Zoë
Aeropuerto de Melilla, Spanien
N
achdem sie das Alborán-Meer hinter sich gelassen hatten, flogen unter ihnen die Hafenanlagen von Beni Ensar vorbei, die grauen Türme der Ölspeicher, der verwahrloste Strand mit dem schmutzigen Sand.
Und dann der Zaun. Sie waren schon so tief, dass Zoë ihn von oben genau betrachten konnte. Dreimal hintereinander sechs Meter Stahl in die Höhe, obendrauf spitzer Draht. NATO-Stacheldraht.
Links vom Zaun war Afrika, sie aber in ihrer Bombardier CRJ200 der Air Nostrum flogen ohne Probleme in den europäischen Luftraum. Denn hier hatte sich Spanien nach der Unabhängigkeitserklärung der Marokkaner ein Stück Land gesichert, 380 Kilometer weiter westlich lag noch Ceuta. Da stand der gleiche Zaun. Das gleiche Problem: ein Stück Wohlstand auf einem Kontinent der Armut. Ein Nadelöhr, durch das alle wollten – durch das aber niemand durfte – nach dem Willen der Mächtigen Europas, und der meisten Bürger.
Sofort erkannte sie die andere Bauweise. Immer noch maurisch, klar, aber eben auch die palastähnlichen Bauten, die den Spaniern so eigen sind.
Sie flogen über niedrige Wohnhäuser, einen Golfplatz, und dann bremste die Maschine immer weiter, senkte sich, bis sie auf der einzigen Landebahn des Flughafens aufkamen und die Propeller langsamer wurden, bis sie nach einer Kurve vor dem winzigen Terminal ganz ausliefen.
Sofort standen die Berber an Bord auf und drängten sich Richtung Tür. Sie wollten dem allnachmittäglichen Stau an der Grenze entgehen und möglichst schnell nach drüben, nach Marokko.
Zoë betrachtete Isaakson, der sich das Geschehen vor dem Flugzeug aus dem Fenster ansah.
Aznar hingegen war noch vor dem Start in Málaga eingeschlafen, und selbst die harte Landung hatte ihn nicht wecken können. Die nächtliche Autobahnjagd hatte ihn wohl geschafft. Ein komischer Kauz.
Isaakson hieb ihm auf den Arm.
»Aznar, aufwachen.«
Der Spanier schluckte einmal, dann schlug er die Augen auf.
Die Tür der Propellermaschine war mittlerweile von der spanischen Stewardess geöffnet worden.
»Ekelhafte Hitze«, sagte Aznar und rieb sich die Stirn, dabei war es im Flugzeug noch angenehm kühl. »Verdammte Sahara. Klar, dass sie den armen Bewohnern hier die Steuern erlassen müssen. Hier will ja keiner wohnen.«
Sie stiegen aus, nacheinander, und Zoë spürte, wie sich der Sand der afrikanischen Wüste auf ihre Lippen und auf ihr Gesicht legte.
»Bienvenidos in Afrika«, sagte Aznar, als er hinter ihr die Treppe heruntergeklettert war. »Señora von Hardenberg, wussten Sie, dass die Marokkaner seit Jahren versuchen …«
»Könnten Sie still sein?«, sagte Zoë und bedachte ihn mit einem wütenden Blick.
Aznar verstummte augenblicklich und versuchte, rasch aus ihrem Sichtfeld zu gelangen, indem er einen Gang zulegte und im Terminal verschwand, um auf sein überdimensioniertes Gepäck zu warten.
Entweder war er schwatzhaft. Oder verdammt aufgeregt.
Zoë ging davon aus, dass wahrscheinlich beides zutraf.
Sie stieg die kleine Treppe des Flugzeuges herab und folgte Isaakson in Richtung des Terminalgebäudes, das einem schlichten Einfamilienhaus glich. War eben eine winzige Stadt, dieser europäische Vorposten mitten in der Wüste.
Sie betrachtete den Schweden, der vor ihr lief und in Gedanken zu sein schien.
Worauf hatte sie sich nur wieder eingelassen?
Ihr Leben war gut gewesen – sie war reich, unantastbar und sorgenfrei –, bis Zara sie gefunden hatte – und Zoë ihre Zwillingsschwester nicht im Meer vor Ventimiglia hatte sterben lassen, vor zwei Monaten.
Und nun hatte sie ihren Auftraggeber und Boss allein gelassen, obwohl der ihre Hilfe eingefordert hatte. Sie aber folgte stattdessen zwei Männern, die sie nicht richtig kannte und denen sie nicht vertraute. Mit einem von beiden hatte sie vor zwei Monaten geschlafen, was schön gewesen war. Aber auch er schien im täglichen Leben nun wirklich nicht vor Mut zu platzen. Der andere aber war ein echtes Sicherheitsrisiko. Große Klappe, keine Eier. Und irgendein Geheimnis. Herrlich, sie liebte Unwägbarkeiten.
Nicht.
Sie betrat die Halle des winzigen Terminals, doch die Hoffnung auf Kühlung durch eine funktionierende Klimaanlage erfüllte sich nicht. Stattdessen war es drinnen heißer als draußen. Wenigstens wehte der Wüstenwind hier nicht.
Aznar stand am Kofferband und schaute fast manisch zum Ausgabetor hinüber, als würde sich die Schiebetür dahinter dadurch schneller öffnen.
Zoë atmete tief durch, keine Ahnung, was sie hier erwartete. Schnell den Überläufer finden, ihn in Sicherheit bringen und dann wieder raus aus diesem Albtraum. Sicher würde sie Urlaub machen, vielleicht mit Gianluca. Obwohl sie dann eine Geschichte erfinden müsste, warum sie sich zwei Wochen Fünf-Sterne-Luxus auf den Seychellen leisten konnte. Aber gut, wenn sie oft genug mit ihm schliefe, würde er wohl nicht zum Nachdenken kommen.
Ihre Reisetasche kam, dann Aznars, dann die des Schweden.
Zusammen gingen sie in Richtung Ausgang, es gab hier keine Kontrollen, es war schließlich ein Inlandsflug gewesen, obwohl sie geografisch den Kontinent gewechselt hatten.
»Señora von Hardenberg?«, fragte eine Stimme, gerade als sich die Tür ins Freie öffnete.
Sie blieb stehen, sah den großen Mann in der Uniform der Guardia Civil und wartete, bis ihre Kollegen zu ihr aufschlossen.
»Sí?«,
fragte sie, unschlüssig, was zu tun wäre, doch er bedeutete ihnen, näher zu treten, an den Rand der Halle, entfernt vom Trubel der Berber, die nach draußen strebten.
»Bienvenidos a Melilla«,
sagte der Mann, vielleicht Mitte, Ende 40, mit dichtem grauem Haar, die graue Uniform saß penibel an seiner muskulösen Gestalt.
»Gracias«,
antwortete Aznar und wollte eben anfangen, auf den Mann einzureden, doch dieser war schneller.
»Offiziell bin ich hier«, sagte er auf Englisch in freundlichem Ton, der so gelassen und leise vorgetragen war, dass sich Zoë sicher war, dass dieser Mann kein Angehöriger der Militärpolizei Spaniens war, »um die Waffen zu überprüfen, die Sie in diese kleine Stadt einführen – und deren Anmeldung Sie freundlicherweise vor dem Abflug vorgenommen haben. Das hat meine Arbeit enorm erleichtert.«
Zoë griff an ihr Holster, um ihm die Waffe zu zeigen, Isaakson tat es ihr nach. Nur Aznar hatte keine Waffe. War auch besser so, dachte Zoë, er hätte sich nur das Bein damit durchlöchert.
Doch der Mann winkte ab.
»Lassen Sie nur, ich habe kein Interesse daran, Ihr Stallbursche zu sein. Ich fand es nur sehr interessant, dass drei Menschen hier einfliegen, die alle Waffen tragen dürfen – und wir nicht wissen, wer sie sind und was sie hier wollen. Es war für mich nicht wahnsinnig schwierig, festzustellen, dass Sie drei Agenten von Europol sind. Darunter die beste Profilerin, die es in Europa gibt, wenn man den Sätzen glauben darf, die hinter vorgehaltener Hand gesprochen werden.«
Zoë verfluchte Zara einmal mehr. Ihre Schwester hatte es echt geschafft. Und nun saß sie selbst in dieser verdammten Rolle fest. Auf dem Präsentierteller.
»Aber viel mehr«, fuhr der Mann fort, »war nicht rauszukriegen, selbst von mir nicht. Das könnte mich natürlich wahnsinnig neugierig machen. Andererseits ist es nicht sehr schwer zu erraten, dass Sie hier sind, weil neuerdings viele Menschen arabischer Herkunft in unserem Hafenbecken treiben und wir nicht so recht wissen, wer sie sind.«
»Und Sie sind von der Hafenbehörde und wollen uns begrüßen, damit wir künftig Ihr Becken sauber halten?«, fragte Zoë.
»Wir wären nicht gänzlich unzufrieden darüber.«
»Und dabei wollen Sie uns helfen?«
»Ich kann alles tun, was in meiner Macht steht, wenn dabei nicht die Interessen des Königreichs Spanien in Mitleidenschaft gezogen werden.«
»Das hat doch die CNI noch nie interessiert …«, sagte Aznar.
»Psst«, sagte der Mann und schaute verunsichert nach links und rechts.
Aznar hatte den wunden Punkt getroffen. Nicht schlecht, dachte Zoë, auch wenn es in der jetzigen Lage nicht besonders klug war, einen potenziellen Helfer zu verärgern. Doch Aznar war das offenbar egal, als er den Mann als Mitglied der Centro Nacional de Inteligencia outete, des spanischen Geheimdienstes.
»Also«, sagte Zoë beruhigend, »was können Sie tun?«
Der Mann sprach noch leiser.
»Ich kann an Ihren Fersen bleiben. Wenn Sie wirklich auf der Suche sind nach den Tätern dieser Mordserie, dann gibt es nur einen Ort in Melilla, an dem die versteckt sein können. La Canada ist das Viertel der Dschihadisten. Wir wissen das, haben aber keine Chance. Die können da tun und lassen, was sie wollen. Wir können froh sein, wenn wir in etwa wissen, ob zehn Schläfer dort leben oder dreihundert. Aber wissen Sie …«, er schluckte, »… mir ist es lieber, die Schläfer sind hier in diesem gottverlassenen Nest als auf der Rambla in Barcelona. Und ich würde mir den Finger abschneiden, bevor ich zulasse, dass einer von denen in ein Flugzeug von hier weg steigt. Das wenigstens können wir kontrollieren.«
»Wir suchen jemanden«, erklärte Zoë, die sich entschieden hatte, ihm zu vertrauen. Er wirkte so kernig, dass sie ihn vielleicht brauchen könnten.
Isaaksons Blick traf sie dennoch.
»Jemanden, den Sie rausholen wollen? Hab mir schon gedacht, dass die Mordserie mit so etwas zu tun haben könnte.«
Zoë nickte.
»Wenn er in La Canada ist, wird es wahnsinnig schwer. Aber wenn es jemand schaffen kann, dann Sie. Bei dem, was man über Sie hört.«
Er beugte sich vor und flüsterte:
»Neben der Moschee in La Canada gibt es ein dreistöckiges Haus. Es ist pink. Dort ist die beschissene Zentrale. Wir gehen da nicht rein, niemals.«
»Haben Sie jemanden drinnen?«
»Hatten wir mal. Es dauerte einen Tag und eine Nacht, bis sie ihn enttarnt haben.«
»Und dann?«
Der Mann machte eine Geste mit dem Finger an der Kehle entlang.
»Kopf ab«, flüsterte er.
»Was ist, wenn unser Mann dort nicht ist?«
»Sie meinen …«
»Wenn er drüben ist?«
»Dann inshallah«, sagte der Mann, »ich kann Sie nur bis zur Grenze unterstützen. Im wilden Afrika haben wir niemanden. Wenn Sie jemanden dort rauskriegen wollen, müssen Sie es selber über die Grenze schaffen. Also werfen Sie Ihren Mann am besten über den Zaun. Wenn Sie hier in Melilla sind, schaffe ich Ihren Mann rüber ins sichere Europa. Geben Sie mir Bescheid, und drei Minuten später schicke ich Ihnen ein Boot wer weiß wohin. Hier, meine Nummer.«
Sie gab ihm Zaras Handy, und er tippte eine Handynummer ein.
»Wir melden uns«, sagte Zoë und trat durch die Tür ins Freie, Aznar und der Schwede beeilten sich, den Anschluss nicht zu verpassen.