Zoë
Trattoria Sigismondo, San Remo, Italien
D
a saß er. Wie an jedem frühen Abend.
Ja, man konnte es so sagen: Diese kleine Trattoria mit ihrer gelben Markise und den breiten Holzstühlen war sein Büro.
Er trank irgendein rotes Spritz-Gesöff und wischte flink mit den Fingern auf dem Smartphone rum.
Hätte sie es nicht besser gewusst, man hätte meinen können, er sei überhaupt nicht nervös.
Sie nahm den Helm ab und ließ ihn auf dem Sitz liegen.
Ihr Blick glitt nach links und rechts über den Gehweg.
Das alte San Remo. Sie hätte es gerne genossen.
Die Bäderarchitektur der prachtvollen Villen unten am Ufer, hier oben die Altstadt mit ihren eng bebauten Wohnhäusern und der Markthalle, den Frauen, die schnatternd ihre Einkäufe nach Hause trugen, die Kinder, die dort hinten an der Gelateria Capone Schlange standen.
Sie hatte keine Zeit.
Sie ging gemessenen Schrittes auf seinen Tisch zu, und er sah erst auf, als sie ihm schon gegenübersaß.
Es ging blitzschnell, dass sie in ihren Hosenbund griff und ihm unter dem Tisch den Lauf ihrer Beretta an die Kniescheibe hielt.
»Buona sera, Renato. Ein herrlicher letzter Abend für einen Verräter.«
Er starrte sie an, ungläubig und fremd. Jetzt sah sie seine müden Augen und den Schweiß auf seiner Stirn, seine Pupillen traten hervor, als stehe er unter Drogen. Dabei war es nur die Angst.
»Signorina, ich …« Er sah sie an, als betrachte er einen Geist. Er hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen, und doch wusste er gleich, wer sie war. Sie konnte seine Gedanken lesen: Die Fürstin der Unterwelt sah so aus? Blond, jung, sanft? Doch er wusste: Wenn er sie sah, zum ersten Mal in seinem Leben, dann bedeutete das, dass er erledigt war. »Es tut mir leid, es war alles ein riesengroßes Missverständnis. Ein Unglück sondergleichen, dio mio. Es war doch nicht …«
Ihre Stimme war kalt, und sie senkte nicht den Ton. Er sollte ruhig spüren, dass es ihr egal war, ob sie jemand hörte.
»Es war also ein Missverständnis und ein Unglück, dass du mich an die Bullen verraten hast. Dass du meine Fuhre in eine Polizeikontrolle geschickt hast. Dass du nicht nur mich, sondern auch meine Organisation und damit den Paten verraten hast. Und zwar an die …«
»Nicht so laut, herrje, Signorina, bitte. Sie wissen doch, ich bin immer loyal. Aber es war … Sie haben mich erpresst.«
»Womit sollte man dich denn erpressen? Wollte man deine Goldfische aus dem Aquarium in deiner beschissenen Villa als Geisel nehmen, oder was? Wenn sie deine Frau entführt hätten, wärest du doch froh gewesen, dann könntest du einfacher mit deinen jungen Schlampen abhängen.«
Sie hatte ihn bei seiner Ehre, aber dennoch sah er sie furchtsam an, offenbar davon überrascht, wie gut sie informiert war.
»Aber das können Sie doch so nicht sagen, Signora. Nein, wirklich. Ich war tatsächlich in einer Zwickmühle.«
Sein Blick wurde unstet, dann hellte er sich auf, als habe er eine Idee. »Aber sehen Sie, es ist doch alles gut gegangen. Es war ein doppeltes Spiel. Ich wollte euch beschützen und habe letztendlich meine neuen Auftraggeber verraten. Ich habe die Bullen informiert. Damit deine Fuhre gut ankommt und deren Fuhre hopsgenommen …«
Er verstummte, als Irina, die Wirtin, an ihren Tisch trat und Zoë prüfend ansah. Was erzählte er nur für einen Blödsinn? Es war immer wieder verblüffend, was den Leuten einfiel, wenn das Ende kam.
»Una birra, per favore«, sagte sie und hielt die Waffe unter dem Tisch fest, während der Ton in ihrer Stimme die alte Frau wieder verschwinden ließ.
Sie lehnte sich zurück, die Waffe legte sie neben sich auf den Stuhl unter ihre Serviette, die Hand blieb aber darauf liegen.
»Alora, Renato. Mich würde ja rasend interessieren, was du erzählt hättest, wenn statt mir die Al-Hamsis hier sitzen würden. Dann würdest du sagen: Du hättest alles gegeben, aber leider, leider sei dir die rechte Hand des Paten entwischt. Du wüsstest auch nicht, wie das passiert sei. Und dann würdest du um dein Leben betteln. Andererseits: Du weißt, dass die neuen starken Männer – oder die, die denken, sie seien es – niemals hierherkommen würden. Die würden mit so einer Kakerlake wie dir nicht mehr sprechen, sondern dich einfach von dieser Welt blasen. Wir hingegen, wir haben einen Kodex, und der heißt, dass wir den Verräter wenigstens noch einmal anhören. Versteh es also als deine Anhörung.«
Sie nahm Irina das Bier aus der Hand und trank es in einem Zug aus.
Dann sprach sie weiter: »Aber ich muss sagen, was ich bisher gehört habe, finde ich nicht sehr glaubhaft. Und da ich gleich wieder losmuss, werde ich mein Urteil schnell fällen. Renato, mein guter alter Renato, du wusstest doch, dass es so enden würde, wenn du es derart verbaselst. Wir werden jetzt gleich einen kleinen Ausflug machen, die Küste hoch, es gibt dort eine wunderbare Stelle in den Bergen …«
Er war blass geworden, seine Hände hielten das rote Sprudelwasser verkrampft fest, das feine Glas zitterte im Takt der Angst.
»Signorina, ich bitte Sie, ich werde alle meine Kraft in die Zukunft der Organisation stecken. Ich werde den Al-Hamsis sagen, dass sie sich ihr Geld in den Arsch schieben können, ich …«
Er stand ruckartig auf, so schnell, dass selbst Zoë für einen Augenblick überrascht war, wie behände er war.
»Renato, setz dich wieder hin.«
»Sie können mich nicht einfach so töten, Sie …«
Ein Knall durchfuhr die Abendstimmung, für einen Augenblick verstummten die Flaneure, und zwischen diesem Moment und der ersten schreienden Frau, die ihre Einkaufstasche fallen ließ, passierte allerhand:
Zuerst sah es so aus, als würde sich Renato wirklich wieder hinsetzen wollen, doch Sekundenbruchteile später war das kleine schwarze Loch in seiner Stirn klar zu erkennen, durch das nun langsam, aber stetig das Rot herausdrang, das darauf schließen ließ, dass er sie nun schon nicht mehr hören oder sehen konnte. Er fiel auf die Knie, dann schlug er lang hin, nicht ohne dabei mit einem zuckenden Arm das Glas vom Tisch zu stoßen.
Zoë duckte sich innerhalb einer Zehntelsekunde unter die Tischplatte und vermochte es dennoch, die umliegenden Hausdächer abzuscannen. Sie hatte den Knall schon lokalisiert, der Schall kam von oben. Es dauerte nur kurz, denn der Schatten hob sich von dem Dach auf dem zweistöckigen Wohnhaus ab. Von dort oben hatte er perfekte Sicht auf die Trattoria gehabt.
Sie sah einmal hin, er schraubte eben das Jagdgewehr auseinander, sie schirmte die Abendsonne aus ihrem Gesicht ab, und richtig, seine Konturen wurden schärfer, und weil sie es nicht glauben konnte, sah sie noch einmal genauer hin, doch da war er schon aufgestanden und rannte los, sicher in Richtung Feuerleiter, die sich hinter dem Gebäude befinden musste.
Vielleicht waren es vier Sekunden gewesen, die die alte Piazza gebraucht hatte, um das akustische Signal der Gefahr und ihrer Folgen einzuordnen. Als die Frau also ihre Supermercato-Tasche fallen ließ und in ihrem italienischen Sinn für Dramatik einen gellenden Schrei ausstieß, war Zoë schon auf den Beinen und rannte quer über den Platz zu ihrem Motorrad.
Nun trat auch Irina aus dem Inneren und sah Renato am Boden liegend, gerade als Zoë den Helm aufsetzte, die Kupplung zog und den Startknopf betätigte, der Motor brüllte sofort los, dann nahm sie die Umgebung der Piazza in den Blick, suchte nach Überwachungskameras, aber da war nur eine, glücklicherweise, an der Banca Intesa, und die zeigte in die andere Richtung auf den Eingang. Sie würde also nicht in der Nacht wiederkommen müssen. Es wäre auch zu heiß gewesen.
Sie legte den Gang ein und raste los, schlug einen Haken um einen nahenden Lieferwagen, aus der Ferne schon hörte sie die schreienden Sirenen der Carabinieri – da kam ihr sofort Gianluca in den Sinn, würde er wohl auch herkommen müssen? Mit Irina an einem Phantombild arbeiten – einem Phantombild von seiner Geliebten?
Im Rückspiegel sah sie, wie sich die Wirtin zu Renato an den Boden warf, seinen Kopf nahm und in lautes Wimmern ausbrach.
Sie schaute wieder nach vorne auf die Via Aurelia. Blieb zu hoffen, dass die Bullen so langsam waren wie immer. Und die Grenze noch offen war. Wenn nicht, müsste sie über die Meeralpen ausweichen. Das würde sie eine halbe Stunde kosten. Keine Zeit mehr für Gepäck. Sie würde in Málaga shoppen gehen, morgen früh. Wenigstens Unterwäsche.
Navarro. Wieso hatte der Bulle auf Renato geschossen? Sie verstand es nicht. Noch nicht.