Zara
Plage du Prado, Marseille
N
irgends war das Wasser wie hier.
Eine sonnenblinkende Welt über und eine türkisfarbene glasklare Welt unter Wasser. Sie teilte das ruhige Mittelmeer mit ihren Kraulbewegungen und konnte sogar von hier oben mit offenen Augen Dutzende Fische erkennen, kleine und große, die unter ihr den Weg kreuzten, hinaus, ins tiefere Wasser.
Es gab keinen anderen Augenblick, in dem sie ihre Freiheit so sehr spürte wie hier draußen. In dem Element, das sie erst durch ihre Schwester gefunden hatte – ohne dass die es wusste. Als sie sich als kleines Mädchen selbst das Schwimmen beigebracht hatte, um es Zoë gleichzutun. Um auch etwas zu haben, das sie gut konnte.
Seitdem schwamm sie.
Als Teenager in Nizza.
Als junge Frau in der Polizeikaserne nördlich von Paris. Später auf der Eliteakademie in Den Haag.
Und nun jede Woche im Stadtbad Prenzlauer Berg, dieser alten wunderschönen Badeanstalt, die sie kürzlich von Grund auf renoviert hatten.
Heute aber war sie wieder in der Mutter aller Meere, dem Méditerranée.
Je näher sie dem Ufer kam, umso lauter wurden die Geräusche. Die spielenden Kinder, die diskutierenden alten Provenzalen, der Geräuschteppich dieses Idylls mitten in der Stadt.
Jung und Alt, Arm und Reich, Politiker neben Mafiosi, Barbesitzer neben Barbesuchern, sie alle kamen im Sommer hierher, an den Prado-Strand südöstlich von Marseilles Altstadt.
Der demokratischste Strand der Welt.
Oben auf der Corniche rasten die Busse umher, die Roller hupten, doch hier unten war es wie im Club Med, nur eben viel voller.
Zara nahm ihr Handtuch und ging mit ihren Sachen schnurstracks unter die Sonnenschirme der nahen Bar Buvette du Roucas.
Als sie einen Platz suchte, war es ihr, als scanne sie jemand. Sie blickte sich um und traf ihn nur einen Moment. Den Blick. Seine Augen. Kurzes Überlegen, für ein Erkennen blieb wenig Zeit. Schon war er hinter einer Mauer verborgen. Sie kratzte sich am Kopf. Er hatte sie angesehen, ganz direkt. Was wollte Commissaire Navarro hier? Suchte er sie?
Sie verdrängte die Gedanken. Sicher nur Zufall. Schließlich wohnte er hier.
Sie suchte sich aus dem Stapel mit lauter Lokalzeitungen die einzige nationale heraus. Der Kellner brachte ihr einen café serré, schwarz und stark.
Zara öffnete die Zeitung und vertiefte sich auf Seite drei in einen Hintergrundartikel über Melilla. Es gab nichts, was sie nicht schon wusste, dennoch drangen die Worte La Canada und Nador tief in ihr Unterbewusstsein.
So kam es, dass sie beinahe hochschreckte, als sie sah, dass ihr Handy blinkte und leicht vibrierte.
Nein. Zoës Handy.
Sie erkannte die Nachricht, die einen entgangenen Anruf anzeigte.
Und sie erkannte, wer da angerufen hatte.
Der Mann, der nur anrief, wenn die Luft brannte.
Die Anweisung von Zoë war klar gewesen. Sie sollte sich sofort bei ihr melden.
Zara nahm das Telefon.
Aber sie wählte nicht Zoës Nummer.
Sie drückte auf Rückruf.
Das Telefon wählte automatisch die Nummer von B B.