Papa
Restaurant Chez Zoë, Bormes-Les-Mimosas, Provence
M onsieur le Maire«, sagte er und ging auf den untersetzten Mann im dunkelblauen Anzug zu, der sich in keiner äußeren Eigenschaft von den Mafiosi unterschied, mit denen Fred früher gearbeitet hatte. Das Hemd stand für sein Alter einen Knopf zu weit offen, die Kette war genau wie die ringbehangene Hand zu golden für einen ehrenhaften Beruf, die Flieger-Sonnenbrille war verspiegelt, und die Frau an seinem Arm war knapp halb so alt wie er.
Und doch war der Mann nicht irgendein halb garer Schmuggler oder Zuhälter, sondern der Bürgermeister von Toulon, ein angesehener Mann in der konservativen Partei, der von so vielen Leichen in den Kellern berühmter Pariser Politiker wusste, dass er sein Amt quasi auf Lebenszeit sicher hatte. Sie würden ihn immer wieder aufstellen, wenn er nur schwieg und alle großen Tiere in Ruhe ließ.
Sie umarmten sich, gaben sich die vier Wangenküsse, der vierten Ehefrau gab er aber nur züchtig die Hand – er küsste keine gut gereiften Teenager –, da hatte er Prinzipien. Und endlich konnte er sie sich auch leisten.
Aus den Augenwinkeln sah er sie, sie stand hinter dem Bürgermeister, und er dachte im ersten Moment, er würde sich irren. Doch natürlich irrte er sich nicht. Ihr Blick war prüfend und überrascht zugleich. Dabei war sie eigentlich nie überrascht. Doch diesmal verstand er sie.
Sie versuchte wohl, die beiden Bilder zusammenzubekommen. Ihr Vater, der zeit ihrer Kindheit entweder im Knast gesessen hatte oder wieder auf dem besten Weg hinein gewesen war. Der Vater, den sie selber einmal in den Knast geschickt hatte – der Beginn seiner Läuterung, der Veränderung seines Lebens.
Und der alte Mann, der nun selbst ein Designerhemd trug und eine teure Uhr am Arm, der ein Restaurant besaß und leitete, der Gäste wie den Bürgermeister empfing und küsste – Menschen, die ihn früher einmal ins Gefängnis gesteckt und nie wieder hatten hinauslassen wollen – und die ihn nun hofierten, wochenlang vorher anriefen, um einen Tisch zu ergattern.
All das sah er in ihren Augen.
Er begleitete den Bürgermeister an seinen Tisch, den besten natürlich, genau neben dem Aquarium, in dem die Langusten auf ihr Ende warteten.
»Bon appétit, Monsieur le Maire, Madame …«, sagte er nach kurzem Small Talk und überließ sie Cecilie, einer bezaubernden jungen Kellnerin – die hoffentlich nicht des Bürgermeisters Ehefrau Nummer fünf werden würde.
Dann ging er schnell zurück an den Tresen, hinter dem die Köche standen. Drei kümmerten sich um die Nudeln, schnitten die Tomaten, Sardellen, Eier für die Salades Niçoises, zwei andere aber bewachten das Herzstück des Restaurants: das Holzkohlefeuer, auf dem die Langusten, die Doraden, die fetten Steaks gegrillt wurden.
Daneben an der Bar wurden die Flaschenkühler mit dem Roséwein der Familie Figuères aus Bormes-Les-Mimosas herausgereicht, um von den jungen Kellnerinnen eiligst an die Tische befördert zu werden.
»Zara«, sagte er mit brüchiger Stimme, ging auf sie zu und nahm sie in seine Arme. Sie ließ es geschehen, er spürte sogar, wie sie ihm den Rücken streichelte. Das Eis war gebrochen, seit dem Tag vor zwei Monaten, an dem sie das erste Mal gekommen war, nach den langen Jahren des Verschwindens.
»Du bist wieder hier.«
»Ja«, antwortete sie. »Es gab wieder etwas zu tun, was ich nicht alleine tun konnte.«
Er stockte.
»Zoë? Muss sie wieder …«
Seine Tochter hatte ihm nicht viel erzählt von ihrem ersten Einsatz auf der anderen Seite – für Europol, für ihre Zwillingsschwester. Nur ein paar beschwichtigende Worte.
Sie würde ihm nie erzählen, in welch großer Gefahr sie bei einem ihrer Jobs geschwebt hatte – doch er sah es am Ernst in ihren Augen, an ihren zuckenden Muskeln, an ihrem stets nach Gefahren suchenden Blick.
»Ja, sie tut wieder etwas für mich.«
»Ist es gefährlich?«
Zara blickte ihn an, als wolle er eine Skalenangabe von ihr und als suche sie die richtige Zahl.
»Ja, das ist es«, antwortete sie. Sie hatte noch nie lügen können.
»Komm«, sagte er und setzte sich mit ihr an seinen Stammtisch, der genau neben der Bar stand und von dem aus er das ganze Restaurant im Blick hatte.
Noch einen Monat, dann wäre die Saison beendet, sie würden alles einpacken, die Sonnenschirme, die Küche, die gelben Tische und Stühle, die Zeltkonstruktion – all das würde in zwei große Container verpackt, bis zum nächsten Frühling. Und er würde Urlaub machen, wie letzten und vorletzten Winter – an Orten, von denen er früher nur geträumt hatte. Wenn es doch dort nur nicht so einsam wäre – ohne seine Frau …
»Was möchtest du trinken?«
»Ein Perrier«, antwortete Zara.
»Was ist los? Du bist doch nicht einfach so hier«, sagte er, nachdem das Wasser auf dem Tisch stand. Er selbst goss sich aus einer halben Roséflasche ein kleines Glas ein, das von der Kälte des Weines beschlug.
Sie sah sehnsüchtig einem Teller Spaghetti mit Langusten hinterher, der eben zu einem Tisch weiter hinten getragen wurde.
»Du hast recht. Es ist so: Zoë macht diesen Job für mich, weit weg von hier, in Marokko. Sie hat mich gebeten, hier die Stellung zu halten, ihr Boss brauche sie vielleicht. Ich solle sie aber gleich anrufen, wenn er sich …«
»Der Pate?«
Zara nickte.
»Und jetzt wirst du mir sagen, dass er sich gemeldet hat.«
»Ja, das hat er.«
»Und du willst mir sagen, dass du Zoë nicht angerufen hast.«
Zara nickte.
»Herrje, Zara, das ist der Pate. Du musst …«
»Papa, ich kann nicht. Die Sache in Nordafrika ist zu wichtig, es geht um einen Überläufer, einen Mann, der uns dabei helfen kann, Anschläge zu verhindern, mit vielen Toten. Zoë muss das lösen. Ich kenne niemanden, der es sonst tun könnte.«
Er zuckte immer noch zusammen, wenn sie ihn Papa nannte. Vor Überraschung. Vor Rührung.
»Aber du hast es ihr versprochen, du musst sie …«
»Papa, ich nehme an, du kennst den Mann. Wie ist er? In den Akten steht nicht viel über ihn. Er ist ein Chamäleon.«
»Oh ja, er ist bestimmt das älteste Chamäleon der Welt. Er ist der Pate. Der Boss der korsischen Mafia, und ich muss dir wohl nicht sagen, wie groß die Teile Frankreichs sind, die er regiert. Er ist seit 60 Jahren im Geschäft und hat noch nicht einen Tag seines Lebens im Gefängnis verbracht – und das sagt wohl am meisten aus über seine Macht.«
»Hast du mit ihm gearbeitet?«
»Für ihn, Zara, für ihn. Ich habe Jahre für ihn abgesessen, einfach nur, weil ich so viel Scheiße gemacht habe, um in seiner Organisation sein zu dürfen. Ich habe noch Kohle bezahlt, um dabei sein zu dürfen. Erst Zoë hat es geschafft, mich da rauszuholen.«
Er trank das Glas in einem Zug aus. Die Zikaden zirpten und mischten sich mit dem Lachen der Gäste, die dem Roséwein schon reichlich zugesprochen hatten. Ihm gelang es selber nicht, das Bild des armen Verbrechers mit dem Leben zusammenzukriegen, das er jetzt führte.
»Wie ist er?«
»Bolatelli? Er ist klug, so klug wie ein Fuchs. Gerissen, unglaublich durchdacht und kalkuliert. Er hat ein unfassbares Gespür für Menschen, so hat er auch deine Schwester gefunden. Wenn es aber drauf ankommt, ist er eiskalt und brutal, obwohl er vorher wirkt wie der liebe Großvater von nebenan. Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Er muss jetzt fast achtzig sein. Seine Macht schwindet, hört man. Aber das macht ihn nur gefährlicher.«
»Ich fahre jetzt zu ihm«, sagte sie, als plane sie eine Fahrt zum Supermarché.
»Das wirst du nicht tun, mein Kind, auf keinen Fall, ich verbiete es dir …«, sagte er und war dabei lauter, als er es beabsichtigt hatte.
»Das ist mir egal …«
»Ich werde Zoë anrufen und ihr davon berichten. Dann wird sie dich stoppen.«
Ihr Blick veränderte sich, wurde verschlossen und nachdenklich, sodass er spürte, was sie im Schilde führte.
»Ich werde Maman anrufen und sie bitten, hierherzukommen, damit ihr euch aussprechen könnt«, sagte sie nach einer Minute der Stille.
Seine Ohren klingelten mit einem Mal, nur wegen des einen Wortes.
Maman.
»Rufst du Zoë an, sagst du nur ein Wort, wirst du Maman nie wiedersehen. Verstanden?«
Er wusste, dass sie nicht log. Sie würde es durchziehen. Er nickte.
»Gut. Aber versprich mir eines, Zara. Wenn es zu gefährlich ist, wenn es irgendetwas gibt, was in die Hose gehen könnte, dann komm damit zu mir. Versuch es nicht alleine. Das sind nicht die Kreise, zu denen du gehörst. Du bist etwas Besseres. Du bist klüger als wir alle. Und gerade deshalb hast du gegen Bolatelli und seine Schergen keine Chance. Versprich es mir: Wenn es zu heiß wird, kommst du her.«
Sie nickte.
»Ich verspreche es.«
»Gut. Dort …«, sagte er und zeigte auf ein Schild, das er vor sieben Wochen in Auftrag gegeben hatte – er hatte nicht gewusst, ob er sie je wiedersehen würde, er hatte es nur gehofft, deshalb hatte er es vorbereitet, jetzt lehnte es neben der Bar, gut sichtbar, aber doch noch ein wenig versteckt, »… dort ist der neue Name des Restaurants, wenn du es mir erlaubst.«
Sie blickte nur einmal kurz zu dem Schild hinüber.
»Mir egal«, sagte sie, und er überlegte, ob sie doch zu lügen gelernt hatte.
»Ich würde gerne etwas essen«, fuhr sie fort, »bevor ich ihn treffe. Kann ich einmal die Nudeln mit den Langusten haben?«
»Bien sûr«, rief er und winkte einen Kellner heran, doch als er sie wieder anblickte, erwischte er sie eine Sekunde, in der sie auf das Schild starrte, auf dem in großen Lettern Restaurant Chez Zara & Zoë stand.