Zoë
La Canada, Melilla, Spanien
D as Graffito des Mannes mit dem Turban leuchtete in Gelb und Schwarz an der Wand gegenüber. Neben ihm hatte jemand ein MG an die Mauer gesprayt. Darüber stand in kindlichen Lettern Osama bin Laden es inocente.
Für die Menschen hier in La Canada war der Schlächter von New York sicher unschuldig, dachte Zoë und schüttelte den Kopf.
Klar, Marokko war nah, der hohe Grenzzaun dahinten im Sonnennebel undeutlich zu erkennen. Doch dieses Viertel, mit all den windschiefen bunten Häusern, sah eigentlich nett aus, wie es sich den Berg hinaufwand, die engen Straßen, der Blick aufs Mittelmeer.
In der Dämmerung wandelte sich der Eindruck: Die voll verschleierten Frauen, die rasch heimwärtsstrebten, eng aneinandergedrängt, die Kids auf den Motorrollern, die ihnen immer wieder verstohlene Blicke zuwarfen – es war ein wenig wie in Marseille hier, allerdings wie in den schlimmsten Vierteln von Marseille.
Das kleine Café am Rande des Viertels war der ideale Wartepunkt. Isaakson trank seine zweite caña, Aznar und sie hatten bereits den dritten Kaffee hinuntergespült.
Sie waren am frühen Abend hierhergekommen, und nun warteten sie, beobachteten, wer die schmale Hauptstraße ins Viertel hineinfuhr.
Der Wirt beachtete sie nicht weiter, Aznar hatte ihn gleich zu Beginn in ein Gespräch verwickelt, das den Mann offenbar so wenig interessiert hatte, dass er sie im Anschluss einfach ignorierte.
Unvermittelt begann eine ohrenbetäubende Musik, die über die Häuser schepperte. Zoë orientierte sich kurz, dann sah sie den Lautsprecher, der oben auf der Moschee montiert war. Sekunden später begann der Muezzin mit seinem Ruf zum Abendgebet. Ein Stakkato von Tönen, sonor und laut. Kaum waren die ersten Worte erklungen, öffneten sich rundum die Türen der Wohnhäuser, Männer traten heraus, junge und alte, Berber und Schwarzafrikaner, sie alle strömten auf die Moschee zu, verschwanden eilig im Inneren, als würden sie nicht auf der Straße gesehen werden wollen.
Zoë, Aznar und Isaakson hielten den Atem an, als auf einmal auch die Tür des pinken Hauses neben der Moschee aufsprang.
Der Erste war ein junger Mann, der sich, in Jeans und T-Shirt gekleidet, genau umsah. Der Bund seiner Hose war ausgebeult, Zoë erkannte die Waffe sofort. Ihm folgte ein weiterer junger Mann, auch er mit Vollbart, der sich zur anderen Seite umsah. Als sie sahen, dass die Luft rein war, nickten sie. Es folgten knapp ein Dutzend, in schwarze Gewänder gehüllte Männer mit langen Bärten. Alle zusammen strebten sie ins Nachbarhaus. Die Tür schloss sich wieder.
»Eine knappe Stunde«, sagte Zoë. »Los geht’s.«
Sie legte einen 20-Euro-Schein auf die Bar und marschierte hinaus, die beiden Männer im Schlepptau.
Unauffällig wie Passanten gingen sie die Straße entlang, was aber allein deshalb schon auffällig war, weil es in La Canada zu dieser Stunde keine Passanten gab – alle waren in der Moschee.
Als sie das pinke Haus erreichten, wollte Isaakson sein Werkzeug aus der Tasche holen, aber Zoë sagte: »Lass …«, stattdessen griff sie in ihre Hosentasche und entnahm ihr einen kleinen Schlüsselbund mit Drähten.
Isaakson und Aznar sollten eigentlich Schmiere stehen, doch sie konnten beide den Blick nicht abwenden von der vermeintlichen Zara, die sich, auf die Knie gestützt, an dem Schloss zu schaffen machte, bis die Tür Sekunden später geräuschlos aufsprang.
Sie zog die Waffe aus dem Hosenbund und ging hinein, Isaakson tat es ihr nach. Aznar schleppte verloren seine Tasche hinter ihnen her, duckte sich an jeder Ecke, als rechne er mit einem Schuss.
Sie schlichen durch das Erdgeschoss, niemand war hier. Das Haus war dekoriert wie ein steingewordener Koran, Ornamente überall.
Sie würden nicht viel Zeit haben.
Die Treppe war dunkel, irgendwo erklang sphärische Musik.
Sie ging voraus, nahm Stufe für Stufe, spürte Isaaksons Atem in ihrem Nacken.
In der mittleren Etage gingen Zimmer von einem langen Flur ab.
Spartanisch, Doppelstockbetten, Klamotten auf den Boden geworfen. In den Zimmern stank es nach Schweiß und Pisse. Kein Paradies für die Salafisten, dachte Zoë.
Noch eine Treppe. Sie scannte das Haus in Gedanken noch einmal von außen ab, über ihnen war nur noch eine Etage mit pinken Fensterläden.
Sie stiegen hinauf, die Musik wurde lauter.
Das Bild, das sich ihr bot, als sie um die Ecke kam, sollte sich ihr einbrennen.