Zoë
Calanques von Marseille, Frankreich
E s fühlte sich an wie ein Albtraum.
Wie hatte es geschehen können? Warum war er am Leben? Hatte Zara sie betrügen wollen? Hatte sie seine Tötung nur vorgetäuscht? Ihn doch nicht getötet? Damit sie kein Verbrechen begehen musste? Obwohl er seine Tochter getötet hatte? Die kleine Aïcha?
Doch wie hatte Zara es gemacht? Mit Platzpatronen? Mit Kunstblut?
Egal. Jetzt war es egal.
Jetzt war es ihre Aufgabe.
Endgültig.
Die Hitze brannte auf ihre nackten Schultern, das weiße Tanktop nass vor Schweiß und Blut und Dreck.
Der alte Mann, den sie an den Armen mit sich zog, stolperte und stürzte über den Boden, das Blut rann aus den Wunden, die sie ihm zugefügt hatte, als sie ihn aus seinem Wohnblock gezerrt und in den Kofferraum ihrer S-Klasse gequetscht hatte. Zudem hatte der felsige Untergrund sein Übriges getan, um seine Haut aufzureißen wie eine Plastiktüte.
Sie schaute nach vorne in Richtung Klippen, sie hörte das Meer, bevor sie es sehen konnte, doch trotzdem vernahm sie ihn von hinten, wie er flüsterte: »Sie hat es verdient, die kleine Schlampe, sie hat es …«
Sie zog kräftiger an seinen Armen, dass er Ruhe gab, er sollte einfach Ruhe geben. Sie spürte, wie er wieder über einen Stein holperte, der ihm mehr von seiner Haut aufriss.
Nicht mehr weit.
Er verstummte, sie hörte nur noch sein Stöhnen, spürte, wie das Blut seiner Hände auch ihre rot färbte.
Als sie endlich die Wasserkante erreicht hatten – sie wusste nicht, ob es Sekunden, Minuten oder Stunden gedauert hatte, in denen die Sonne ätzend war wie Säure auf der Haut –, ließ sie ihn los und hörte ihn auf den Boden prallen wie eine aufplatzende Frucht.
Sie schaute über den Rand, der in den Abgrund wies, die Felsen schroff, nur noch wenig Macchia wuchs auf den Steinen, fünfzig Meter hinunter kristallblau das Meer.
Die Wellen waren so hoch, dass sie den Sprühnebel im Gesicht zu spüren glaubte, wie eine Erinnerung an einen Moment, der nicht lang her zu sein schien.
»Gnade«, hörte sie ihn, und endlich drehte sie sich um, sah sein verzerrtes Gesicht. »Gnade«, stieß er hervor, sein Blick starr auf ihr und doch weit weg.
»Was willst du für Gnade? Du Tier«, schrie sie, selbst überrascht über die Wut, die so nah unter der Oberfläche verborgen war. Normalerweise versteckte sie ihre Regungen unter einer Schale aus Kontrolle und Brutalität.
»Gnade, du weißt doch nichts über …«
»Ich weiß«, unterbrach sie sein Flehen, »dass du deine Tochter hast ermorden lassen. Weil sie deine Pläne durchkreuzt hat. Weil sie anders leben wollte, als du es ihr vorgegeben hast. Frei. Ohne Grenzen. Aber du wolltest …«
»Gnade«, rief er erneut, lauter, sein Blick war ins Hier und Jetzt gewandert, offenbar wusste er, was ihm bevorstand.
»Ich hatte geglaubt«, fuhr sie fort, klarer nun, als hoffe sie, dass er ihr eine Antwort wies, »dass du tot bist. Dass wir uns hier nie wiedersehen müssen. Wie kann es sein, dass du doch noch am Leben bist? Erklär es mir, dann verschone ich dich …«
Doch sie sah, wie sich sein Mund verzog, zu einem Lächeln? Nein, es war der gleiche boshafte Zug wie vor drei Wochen, als sie schon einmal hier oben gestanden hatten. Damals hatte sie ihr Tun nicht vollendet – sie hatte es ihr verdorben. Zara, mit ihrer Waffe. Diesmal würde es ihr nicht gelingen.
Zoë griff in ihre große Tasche, sie sah, wie der Glanz des scharfen Dolches die Sonne zurückwarf. Diesmal würde sie Aïcha rächen, das junge Mädchen, das sterben musste, weil er, Amadou Sissoko, den Plan zu einem Terroranschlag hatte verheimlichen wollen, seine Tochter kurz vor dem Verrat stand und er ihren eigenen Bruder beauftragt hatte, sie zu töten, so brutal es nur ging.
Nun würde er sterben, und sie würde es so schmerzhaft tun, wie sie konnte.
Sie hielt den Dolch in die Luft, sah ihr Spiegelbild im hellen Stahl, ihre Zügen sahen verzerrt aus, ihr Gesicht wie eine Maske. Sie kniff die Augen zusammen.
Dann drehte sie sich zu ihm um, er sah den Dolch, schützte seine Augen mit der Hand, sein Blick pure Furcht.
Sie nahm Maß, indem sie die Entfernung zu seinem Hals prüfte, die Linie abfuhr, mit der Hand vor- und zurückschwang, als prüfe sie, wie groß der Schwung sein müsse.
Sein Blick, die Angst in seinen Augen, es durchfuhr sie, doch es war kein Mitleid, es war die pure Befriedigung. Dieses Tier zu töten, war ohne Alternative, ohne Rückkehr.
Er schloss die Augen, sein Hocken war zu einem Bücken geworden, sie schwang wieder durch, den Schatten sah sie nur im Augenwinkel.
Nicht schon wieder, durchfuhr es sie.
Doch bevor sie mit dem Dolch die Luft durchschneiden konnte, war da wieder dieses Geräusch, dieser Knall, dieser Schuss, der die Wellen durchbrach und die Zikaden verstummen ließ.
Wie in ihrer Erinnerung von vor drei Wochen.
Und sie schrie: »Nein«, und sah Zara, wie sie hinter einem Busch stand, die rauchende Knarre in der Hand, Zoë sah den Dampf aufsteigen wie in Zeitlupe. Und ihr Blick verlagerte sich auf den, der von der Kugel getroffen werden würde, gleich, und in diesem Moment wurde aus dem Gesicht des alten Berbers das Gesicht eines anderen Mannes, eines Mannes, der ihr so vertraut war wie ihr Geliebter, weil es der Mann war, den sie vor allen anderen liebte, der Mann, der sie vor 30 Jahren im Arm gehalten hatte, wenn sie schrie, sie vor 25 Jahren am Strand gehalten hatte, wenn sie das Schwimmen lernte, vor 20 Jahren zu einem ersten Raub mitgenommen hatte, dem sie vor 18 Jahren gezeigt hatte, wie Verbrechen ging, und vor 10 Jahren aus seiner ewigen Malaise befreit hatte, weil sie es konnte.
Das Gesicht von Amadou Sissoko wurde zum Gesicht von Fred Coste. Und nun war der Zug um die Augen nicht mehr boshaft, sondern nur bekannt, voller Angst, voller Erwartung, doch sie vermochte es nicht mehr, sich zu bewegen, stattdessen klatschte die Kugel in Zeitlupe in seinen Schädel, dass die Oberfläche sich öffnete und das Innere aus seinem Gehirn austrat und seine Augen sich herausbohrten und abstarben im selben Moment, und dann spritzte die ganze Masse seines Kopfes in einem Moment an die Felsen, und ihr Vater verteilte sich auf den Calanques, und ihre eigene Schwester hatte …
»Nein«, schrie Zoë, »nein!« Und sie zuckte konvulsisch und konnte sich nicht beruhigen, weil sie ihre Schwester sah, ihre Zwillingsschwester, die seelenruhig beobachtete, wie ihr Vater am Boden lag und starb, und Zoë konnte nur die Augen schließen.
Und in diesem Moment schreckte sie hoch.
Krümmte sich in Gianlucas Bett und spürte das Laken, das klitschnass war und an ihrer nackten Haut klebte.
Die warme Luft der Nacht drückte herein, und das Meer draußen machte dasselbe Geräusch wie in ihrem Traum, und die Angst war da, obwohl sie wusste, dass ihr Vater nicht weit entfernt in seinem kleinen Haus in Sicherheit war.
Sie setzte sich auf und sah, dass Gianluca unbeirrt neben ihr schlief, er atmete ganz ruhig. Sie wischte sich die Stirn ab und trank einen Schluck aus der Wasserflasche neben dem Bett. Sie wollte nicht kotzen, obwohl sie es gekonnt hätte.
Zaras teilnahmsloses Gesicht. Sie würde es nicht vergessen.
Sie atmete tief durch, und trotzdem verließ es sie nicht: das unbestimmte Gefühl von Gefahr.
Draußen war es still, selbst die Grillen zirpten nicht mehr, es musste spät sein. Oder besser früh.
Die einsame Straßenlaterne, die vorhin ihr Liebesspiel beleuchtet hatte, warf ihren Schatten in den Raum.
Sie blickte ihn an, wie er seelenruhig schlief, dann stand sie langsam auf und ging zu ihren Sachen.
Sie nahm ihr Telefon aus der Tasche ihrer Jeans.
Zwei Nachrichten. Die erste vom frühen Abend.
Das war ungewöhnlich.
Nein, es war mehr als das.
Sie spürte, wie sich die Härchen auf ihrem Arm aufstellten. War das die kalte Luft, die durchs Fenster wehte? Sie fröstelte.
Benito Bolatelli schrieb nie Nachrichten.
Nein. Nie stimmte nicht mehr. Denn diesmal hatte er geschrieben. Zum ersten Mal.
Wir sollten uns treffen. Irgendwas ist im Gange. Fliege morgen früh. Triff mich in Nizza. B.
Sie sah förmlich vor sich, wie er unbeholfen auf der Tastatur herumtippte, die Augen gegen die tief stehende Sonne geschirmt, die auf seine Terrasse knallte, während unten das Mittelmeer an die korsische Küste brauste.
Sie atmete einmal tief ein. Renato war also kein Zufall gewesen. Vielmehr war das der Beginn einer Kampagne gegen ihre Organisation.
Nun atmete sie aus, spannte die Muskeln an, spürte, wie die Sehnen hervortraten.
Sie war gewappnet. Diesen Kampf würde sie annehmen. Das war also die Gefahr gewesen, die sie eben beim Aufwachen gespürt hatte.
Doch das dachte sie nur so lange, bis sie die zweite Nachricht öffnete.
Du hast gesagt, dass wir uns wiedersehen. Dass es noch mal geschehen wird. Dass du mir noch mal helfen wirst. Ich würde dich nicht bitten, wenn es nur eine halb gare Nummer wäre. Zoë, ich brauche dich. Triff mich morgen dort, wo wir uns das vorletzte Mal gesehen haben. Nur zur Sicherheit. Z.
Sie ließ das Handy an ihrem ausgestreckten Arm baumeln. Dann nahm sie ihre Jeans und ihr T-Shirt und zog beides an. Sie hinterließ eine Nachricht auf dem winzigen Küchentisch.
Grazie, caro. Wir sehen uns wieder. Ich melde mich. Z.
Sie legte den Zettel hin und ging zur Tür. Kurz bevor sie sie hinter sich zugezogen hatte, hielt sie inne. Ging wieder zum Tisch und malte aus dem Z ein J.
Dann ging sie hinaus, zog die Tür leise zu und stieg im Dunkeln die Treppe herunter.
Draußen vor der Markthalle diskutierten zwei Fischer leise miteinander und trugen den Fang in Eiskisten in die Halle. In den Kisten lagen Steinbutt und Drachenkopf, die Hummer bewegten sich noch mit ihren zusammengebundenen Scheren. Die Kirchturmuhr schlug viermal.
Einmal noch ging Zoë um die Ecke, dann stand sie vor dem menschenleeren Rathaus. Sie sah sich um. Ließ die zitternden Hände sinken. Dann öffnete sie ihren Mund und schrie. Vier, fünf Sekunden lang, laut und ausdauernd. Wie ein Tier, das man getreten hatte.
Als sie verstummte, ging sie schnell weiter.
Der Druck musste raus. Da unterschied sie sich nicht von normalen Menschen. Nur fand sie andere Wege.