Maman
8. September 2005, Nice-Nord, Frankreich
W ie sie diesen Wohnblock hasste. Die verdammte Autoroute 8, die auf der hohen Brücke vorbeiraste, und die niemals Ruhe gab, nicht am Tage, wenn die Urlauber vorbeirasten, die reichen Menschen in ihren großen Autos auf dem Weg in schöne Orte, nicht in der Nacht, wenn die Lastwagen darüber krachten, mit Waren in ihren Bäuchen, die sie sich nie würde leisten können.
Es war, als hätten die Politiker ihnen diese Autobahn vor vierzig Jahren nur vor die Nase gebaut, um den Menschen in der Cité zu zeigen, was sie von ihnen hielten. Dass sie nichts wert waren, dass sie keinen Schlaf nötig hatten, weil sie am Tage ja eh nichts Anständiges zustande brächten.
Sie stand am Fenster und ärgerte sich. Sie war eigentlich nicht so, nicht wie die anderen hier, die nur jammerten und mit ihrem Schicksal haderten und die Republik verwünschten. Doch sie hatte wirklich lange nicht mehr geschlafen.
Vor einer halben Stunde war er abgefahren. In seinem alten verwunschenen Renault 25. Seitdem stand sie hier oben am Fenster, hatte ihm nachgesehen, wie er in der Seitenstraße verschwand in Richtung Innenstadt, und sich nicht vom Fleck bewegt.
Als hoffte sie, dass er es sich anders überlegte, umdrehte, zurückkam, weil er wusste, dass sie ihn doch liebte, brauchte.
Brauchte sie ihn?
Er war doch ohnehin in den letzten 25 Jahren nur wochenweise da gewesen.
Die Mädchen waren aus dem Haus, sie hatte zumindest Zara alleine erzogen. Zoë dagegen hatte sich alleine aufgezogen.
Zara.
Zoë.
Sie hatte immer von Zwillingen geträumt, damals, als sie noch eine junge Frau gewesen war. Verliebt in diesen jungen Mann, der ihr so mutig und so frei vorgekommen war.
Als ihr noch nicht klar war, dass in ihm nichts steckte als ein Verbrecher, ein erfolgloser noch dazu.
Und dann, mit ihrem dicken Bauch auf der Couch in dem heruntergekommenen Haus, aus dem sie jetzt auf die Autobahn blickte, hatte sie geahnt, dass das nicht ein einziges Kind sein konnte. Geld für einen Ultraschall hatten sie damals nicht gehabt, das war 1981 noch eine Luxusleistung gewesen. Sie hatte sich gefreut, weil sie gespürt hatte, dass es etwas ganz Besonderes werden würde – ihre Kinder.
Ihre Mädchen, sie hatte es damals schon gewusst.
Fred hatte gesagt: »Quatsch, woher weißt du das denn?«
Er hatte sich Jungen gewünscht. Immer. Deshalb hatte er Zoë auch wie einen Jungen geformt. Disziplin, Härte, Ausdauer. Seine Tochter hatte alles gelernt, um ihm zu gefallen. Dabei war sie zehnmal stärker geworden, als er es jemals war.
War die Liebe zu ihm vergangen?
Nein, vielleicht nicht.
Obwohl er alles dafür getan hatte.
Doch sie war loyal, treu gewesen.
Obwohl er ihr Zoë genommen hatte, die Gott weiß wo war.
Obwohl sie nie einfach eine Frau hatte sein können wie die anderen Mütter auf Zaras schicker Schule, die wohlhabend waren und Museen besuchten und Cafés.
Zara war auch weg − auf der Akademie. Seitdem sie dort angenommen war, hatte ihre jüngere Schwester nicht mehr ein Wort mit ihr geredet.
Vor einer Woche war Zara aus Portugal zurückgekehrt.
Ein schönes Land, das hatte sie ihr erzählt. Es hatte sich wie ein Traum angehört. Strände, gutes Essen, die Sonne, die auf eine schöne Landschaft schien und Menschen erfreute. Und nicht wie hier als Feuerball auf eine Betonwüste brannte.
Zara hatte einen schrecklichen Job machen müssen, sie hatte keine Details verraten. Sie hatte ihr nur gesagt, dass ihr Leben nun eine entscheidende Wendung nehmen würde – dass sie von ihr weggehe, weil sie woanders hinmüsse. Ein neues Leben beginnen.
Dass sie wolle, dass ihre Mutter sie begleite.
»Maman«, hatte sie gesagt, als sei sie immer noch ihr kleines Mädchen, »Maman, es gibt keine Alternative. Du musst mitkommen. Hier stirbst du. Weil er stirbt. Und er wird dich mitreißen.«
Am anderen Morgen würde sie losfahren. Vier Uhr. Sie warte unten vor dem Haus, mit ausgeschalteten Scheinwerfern, falls er doch wider Erwarten zu Hause sein sollte.
»Wo geht es hin?«, hatte sie gefragt, wohl wissend, dass Zara darauf nicht antworten würde.
Vor einer Woche war er aus dem Gefängnis herausgekommen, sie hatte ihn wieder abgeholt, wie stets.
Er war wegen guter Führung entlassen worden, auch das war wie immer. Drinnen verhielt er sich wie ein guter Mann, der joviale Freund aller Knackis, immer einen Rat, ein gutes Wort, immer Zigaretten. Er war schließlich ein alter Hase. Der Knastliebling, hatte er ihr mal erzählt.
Doch hier draußen hätte er mal für sie da sein sollen.
Zwei Tage versuchte er es.
Er lud sie zum Essen ein, in das kleine Bistro am anderen Ende der Straße. Er kuschelte sich des Nachts an sie. Sie ließ es zu, genoss es sogar. Er ging mit ihr spazieren, durchs Viertel, winkte links und grüßte rechts.
Sie dachte: Vielleicht klappt’s diesmal wirklich.
Das Damoklesschwert war scharf: Die Reststrafe war zur Bewährung ausgesetzt worden – vier Jahre, bei erneuter Straffälligkeit sogar mit verschärften Haftbedingungen.
Vielleicht hatte er diesmal wirklich kapiert, was das bedeutete. Auch für sie.
In der dritten Nacht war er verschwunden. Als er geglaubt hatte, sie schliefe tief und fest, war er leise aus dem Bett gestiegen. Drei Minuten später hatte sie den Motor des Renault 25 gehört. Er war wieder zu der Bande unterwegs. Die gefährlichste Bande. Die Handlanger des Korsen. Des Paten. Des gefürchtetsten Verbrechers des ganzen Südens.
Für den ihr Mann arbeitete, seit Jahren. Und immer wieder der Dumme war, der gefasst wurde. Dafür saß der Korse reich und faul und sicher auf seiner Insel.
So war es jede Nacht gegangen. So würde es weitergehen. Bis er wieder im Knast verschwand, was so sicher war wie das Amen in der Kirche die Straße runter.
Diesmal aber für viele, viele Jahre.
Sie konnte nicht noch einmal …
Sie ging ins Schlafzimmer, nahm die kleine Reisetasche, die Zara ihr mitgebracht hatte.
Sie überlegte, Zoë anzurufen, ihr davon zu erzählen.
Sie verwarf es wieder …
Sie öffnete die Schublade des Spanplattenschrankes und fing an, ihre Sachen in die Reisetasche zu packen, fein säuberlich, Naht auf Naht, Falte auf Falte.