Papa
8. September 2005, Avenue Verdun, Èze, Côte d’Azur
E
in Ferrari und ein Bentley lieferten sich auf der engen Straße durch den Ort ein hübsches Verfolgungsrennen, dabei wollten sie eigentlich nur mit dem Geräusch ihrer Autos protzen, so hörte es sich jedenfalls an.
Beide hatten monegassische Kennzeichen, sie jagten den Berg hinunter in Richtung des kleinen Fürstentums, dann legte sich die Ruhe wieder über das kleine Bergdorf.
Die Touristenbusse waren schon verschwunden, es war kurz vor Geschäftsschluss.
Jeden Morgen fielen sie hier ein, Tausende von Urlaubern aus Deutschland, Belgien, der Schweiz, Russland und Japan. Weil nirgends sonst der Blick hinab aufs Mittelmeer derart majestätisch war, weil nirgendwo sonst die Altstadt derart malerisch dalag, eingefasst von den massiven Bergen auf der Rückseite des Dorfes.
Es war seine letzte Chance.
Er wollte sich endlich die Chance erkaufen, mitzuspielen.
Im Geschäft der großen Jungs.
Er brauchte noch ein bisschen Kohle, damit ihn der Korse endlich von der Straße ließ. Er wollte mit in die strategische Abteilung. Aufträge und Lieferungen planen und überwachen. Dafür musste man aber ein bisschen was abliefern.
Im Knast hatten ihm die anderen Männer Bolatellis angeboten, doch für ein Jahr die Schulhöfe Nizzas zu beliefern, mit Koks, Pillen und dem ganzen Scheiß. Er hatte erst zugesagt, dann hatte er zwei Wochen wach gelegen und schließlich abgesagt. Sie hatten ihn erst verprügelt, dann hatten sie nicht mehr mit ihm gesprochen. Verdammte Kanaken.
Er sah, wie der kleine Renault der Police Municipale aus dem Ort hinausfuhr wie an jedem Tag zur gleichen Stunde. Patrouille auf der Moyenne Corniche, der mittleren Küstenstraße, auf der Fürstin Gracia Patricia vor 24 Jahren ihr Leben ließ, bis hinunter nach Beausoleil.
Er stieg aus dem Wagen und ging hinüber. Sie hatten gutes Geld gemacht, wie jeden Samstag. Die Tausenden Touristen, die Einheimischen, die Reichen aus Monaco, die hierherkamen, weil das der Geheimtipp war.
Er drückte die Tür der Boulangerie auf und trat hinein, die Waffe hatte er nach vorne gerichtet wie einen Speer.
Die beiden Damen hatten offenbar nicht mehr mit Kunden gerechnet, die eine räumte eben das letzte Baguette aus der Anrichte, die andere wandte sich zu ihm um, lachend, weil sie eben noch irgendetwas erzählt hatte. Dann wandelte sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht, die nackte Panik ließ sie zusammenzucken.
»Mädels, Hände hoch, du da, bleib, wo du bist, du, mach die Kasse auf und räum alles hier rein.«
Er warf ihr eine Tasche zu, blieb vor der Theke mit den Macarons, den Pissaladières und den Tartes au citron stehen und fuchtelte mit der Pistole herum.
»Nun mach schon, oder brauchst du eine Extraeinladung?«
Die alte schwarze Frau hielt noch das Baguette in der Hand, als sie sich umdrehte, auch sie lachte noch, offenbar glaubte sie, ein Stammkunde erlaubte sich einen Scherz. Erst trat die Blässe in ihr Gesicht, dann hielt sie sich am Tresen fest, bevor ihre Beine nachgaben und sie in sich zusammensackte.
»Audrey«, rief die Jüngere und ging auf die Knie, »Audrey, wo sind denn deine Medikamente?«
Die Alte röchelte etwas.
Fred murmelte: »Merde«, dann rief er: »Tu das beschissene Geld in die Tasche.«
»Sehen Sie nicht, dass es ihr schlecht geht? Audrey hat einen Herzschrittmacher«, fauchte die Jüngere unter dem Tresen zurück.
Er griff über den Tresen, riss die Kasse auf und kramte in der Schublade mit den großen Scheinen, griff ein paar, dann erhaschte er einen Blick auf die Frau am Boden, die Schaum vor dem Mund hatte. Die Junge öffnete eben ihre Bluse, griff mit der anderen nach dem tragbaren Telefon.
Er konnte nicht mehr, er rannte hinaus, stopfte im Rennen die Scheine in die Tasche, ließ die Tür hinter sich zufallen und stieg in den Wagen. Dann wendete er und raste los, hinaus aus Èze und in Richtung Nizza.
Auf dem Parkplatz vor dem Hotel Bella Vista, kurz vor Villefranche, hielt er an.
Er atmete mehrmals tief durch, schloss die Augen.
Er hörte erst die Sirene, dann raste die Ambulanz an ihm vorbei Richtung Èze. Hoffentlich kamen sie rechtzeitig.
Er stieg aus, ließ die Tasche auf dem Sitz und übergab sich am Rande des Abhangs, die Kotze tropfte den Fels hinunter in Richtung Mittelmeer.
Es ging dort fünfzig Meter in die Tiefe.
Er überlegte.
Nur einen kurzen Moment.
Nein.
Zoë.
Zara.
Es musste aufhören. Er musste damit aufhören.
Er war einfach der schlechteste Verbrecher der Welt.
Und er wusste einfach nicht, in was er gut war.