Benito Bolatelli
Aéroport Nice, Côte d’Azur, Frankreich
E r verabscheute es, aber es musste sein. Man konnte nie wissen. Auf Korsika tanzten sie alle nach seiner Pfeife, aber hier auf dem Festland war das anders.
Sicher. Er hatte immer noch so viele Bullen auf seiner Gehaltsliste, dass es gereicht hätte, um ein mittleres zentralafrikanisches Land auf Jahre zu finanzieren.
Dennoch war die Devise: nicht auffallen.
Also hatte er sich mit seinen über 70 Jahren in die Economy Class der Air Corsica gesetzt.
Auf einen Mittelsitz hatten sie ihn verfrachtet. Weil er immer noch nicht verstehen konnte, warum man nur noch online einchecken konnte. Mit dem Handy. Herrgott. Er wollte mit seinem Handy telefonieren. Nicht Flugzeuge fliegen.
Nun streckte er die müden Knochen und Gelenke aus und humpelte, verborgen hinter einer dunklen Sonnenbrille, ins Flughafengebäude. Es war ein Inlandsflug, deshalb hätte er sofort zum Ausgang gehen können, aber er machte einen kleinen Schlenker Richtung Internationale Ankünfte und sah sie schon von Weitem.
Die beiden Polizisten kamen auf ihn zu, schnurstracks und ohne abzubremsen, kurz vor ihm teilten sie sich und ließen ihn in der Mitte durchgehen. Nicht mal ein Eingeweihter hätte den Moment sehen können, als der Umschlag den Besitzer wechselte. Die blonde hochgewachsene Frau murmelte leise: »Merci, patron.«
Dann war der Augenblick vorbei. Die Arbeit der beiden war angemessen belohnt worden. Außerdem hatte der verdammte Al-Hamsi bestimmt genug Kohle dabeigehabt, und wie er diese beiden korrupten Bullen kannte, hatten sie sich die auch noch eingesteckt. Doppelte Ernte. Nicht sein Problem. Durch seine guten Kontakte zur Police Nationale wusste er immer, wann seine Feinde auf dem Weg ins Land waren. Und so hatte er gestern Nacht noch das Begrüßungskomitee für den Morgen bestellt.
Er ging aus dem Flughafengebäude und trat in den gleißenden Sonnenschein. Das erste Taxi war ein Peugeot 607. So einen fuhr er auch zu Hause. Sehr gut.
Er stieg ein.
»Zum Negresco, bitte.«
Der Taxifahrer murrte. Hatte sicher zwei Stunden gewartet. Und nun eine Fahrt für 12 Euro. Bolatelli verstand ihn.
Schnaubend fuhr er an, nahm die Kreisverkehre, die ihn aus dem Flughafen herausführten, dann bog er auf die Prachtstraße, die Promenade des Anglais, hinein in Richtung Stadtzentrum, dabei aber immer am kilometerlangen Steinstrand entlang.
Der alte Pate öffnete das Fenster einen Spalt, was ihm einen kritischen Blick des Fahrers einbrachte. Er hasste Klimaanlagen.
Sein Blick fiel auf die Radfahrer, die Joggerinnen, die mit großen Schwimmreifen bewaffneten Väter, die sich ihren Weg über den Strandboulevard bahnten.
Drei Minuten später hielt das Taxi vor dem Luxushotel mit seinem typischen Türmchen und den ausladenden Fenstern. Bolatelli gab 30 Euro und stieg aus, der Fahrer murmelte ein überraschtes »Merci, Monsieur« hinter ihm her.
Er ging nicht über die Straße ins Hotel, sondern setzte sich seinen Hut auf und nahm auf der weißen Parkbank Platz, die auf den Strand blickte.
Er wusste, dass er nicht hatte schreiben müssen, wann genau er hier ankam. Er wusste, dass er nicht hatte schreiben müssen, wo genau sie sich trafen. Er wusste, dass sie die Ankunftszeit seiner Maschine auswendig kannte, dass sie genau den Treffpunkt kannte, den sie bereits so lange nutzten: Sie hatte die Umgebung schon seit 30 Minuten sondiert – wäre ihr etwas merkwürdig vorgekommen, hätte sie ihn sofort umgeleitet.
Und richtig. Nach zwei Minuten nahm sie neben ihm Platz.
Er wendete ihr den Blick nicht zu, sondern behielt die im Wasser spielende Familie im Blick, den Vater, der seinen Sohn immer wieder ins tiefe Wasser warf, die Mutter, die mit ihrer Tochter Steine flitschen ließ.
»Alors, salut, Mademoiselle.«
»Was kann ich tun?«
Sie hielt sich nicht lange mit Förmlichkeiten auf. Nie. Ihm war das recht. Nur heute hätte er gerne etwas länger geplaudert, weil es diesmal nicht um einen namenlosen Kunden ging, um Drogen oder Menschen, die von A nach B gebracht werden mussten. Es ging um ihn. Um seinen faltigen korsischen Arsch.
»Wissen Sie, Mademoiselle«, begann er, »die Zeiten sind unruhig. Ich hätte nicht gedacht, dass es einmal so weit kommen würde. Dass das Geschäft wirklich so schnell wird, dass ich mir nicht mehr sicher sein kann, selbst zu entscheiden, wer mein Nachfolger wird. Aber nun sieht es ganz so aus, als wolle mir die andere Seite diese Entscheidung abnehmen.«
Auch sie blickte zum Meer, hatte ihn noch nicht einmal angesehen. Er roch ihre Haut, diesen herben Duft, von dem er nicht hätte sagen können, ob er männlich oder weiblich war. Er war nicht unangenehm, gar nicht, er war einfach nur interessant und typisch.
»Was ist passiert?«
Er stöhnte einmal auf. Seit Tagen hatte er das Gefühl, nicht mehr richtig durchatmen zu können.
»In der letzten Woche haben drei meiner Einkäufer und zwei Transporteure die Seiten gewechselt. Darunter Fabricio. Können Sie sich das vorstellen? Fabricio. Der war als Baby mit seinem Vater bei mir im Haus, dem habe ich nicht nur sprichwörtlich die Windeln gewechselt. Und was macht der undankbare Kerl? Heuert bei den beschissenen Al-Hamsis an. Genau wie die anderen.«
Wieder ein Stöhnen, leiser diesmal, tiefer.
»Die glauben, es geht vorbei mit mir und meiner Macht. Und dass die andere Seite die neue Heldenarmee des Südens ist. Dass es dort mehr zu holen gibt. Undankbares Pack.«
»Gibt es denn einen Kontakt zur Gegenseite?«
»Kein Wort. Vor einem halben Jahr haben sie viel kommuniziert. Haben gefragt, ob wir nicht kooperieren können. Sie wissen das, Mademoiselle, wir haben darüber gesprochen. Sie haben mir abgeraten. Aber dann war Funkstille, es schien, als zögen sich die Al-Hamsis vom Markt zurück, dabei haben sie nur diesen verdammten Terrormist vorbereitet. Und seit das Ding durch ist, sind sie wieder totenstill. Die erste Zeit nach dem Anschlag habe ich es noch verstanden. Da wollten sie erst mal aus der Schusslinie der Behörden. Aber nun ist es zu lange zu still. Und nun fangen sie an, meine Mitarbeiter abzuwerben.«
»Sie glauben also nicht, dass die immer noch eine Kooperation wollen?«
»Ich glaube, dass sie mich loswerden wollen.«
»Als Leiche?«
Er liebte ihre direkte Art. Aber er hasste sie auch, weil es heute um ihn ging.
»Vielleicht. Aber wir haben alles besprochen, oder?«
»So weit wird es nicht kommen.«
»Zoë. Sag mir, dass wir alles besprochen haben. Wenn es so weit kommt, wirst du ich sein.«
Sie wartete ab. Viel zu lange hörte er nur die breiten Wellen auf dem Mittelmeer, die an den Strand klatschten, und das Geräusch der Steine, die dadurch durcheinandergeworfen wurden.
Endlich sagte sie: »Ja, das haben wir besprochen.«
»Gut.«
»Aber so weit werden wir es nicht kommen lassen.«
»Ich will nur sicher sein, dass …«
»Die Sache mit Renato können wir nicht auf sich beruhen lassen.«
Sie hatte den Bericht über die Angelegenheit gestern telefonisch durchgegeben. Renato hatte ihn hintergangen. Und Zoë hatte er in den Abgrund ziehen wollen. Unverzeihlich. Aber sie hatte es erkannt und den Spieß umgedreht.
»Können wir nicht. Was schlägst du vor?«
»Ich würde noch einmal in meiner alten Tätigkeit zurückkehren.«
»Sicher?«
»Ja, es ist ja keine Auftragsarbeit. Sondern eine Reaktion.«
»Gut. Dann mach das.«
»Werde ich.«
»Ich habe noch eine Bitte.«
Nun kam der schwerste Teil der Aufgabe.
»Ja?«
»Ich will das gelöst haben. Ich will mit den Al-Hamsis sprechen. Wir müssen uns irgendwie einigen. Und wenn nicht …«
»Verstehe. Ich soll das einfädeln?«
»Auch. Aber ich will … dass du mich beschützt.«
Zum ersten Mal sah sie ihn an, er spürte ihren Blick in seiner Seite.
»Wann?«
Er wusste, dass sie die Vorstellung nicht mochte. Sie hasste zu viel Nähe, zu viel Vertrautheit bei der Arbeit. Und sie hasste es, eine Aufgabe über lange Zeit auszuführen. Sie mochte die schnellen Jobs. Dinge liefern, Dinge abholen, Menschen aus der Welt schaffen. Rein, raus, weg. Das war sicher. Ihn zu beschützen, war gefährlich. Außerdem nahm er an, dass sie ihn mochte.
»Die ganze Zeit, wenn ich mal für längere Zeit aufs Festland komme.«
»Ich denke drüber nach.«
Er hatte eine Ablehnung erwartet. Oder eine lapidare Zusage. Doch mit diesem Satz hatte er nicht gerechnet.
Als er sich zu ihr wandte, war sie schon aufgestanden, ohne dass er es bemerkt hatte.
Zielstrebig lief sie Richtung Innenstadt. Er sah ihr nach, die schmal geschnittenen hellblauen Jeans, das weiße Shirt, das unter der schwarzen Lederjacke hervorlugte. Der Gang, leicht und doch kraftvoll.
Er wusste, dass sie die Beretta im Hosenbund trug, niemals hätte das ein Außenstehender vermutet. Sie sah einfach nur aus wie ein Mädchen, das an einem freien Tag in zu warmer Kleidung am Strand entlanglief.