Navarro
Fischmarkt, Quai des Belges, Marseille
E igentlich war er nur auf eine Zigarette aus dem Revier gegangen. Doch sein neuer Schatten, Sophie, war direkt mitgekommen. Glücklicherweise hatte sie ihn am Ausgang gefragt: »Ich gehe zu Prêt-a-manger, willst du mit?« So konnte er müde lächeln und antworten: »’nen schlechten Salat für 10 Euro essen? Nee, lass mal.«
Sie hatte nur gegrinst und war gegangen – das Mädchen war echt schwer zu beleidigen.
So war er um die Ecke zum alten Hafen gebogen und hatte zuerst geglaubt, er habe Halluzinationen.
Da saß sie, die blonde Frau. Und aß einen Salade Niçoise, sehr genüsslich und in aller Ruhe, als habe sie heute den ganzen Tag nichts Besseres vor.
Sie las etwas, dann sprach sie kurz in ihr Handy, dann las sie eine SMS, dann schrieb sie eine. Und zwischendurch verputzte sie den ganzen Niçoise, als habe sie einen rasenden Appetit. Er versteckte sich in einem Häusereingang.
Welche von beiden war sie?
Navarro hatte keinen Zweifel mehr, dass die beiden Frauen Zwillinge waren. Wie sollte es auch sonst sein? Etwa ein Zufall, dass sich zwei blonde Geschöpfe bis aufs letzte Haar glichen?
Eine von ihnen hatte sich als Polizistin von Europol vorgestellt, bei ihm im Büro. Er sah es vor sich, als sei es gestern gewesen: Zara von Hardenberg, Profilerin.
Der anderen – und auch da war er sich sicher – hatte er in Isle-sur-la-Sorgue gegenübergestanden, nach dem Terrorakt in der Provence. Sein Kollege Petit hatte sie erschießen wollen, doch Navarro war schneller gewesen und hatte das korrupte Schwein niedergemäht. Und dann hatte er ihr Auge in Auge gegenübergestanden, nur ein paar Sekunden, bevor er getürmt war. Sie war es gewesen – die Fürstin der Unterwelt –, la reine de la pègre. Alle nannten sie so in Südfrankreich – die Patin der korsischen Mafia, rechte Hand von Benito Bolatelli, des Paten. Eine Killerin, eine Verrückte – und doch hatte er in ihren Augen eine große Klugheit gesehen, eine Wärme.
Niemand kannte ihren Namen, niemand wusste, dass es in Wahrheit zwei Frauen waren. Zwillinge. Die Al-Hamsis wussten es nicht. Die Bullen wussten es nicht.
Aber er wusste es.
Welche von beiden saß hier in diesem Bistro? Er tippte auf Zara. Die Fürstin hätte ihn wohl längst bemerkt. Doch diese Frau saß so selbstvergessen da, dass es die Polizistin sein musste.
Sein Entschluss stand fest: Ins Büro würde er nicht zurückgehen. Er würde ihr folgen. Vielleicht würde sie ihn zu ihrer Zwillingsschwester führen. Und dann? Die Al-Hamsis wollten, dass er die Fürstin umlegt.
Sie bedrohten das Leben seiner Tochter.
Er würde es tun müssen. Aber würde er es tun können?
Eine schwarze Limousine schob sich über den Quai, vorbei an den Fischständen mit den alten Berbern, die zwischen ihrem Fang standen, zwischen den Doraden und Drachenköpfen und den Schwertfischen, die alle noch ihr langes Schwert vor sich hertrugen.
Mitten auf dem Quai hielt der Wagen, die Tür ging auf, und ein Mann stieg aus.
Einer der Berber fluchte, doch der Mann fuhr ihm mit schnellem Arabisch über den Mund. Der Händler schwieg sofort und senkte den Kopf.
Nun erkannte Navarro den Mann, weil dessen Blick von Anfang an fest auf dem Commissaire geruht hatte.
Merde.
Der Typ durfte nicht …
Navarro kam aus seinem Versteck, doch die Blonde saß immer noch unbeirrt da, gerade aß sie den letzten Bissen.
Er rannte fast auf ihn zu, bevor sich der andere umwenden konnte, den Platz genauer inspizieren.
»Al-Hamsi«, flüsterte Navarro, als er nah bei dem beschissenen Wichser stand, mit seinem Designeranzug und der verspiegelten Sonnenbrille, »was wollen Sie hier? Wir dürfen nicht zusammen …«, dabei drehte er den Araber so, dass er sein Gesicht nicht zum Platz wenden konnte, doch der schüttelte seine Hand ab und unterbrach ihn.
»Fassen Sie mich nicht an, Commissaire, die verdammten Bullen haben mich heute schon genug angefasst.«
»Kommen Sie weg vom Quai«, beharrte Navarro, denn er sah aus dem Augenwinkel, wie Zara von Hardenberg 20 Euro auf den Tisch warf und aufstand.
»Was wollen Sie?«, fragte der Commissaire, als sie in der Seitenstraße standen, sofort war es ruhiger, die Schatten länger.
»Wir haben einen Auftrag, bevor Sie die Fürstin erledigen. Etwas, womit Sie Ihren guten Willen zeigen können. Es geht schließlich …«
Er ließ die Worte in der Luft hängen.
Um meine Tochter, dachte Navarro, und er überlegte, wie es wohl ankam, wenn er dem verdammten Bastard gleich hier eine Kugel durchs Hirn schießen würde.
Es würde sich gut anfühlen – aber es würde nichts bringen. Die Bande war breit aufgestellt, nur weil der eine Gauner weg war, würden die anderen seine Familie nicht in Ruhe lassen – im Gegenteil.
»Was soll ich tun?«, fragte er schicksalsergeben.
»Hier. Renato. Einer unserer Männer an der Grenze. War nicht ganz loyal. Wir würden ihn gerne beerdigen. Er ist am Abend immer in San Remo, in einer Trattoria. Es steht alles hier drauf. Und es muss heute sein. Ab morgen haben wir ja größere Dinge mit Ihnen vor. Verstanden?«
Shokran Al-Hamsi wartete keine Antwort ab, sondern drehte sich um und ging zurück zu der Limousine.
Navarro wartete einige Sekunden, dann folgte er ihm, bog auf den Quai ein und schaute in Richtung Restaurant. Zara von Hardenberg war verschwunden. Er drehte sich und sah sich um, doch sie war nirgends zu sehen.
Verdammt.
Um ihn herum schrien die Händler ihre Angebote heraus, der Fischgeruch lag schwer in der Sonnenglut, doch Navarro stand nur da, lange und still, und dachte nach.