Zara
Autoroute 8, in Richtung Marseille
D
er junge Autovermieter am Sixt-Schalter in Nizza hatte sie sprichwörtlich angeguckt wie ein Auto.
»Ich will das größte Auto, das Sie haben. Es muss schnell und schwarz sein und braucht getönte Scheiben«, hatte sie erklärt und war sich dabei reichlich merkwürdig vorgekommen.
Er hatte erst ein Grinsen unterdrücken müssen, aber als ihm klar wurde, dass sie es ernst meinte, hatte er minutenlang im Computer nachgeschaut, den Bildschirm heruntergescrollt, die Stirn gerunzelt, zweimal in den Kästen mit den Schlüsseln nachgesehen und dann den Kopf geschüttelt.
»Ich habe nur einen getönten Audi A8, aber der ist reser−«, hatte er begonnen, doch bevor er den Satz hatte beenden können, hatte sie einen gelben Geldschein über den Tresen geschoben. Dabei hatte ihre Hand ein wenig gezittert.
»Na, ich kann dem Kunden ja auch den Jaguar geben, der noch draußen steht«, hatte er gesagt, noch während er den 200-Euro-Schein zusammengefaltet und in seine Hosentasche gesteckt hatte.
Minuten später stand sie vor der riesigen Karre, der Schlüssel piepte, und sie stieg ein.
Sie legte den Kopf gegen das kühle Leder, schloss die Augen und atmete dreimal tief ein und aus.
Sie hatte eben einen Mann bestochen. Würde gleich den Paten von Korsika vom Flughafen abholen und wer weiß wohin bringen. Und vor allem: Sie betrog ihre Zwillingsschwester.
Sie hatte Zoë versprochen, dass sie anrufen würde, sollte sich Bolatelli auch nur melden. Jetzt kam er sogar aufs Festland, und sie hatte sich dennoch nicht gemeldet.
Zoë sollte ihren Job machen – die Zeit drängte. Das war das Argument, das sich Zara immer wieder vorbetete. Dass sie mehr über Zoës Leben und Arbeit erfahren wollte, hätte sie niemals zugegeben.
Das Klopfen ans Fenster ließ ihr keine Gelegenheit zum weiteren Nachdenken. Ein alter Mann mit Sonnenbrille stand vor dem Auto.
Mist. Sie hatte ihn verpasst.
Sie stieg schnell aus, um nach hinten um den Wagen herumzugehen.
Doch er war schneller, hatte sich die hintere Tür schon geöffnet und war eingestiegen, ohne ein Wort.
Sie tat es ihm nach, nahm am Steuer Platz und betrachtete ihn im Rückspiegel. Er las etwas in seinem Telefon.
Unscheinbar sah er aus, mit seinem grauen Anzug, der obere Knopf des weißen Hemdes geöffnet, die Glatze braun gebrannt, genau wie der Rest des Gesichts, der Teil zumindest, den Zara sehen konnte, seine Sonnenbrille war riesig.
Er hätte ein freundlicher Großvater sein können, so wie er wirkte. Doch an seinen Bewegungen, seiner gebieterischen Art, wie er den Kopf hielt, an alldem erkannte sie seine Herkunft und seine Stellung.
Der Pate von Frankreich.
Hier, in ihrem Auto.
Sie könnte ihn jetzt festnehmen. Ihn nach Den Haag fahren. Und dann für Hunderte Verbrechen anklagen lassen.
Er legte sein Handy neben sich auf den Sitz und sah sie an.
»Danke, Zoë. Du warst schnell«, sagte er und strich mit der Hand über das weiche schwarze Leder. »Es tut mir leid, dass ich dich gerade so oft brauche, obwohl du eigentlich ruhiger treten wolltest. Aber ich denke …«, er sah aus dem Fenster, »… dass wir die Sache nun ein für alle Mal lösen werden. Und dafür brauche ich dich eben. Ich würde sagen, für die kommende Woche werde ich dir eine Viertelmillion zahlen. Dann kannst du wirklich erst einmal ein paar Monate aussteigen. Und für deinen Vater bleibt auch etwas übrig. Ich hab gehört, das Restaurant neben seinem wird verkauft, vielleicht kann er ja Teile des Geldes als Anzahlung nehmen, falls er sich vergrößern will … Wäre doch schön.«
Eine Viertelmillion Euro. Zara schluckte. Sie hatte sich nie über Geld definiert. Es war einfach nicht ihr Lebensziel gewesen. Sie hatte Dinge herausfinden wollen, als kleines Mädchen schon. Dass das nun dazu geführt hatte, dass sie Verbrechen aufklärte, Anschläge verhinderte, bevor sie passierten, war also nur folgerichtig.
Europol zahlte sie ordentlich, natürlich, sie war als beste Profilerin im Rang einer Abteilungsleiterin verbeamtet worden, doch als Rui sie fragte, ob sie auch Personalverantwortung übernehmen wollte, hatte sie nur den Kopf geschüttelt. Sie wollte keinen Verwaltungskram, keine Managementseminare, sie wollte draußen sein und arbeiten.
Sie war in ihrem Leben dreimal in der Zentrale in Den Haag gewesen – dort, wo alle anderen Agenten die ganze Zeit saßen, wenn sie nicht bei Einsätzen waren. Sie liebte ihr Leben. Geld spielte dabei keine große Rolle, es war einfach ausreichend da. Ganz anders als in ihrer Kindheit.
Aber Zoë?
War eine reiche Frau.
Eine Viertelmillion für eine Woche Arbeit.
Was Zara aber noch mehr erschütterte, war die freundliche Art, mit der Pate Bolatelli mit der vermeintlichen Zoë sprach. Es wirkte fast familiär. Wie er ihren gemeinsamen Vater einfach so einbezog, als rede er über einen alten Freund. Er wusste sogar von seinem Restaurant. Zara hatte davon vor zwei Monaten durch Zufall erfahren.
»Fahren wir«, sagte er von hinten, »ich muss einige Dinge einfangen, die falsch laufen. Und damit werden wir die aufwecken, um die es hier wirklich geht.«
»Wohin?«, fragte sie, als sie anfuhr und den riesigen Wagen in Richtung Autobahn lenkte, was ihr deutlich besser gelang, als sie es befürchtet hatte.
»Marseille«, sagte er, »wir fangen in La Pomme an.«
Sie fuhr auf die Autoroute 8, spürte, wie der Wagen bei jeder Berührung des Gaspedals nach vorne schoss, und fing an, sich wohlzufühlen.
»Sonst hörst du doch immer diesen scheußlichen HipHop«, sagte er von hinten nach einer Weile in den stillen Wagen hinein, »hier ist es mir zu ruhig. Machst du France Culture an?«
Sie schaltete das Radio ein, suchte den Sender, der eben eine Symphonie von Debussy spielte.
Der alte Mann lehnte sich im Fond wieder zurück und schloss die Augen.
Als die Straße hinter Fréjus wieder bergiger wurde, sah es aus, als würde er schlafen. Doch kurz vor Sainte-Maximin sagte er mit geschlossenen Augen und so leise, dass sie es beinahe nicht verstand: »Die Jungs in La Pomme haben offenbar ein besseres Angebot von den Al-Hamsis bekommen. Künftig wollen sie für die Brüder dealen. Sie haben mir es noch nicht offen gesagt, aber ich spüre es, dadurch, wie sie mir aus dem Weg gehen. Wir müssen sie wieder auf den richtigen Weg bringen. Aber ich will ihnen auch nicht mehr zahlen, dann schraubt sich das in die Höhe, und dann sagen alle beschissenen Arab-Dealer, sie könnten bei Bolatelli einfach kurz aufmucken, und schon gäb’s das Doppelte.«
Zara nickte.
»Was wollen Sie tun?«
Er schlug die Augen auf.
»Die Frage ist vielmehr: Was wirst du tun? Es gilt, Sami zu überzeugen. Und ich bin mir sicher, dass du die richtige Ansprechhaltung dafür findest. Wenn wir La Pomme in unserer Hand behalten, kriegen die Al-Hamsis keinen richtigen Zugriff auf Marseille.«
Offensichtlich war er fertig, denn er schloss wieder die Augen.
Zara sah, wie sich ihre Knöchel ums Lenkrad schlossen. Sie war verkrampft.
Kurz vor Aubagne fuhr sie auf einen Parkplatz.
»Ich muss pinkeln«, sagte sie, der Alte reagierte nicht.
Sie stieg aus und ging zu dem kleinen Häuschen mitten im Grünen, öffnete die Tür und verschloss sie fest hinter sich.
Sie setzte sich auf die geschlossene Brille und holte ihr Handy heraus. Zwei Minuten, dann tauchte das Foto von Sami Tilaoui auf, Tunesier, geboren 1987, mehrfach verurteilt wegen Drogenhandels und Betruges, wegen Glücksspielbetrugs hatte er Hausverbot in allen Casinos Frankreichs. Keine Körperverletzung im Lebenslauf, das immerhin. Zumindest hatten sie ihn nie drangekriegt.
Sie spülte, wusch sich das Gesicht und ging wieder zum Wagen. Bolatelli hatte sich nicht bewegt.