Zara
Kollwitzplatz, Berlin-Prenzlauer Berg
H
öher«, rief sie. »Höher.«
Das kleine blonde Mädchen jauchzte ausgelassen in der roten Kleinkindschaukel, denn sie flog schon förmlich über den Spielplatz, so heftig schubste ihre Großmutter sie an.
»Grand-mère, noch höher, bitte …«
Die alte Dame lachte: »Bien sûr, chérie, eine Runde noch, dann wollen wir aber ein Eis essen gehen.«
Zara hatte das Telefon noch am Ohr, obwohl das Gespräch schon eine ganze Weile beendet war. Jetzt nahm sie es herunter und steckte das Telefon in die Tasche ihrer Jeans.
»En allemand«, waren ihre ersten Worte nach dem langen Telefonat, »bitte, Amélie, du sollst mit deiner Großmutter Deutsch sprechen.«
Amélie ignorierte ihre Mutter einfach, jauchzte weiter, Zara sah nur kurz ihr hübsches Gesicht, bevor die Schaukel den höchsten Punkt erreicht hatte und schon wieder abwärtssauste, wobei das kleine Mädchen die Augen schloss.
Dafür drehte sich ihre Mutter zu ihr hin. »Was ist los, Kind? Ärger?«
Zara schaute sie widerwillig an. »Wieso denn Ärger?«
»Weil du deine Manie mit den Sprachen nur hast, wenn du unter Druck stehst.«
»Das ist keine Manie«, gab Zara leise, aber mit einem kalten Unterton zurück. »Es geht dabei nicht um sie, sondern um dich. Dein Deutsch ist immer noch nicht so gut, wie es sein sollte. Dabei bist du nun schon über ein Jahrzehnt hier. Außerdem …«
Sie sparte es sich, darauf hinzuweisen, dass es ein Sicherheitsrisiko für die ganze Familie war, wenn herauskam, wer Zara war. Denn es war einfach zu lächerlich, sich als Franzose in diesem Quartier in Berlin zu verstecken, weil hier quasi nur noch Franzosen lebten. Ein besseres Versteck gab es schlicht nicht.
»Merci beaucoup, Zara«, sagte ihre Mutter kühl und gab der Kleinen wieder einen Stoß, der sie in den Himmel hob, »für dein Lob an meine Anpassungsfähigkeit. Darüber werde ich nachdenken, wenn ich mal wieder in einem dieser grauen Eiswinter hier von der Côte d’Azur träume.«
Ihre Mutter war verletzt, sie konnte es verstehen.
»Streitet ihr?«, fragte Amélie, mit dem untrüglichen Gespür kleiner Kinder, die in Tönen mehr als in Worten verstanden, worum es ging und wie sich die Stimmung auf die nächsten Stunden ihres Lebens auswirken würde.
»Non, chérie«, antwortete Zaras Mutter und ignorierte die hochgezogene Augenbraue ihrer Tochter.
»Also sag schon, Zara, was ist los?«
Zara antwortete nicht, bremste stattdessen Amélie auf der Schaukel ab und nahm sie hinaus, dann öffnete sie ihr Portemonnaie und gab ihr zwei Geldstücke.
»Komm, wir gehen hinüber zu Giuseppe, und du kannst dir ein Eis aussuchen.«
»Ja«, rief die Kleine und war schon losgerannt, sodass Mutter und Großmutter Mühe hatten, ihr zu folgen.
Zara betrachtete die Umgebung, die zig kleinen und großen Kinder, die sich um den ersten Aufstieg an der Rutsche drängten, den Sandkasten mit allerlei Plastikspielzeug, die Müttergruppe, die auf der Mauer saß und Weißwein aus Plastikbechern trank. Die Sonne versank dort hinter den Altbauten und tauchte die Linden der Kollwitzstraße in ein warmes Abendlicht.
Die Anwohner saßen auf den Balkonen, einer feuerte gerade seinen Grill an. Nach der großen Hitze wagten sich die Menschen wieder hinaus, es war ein heißer Spätsommertag in Berlin. Das Bild war so friedlich, dass ihr das Gespräch, das sie bis eben geführt hatte, wie ein Traum vorkam.
Erst als sie sicher war, dass Amélie heil in der Schlange vor dem Eisladen und damit ein gutes Stück von ihnen entfernt stand, sagte sie: »Den Haag hat angerufen. Es gibt eine Krise.«
Der Blick ihrer Mutter verfinsterte sich.
»Die haben doch versprochen, dass sie dich erst mal in Ruhe lassen.«
»Und das haben sie auch gehalten. Ich war nicht nach dem Anschlagversuch in Stockholm, ich war nicht in Afghanistan, als der Soldat umgebracht wurde, ich war nicht mal bei der heißen Quelle auf Zypern. Aber jetzt …«
Ihre Mutter streckte den Arm aus und zog ihn wieder zurück, als könne sie sich von der bloßen Annäherung verbrennen.
»Terror?«
»Nicht direkt.«
Sie wusste, dass sie seit Jahren mehrere europäische Gesetze brach – aber es war der einzige Gesetzesübertritt in ihrem Leben, den sie sich leistete – na gut, bis auf den Mord an Aïchas Vater vor drei Monaten, und sie hatte für sich selbst nie einen Zweifel daran gelassen, dass es Mord war. Jedenfalls war bis dahin der einzige Gesetzesübertritt, dass sie all ihre Ermittlungen und all ihre Einsätze mit ihrer Mutter besprach. Nicht mit Stefan, ihrem Mann. Nicht mit Amélie, ihrer Tochter, natürlich nicht. Die war ja sogar noch zu klein, um auch nur zu begreifen, was es bedeutete, wenn man ihr sagte, ihre Mutter sei internationale Unternehmensberaterin. Nicht mit ihren Freundinnen – denn sie mied den Kontakt zu anderen Menschen, ging ausschließlich mit Stefan zu dessen Freunden und Kollegen und war dort ruhig und freundlich und hielt sich weitgehend im Hintergrund.
Nein, sie erzählte es nur ihrer Mutter, und nicht – wie viele ihrer Kollegen – in volltrunkenem Zustand irgendeiner Geliebten in einem miesen Hotelbett irgendwo am Einsatzort, wenn sie nicht mehr wussten, wohin mit ihren Gefühlen.
Dennoch konnte sie nicht verhehlen, dass selbst dieser Gesetzesübertritt sie manchmal nachts beschäftigte.
Ihre Mutter hatte sich der Eisdiele zugewandt, sie drängte sie nicht, sondern wartete ab.
Zara fasste sich ein Herz.
»Wir haben in der Levante einen Überläufer gewonnen. Wir haben ihn ausweisen lassen, damit er sich mit ISIS nach Europa schmuggeln lassen konnte. Wir wollten möglichst viel über deren Methoden lernen, Terroristen hierherzukriegen. Außerdem erhofften wir uns Auskünfte über mögliche Anschläge.«
»Ist er tot?«
»Wie kommst du darauf?«
»Vergangenheitsform.«
Mist, es war ihr tatsächlich entgangen. Ihre Mutter war an vielen Tagen eine bessere Ermittlerin als sie, ohne jemals auch nur eine weiterführende Schule besucht zu haben.
»Er wurde enttarnt, glaubt mein Chef. Sie haben die Terroristen abgehört. Und da sie mit den drei letzten Männern, die sie enttarnt zu haben glaubten, sehr viel Abscheuliches angestellt haben, fürchten wir, dass auch er …«
Sie pausierte, weil Amélie mit einem Schokoeis mit bunten Streuseln angerannt kam.
»Regarde, grand-mère, regarde, du chocolat …«
»En allemand, Amélie, auf Deutsch, bitte …«
Amélie achtete nicht darauf, hüpfte lieber im Galopp den breiten Fußgängerweg entlang, sodass die Kugel in der Waffel bedrohlich auf und nieder hüpfte.
»Was schade wäre«, fuhr sie fort, »weil der Mann in der Szene sehr angesehen ist. Er hat schon gemordet. Und ist deshalb glaubhaft. Wir haben ihn hart rannehmen müssen, bis er zu uns kam. Mein Kollege«, ihre Mutter kannte Isaakson aus Erzählungen, wusste aber nicht seinen Namen – das wäre doch ein bisschen viel gewesen, fand Zara, »hat ganze Arbeit geleistet. Und wenn sie ihn jetzt umbringen, dann wäre es … Nun ja, eben … schade.«
»Für ihn sogar mehr als das.«
»Du weißt doch, wie ich das meine, Maman.«
»Sag das nicht. Denn du weißt, dass du ein sehr spezielles Einfühlungs…«
Ihr Blick hieß ihre Mutter schweigen.
»Ich werde also losmüssen.«
»Wann?«
»Uns bleibt keine Zeit.«
Ihre Maman nickte, weil sie genau verstand.
»Gut, ich werde es Amélie morgen früh sagen, wenn sie sieht, dass du wieder weg bist.«
»Ich mach das heute Abend noch.«
»Wo ist dieser Überläufer überhaupt?«
»Wir glauben, er ist in Melilla. Dieser spanischen Exklave in Marokko.«
»Und da marschierst du rein und rettest ihn?«
»Wenn ich ihn finde …«
»Aber was willst du tun? Dich in die Höhle des Löwen einschleusen? Du kannst doch nicht undercover ermitteln, das ist zu gefährlich.«
Zara betrachtete die hüpfende Amélie, die alle drei Sprünge an ihrem Eis leckte. Sie nickte.
»Ich weiß.«
»Und was wirst du tun?«
Es war eine lange Pause, so lang, dass sie schon kurz vor ihrer Haustür waren, wo Amélie wartete, als Zara antwortete:
»Was ich schon mal getan habe.«
Ihre Maman sah sie an.
»Zoë?«
Zara nickte.