound, keine Gefahr, am Ufer war es um einiges lauter, denn nun überschlugen sich auch die Sirenen wieder.
Sie gab also noch mehr Gas und steuerte wieder ein Stück weiter hinaus aufs offene Meer, wollte sichergehen, dass sie nicht doch noch in Menton in eine Seesperre geriet.
Denn die Bullen warteten ja nur auf ihre Ladung.
Es war das neueste Ertragsmodell ihrer Organisation.
Menschen.
Flüchtlinge.
Nicht irgendwelche Flüchtlinge.
Die konnten sich die miesen Dreckschweine von Schleppern leisten, die irgendwelche kaputten Boote aufs Mittelmeer schickten, ohne Rücksicht auf Verluste. Die im Zweifel die Flüchtlinge ans Steuer ließen, damit sie selbst nicht gefasst werden konnten. Und so lenkte dann ein Äthiopier, der zuvor noch nicht mal auf einem See gewesen war, geschweige denn auf dem großen Mittelmeer, in völliger Nacht ein Schlauchboot mit 40 Menschen.
Zoë hätte kotzen können über diese Art von Geschäftemacherei. Das waren Dreckschweine, und wenn sie einen davon kennenlernen würde, würde er bald Fahrgast in seinem eigenen Boot sein. Und zwar alleine.
Aber das war nicht ihre Klientel.
Seitdem die Bullen in Frankreich, Italien und Spanien die Grenzen besser kontrollierten, hatte ihre Organisation besondere Klienten.
Flüchtlinge, die so viel Geld hatten, dass sie auf keinen Fall in ein mieses Schleuserboot steigen wollten. So viel Geld, dass die Reise nur eine Kleinigkeit für sie war. Die sie aber eben in Sicherheit und Frieden erledigen wollten – nach den Schrecken des Krieges.
Oder es gab – wie in diesem Fall – einen Klienten, der einen Flüchtling dringend in sein Land holen wollte. Aus welchen Gründen auch immer.
In diesem Fall war es ein langjähriger Klient von Zoës Auftraggeber. Ein sehr reicher Mann aus Antwerpen, der den Familienvater in Zoës Boot unbedingt in seinen Diensten sehen wollte. Weil er in Syrien eine der Koryphäen im Diamantenschliff war, damals, in Friedenszeiten.
Eine solche Koryphäe gab es in ganz Europa nicht mehr anzustellen. Und deshalb hatte er dem Mann, der mit seiner Familie in einem Flüchtlingslager in Jordanien lebte, ein Angebot gemacht. Gutes Gehalt, nach zwei Monaten ein europäischer Pass – wenn auch ein gefälschter – und die sichere Anreise nach Kerneuropa.
Bis Italien hatte ein Kollege von Renato die Reise betreut – für den schwierigsten Teil war Zoë geholt worden.
Eben passierte sie die großen Jachten, die vor Monaco vor Anker lagen. Die Hochhäuser prangten dort oben, im Heck war die Familie wieder aufgestanden, mit offenen Mündern zeigten die Kinder auf das Lichtermeer, die Mutter lächelte ihnen zu. Die Gefahr war vorüber, sie spürten es.
Nun, in Nizza, würde die Familie von Zoë mit provisorischen Dokumenten ausgestattet – und mit einem offiziellen Dolmetscher –, damit waren sie Touristen aus Abu Dhabi. Keiner würde sie mehr beachten. Außer die Ladenbesitzer von Luxusshops, die Familien aus dem Mittleren Osten als laufende Gelddruckmaschinen betrachteten.
Zoë lenkte das Boot immer an der Küste entlang, zu ihrer Rechten glitzerten die Fassaden der Hotels in Saint-Jean-Cap-Ferrat, weiter oben war Èze nur zu erahnen.
Sie drehte sich noch einmal um, hob fragend den Daumen hoch.
Alles okay?, sollte das heißen.
Der Vater reckte sofort den Daumen in die Höhe und lächelte ihr dankbar zu. All das Geld, das er einmal gehabt hatte, hatte im Krieg keine Rolle mehr gespielt. Im Lager war er ein Vater wie alle anderen. Nun war es nur noch seine besondere Fähigkeit, die ihn von den anderen unterschied – und die nun dafür gesorgt hatte, dass er mit Sonderbehandlung nach Europa gelangt war.
Zoë dachte in ihrem Job selten über eine Rechtfertigung nach. Diesmal aber – das hatte sie beim vorletzten Mal gespürt, als sie reiche Menschen über die Grenze schmuggelte – fühlte sie sich im Recht. Warum hatte die Politik denn irgendwann entschieden, dass nun Schluss war? Dass Männer und Frauen, Kinder und Babys, die nicht mehr im Krieg verrecken wollten, nicht mehr hierher und in Sicherheit durften?
Dabei taten sie immer noch so, als sei das hier ein besonders humaner und herrlicher Flecken Erde. Dass dem nicht so war, wusste Zoë, seit sie in Marseille Drogen geschmuggelt hatte.
Diese Familie aber, die sie im Heck sitzen hatte, die hatte es verdient, in Sicherheit zu sein. Diese vier zitternden Kinder, die zwei kleinen Mädchen und die zwei kleinen Jungs. Und ihre Mutter. Und ihr Vater.
Und wenn sich die beschissenen Staatsführer nicht um sie kümmerten, dann würde es Zoë tun. Solange die Organisation sie dafür bezahlte. Sie konnte auch nicht jeden retten.
Vielleicht war es eine lahme Rechtfertigung. Aber nach den schrecklichen Vorfällen in der Provence vor zwei Monaten tat es ihr gut, das angenehme Geldverdienen mit etwas Sinnvollem zu verbinden.
Als sei sie ein Touristentransfer, steuerte sie ihre Motorjacht wie selbstverständlich in den alten Hafen von Nizza. Sie winkte dem Hafenmeister in seinem Häuschen zu, dann bog sie in die mittlere Stegreihe.
Platz 68 war leer. Selbstverständlich.
Sie steuerte rückwärts, und dann war er schon da, der Dolmetscher, der die Leine griff, die der Vater ihm zugeworfen hatte, und das Boot damit an den Steg zog.
»Bon soir«, rief Zoë, »alles gut?«
»Très bien.«
»Irgendwas besonders?«
»Nichts. Bei euch?«
»Kleiner Stau auf der Küstenstraße an der Grenze, hat uns nicht betroffen.«
»Hab schon gehört, im Radio tobt die Hölle.«
»Deshalb geh ich jetzt. Lässt du auftanken? Und viel Erfolg auf dem Weg in den Norden.«
Sie warf sich ihre Tasche über die Schulter, dann gab sie erst der Mutter und dann dem Vater die Hand.
»Salam aleikum. Und alles Gute für Sie. Willkommen in Europa.«
Sie sagte es ganz leise, dann gab sie erst den Mädchen und dann den Jungen einen Kuss auf die Stirn.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging sie den Steg entlang und trat am Ende des Hafens auf die breite Straße, die hinüber in die Altstadt führte.
Nizza.
Ihre Westentasche.
Ihr Zuhause.
Damals. Als sie ein Kind war. Verbrechertochter. Arm wie eine Kirchenmaus.
Sie verschwand in der flanierenden Menge des Abends und verließ sie erst wieder, als sie vor Chez Pipo eine Socca bestellte. Auf den Kichererbsenfladen gab sie reichlich Salz und Pfeffer, dann setzte sie sich an einen der vielen Tische vor der Tür und biss in das ölgetränkte Stammessen des Südens. Der Teig war kross und ein wenig scharf, genau so, wie sie es liebte.
Gleich würde sie sich noch ein Bier kaufen, und dann würde sie an der Rezeption des Negresco nach einer Suite fragen. Heute wollte sie nicht nach Ventimiglia zurück. Wahrscheinlich gab es an der Grenze noch immer eine Sperrung.
Gianluca würde sie morgen besuchen, dann würde sie ihn vergessen machen , dass er von ihr versetzt worden war.
Außerdem liebte sie es, aus der obersten Etage des Luxushotels aus der Suite in die Ferne zu schauen. Da war auf der Südseite das Mittelmeer, die Promenade des Anglais. Und auf der anderen Seite konnte sie Nice-Nord erahnen. Ihre grauen Wohnblocks, irgendwo zwischen Autobahn und Meeralpen. Denen sie entkommen war. Nun, da sie für eine Nacht ins Negresco gehen konnte.
Der schöne Gedanke trübte sich, als ihr der Name wieder einfiel.
Renato.
Er war immer ein guter Kontakt gewesen. Verlässlich. Loyal.
Ein treuer Mann. Bisschen viel Italo-Macho. Hatte es trotzdem nie vermocht, ihr an den Arsch zu fassen, wie so manch anderer Vollidiot, dem sie dann eben Jahre später die Hand brechen musste.
Nein, Renato war okay gewesen. Bisschen nachlässig manchmal. Das hatte sie immer scheiße gefunden. Heute aber hatte es ihr geholfen.
Sie betrachtete ihre geschlossene Tasche.
Das Funkgerät von Gianluca lag obenauf.
Er hatte im Eifer des Gefechts beim wilden Rummachen nicht gemerkt, dass sie es ihm abgeluchst hatte.
Ein Carabiniere.
Er hatte sie mehrfach angesprochen, beim ersten Mal in der Cafébar nahe ihrer Wohnung. Beim zweiten Mal vor der Eisdiele, wo sie ausgerechnet mit Zara gesessen hatte.
Erst danach hatte Zoë sich ausgerechnet, was das wohl bringen könnte, eines Tages, wenn sie mit ihm anbandelte.
Sie hatte recht behalten. Es hatte sich schneller ausgezahlt, als sie gedacht hätte.
Renatos Anruf war ihr komisch vorgekommen. Dass er so sehr darauf bestanden hatte, dass sie früh losfährt.
Deshalb war sie hinauf in die Stadt gegangen, hatte sich in der Kathedrale postiert, bis sie Gianluca auf dem Balkon hatte auftauchen sehen. Dann war sie herausgekommen und hatte ihm zugewinkt.
Und siehe da, zwei Café und mehrere potenzielle Anzeigen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses später, hatte sie gewusst, dass er heute Abend einen Einsatz hatte. Das Ziel war: sie. Zweifelsohne.
Das Funkgerät war ein Kinderspiel gewesen.
Am Telefon hatte sie den Syrer zu einem viel früheren Zeitpunkt zum Treffpunkt in Ospedaletti bestellt. 18 Uhr 30. Dann war sie mit der Familie in einem gemieteten Kleinbus nach San Remo gefahren, hatte den Kindern ein Eis ausgegeben und sich vor der Trattoria auf die Lauer gelegt.
Sie hatte Renato beobachtet, wie er seine Nudeln aß. Gewusst, dass er das Leben eben einfach nahm und sich nicht verrückt machte. Und richtig: Er hatte den Funk erst angeschaltet, als er aufgegessen hatte und in sein Auto gestiegen war.
Sie hatte auf der Hauptfrequenz ihren Funkspruch aufgesagt.
»Wagen 68 für Zentrale. Wir haben sie. Eine Schmugglerin, sechs Migranten. Keine große Sache. Festnahme mit zwei Einheiten. Kurz vor Grenze Ventimiglia – Menton. Wir bringen sie nach San Remo. Ab sofort Funkdisziplin und keine weiteren Funksprüche zu dieser Sache.«
Ab da hatte sie gehofft, dass die Bullen die Funkdisziplin einhielten. Aber es war gar nicht nötig gewesen. Renato hatte das Funkgerät abgestellt – sie hatte ihn durch ein Fernglas beobachtet – und seine Musik an. Sie hatte den alten Celentano bis zu sich hin gehört.
Es war einfach gut, ihre Freunde zu kennen. Und ihre Feinde.
Renato hatte an diesem Abend die Seite gewechselt.
Sie hatte die Familie in den Bus gesetzt und war ihm gefolgt, bis irgendwann der Lkw vor ihm auftauchte. Nun hatte sie alles verstanden. Renato hatte also tatsächlich die Seiten gewechselt. Hatte sie auflaufen lassen wollen, um selber ein Ding durchzuziehen. Mit neuen Auftraggebern, die besser zahlten. Die von sich dachten, sie seien die Zukunft. Und die auch noch Zoë auf der Abschussliste hatten. Drei Fliegen mit einer Klappe, sozusagen.
Sie war in Ospedaletti zum Hafen abgebogen und mit der Familie aufs Motorboot gegangen. Der Rest war Geschichte.
Nicht ganz: Renato würde erst noch Geschichte werden.