Zoë
Carretera Farhana, Melilla, Spanien
E
igentlich hatten sie ins Hotel fahren wollen, aber die Route hatte sie hier entlanggeführt. Mit jeder Menge Wut im Bauch. Nach dieser Scheiße in dem pinken Haus. Es war Abend geworden. Sie erkannte den Golfplatz neben dem Grenzzaun erst, als sie schon ganz nah waren. Sie hatte das Foto in der Zeitung gesehen, vor einem Jahr. Golfspieler in weißen Poloshirts, ihre Caddys neben sich. Und genau daneben: Flüchtlinge aus Afrika, die auf der Spitze des Zauns saßen, in höchster Lebensgefahr. Tourismus und Flucht, Reichtum und totales Leid – es war zu absurd.
Die Erinnerung an das Bild, das ihr die Armhaare aufgestellt hatte, war so präsent, doch nun, als sie hier vorbeifuhr, erklangen aus der Ferne Sirenen, die schnell näher kamen. Sollte sie von hier weg?
Doch der Jeep der Guardia Civil war schneller, näherte sich, die Rundumleuchte auf dem Licht erfasste ihren kleinen Wagen, doch er bremste nicht, raste weiter, bog auf einen Feldweg und fuhr schneller heran an die Grenze.
Dann, wie eine nächtliche Sonne, schalteten sich die Suchscheinwerfer auf dem Zaun an, zuckten herum, bis sie ihr Ziel fanden, und tauchten die Szenerie in ein gespenstisches Licht.
Jetzt erst sah sie die Dutzenden Gestalten, die mitten auf dem letzten Zaun saßen, obenauf, kurz vor dem Stacheldraht, die Gesichter Europa zugereckt.
Das Grün des feinen gepflegten englischen Rasens wurde zurückgeworfen durch das grelle Licht der Suchscheinwerfer. Die Flüchtlinge versuchten, den Zaun genau hier zu überwinden. Wo vor ein paar Stunden noch wohlhabende Touristen ihrem sogenannten Sport nachgegangen waren.
Zoë schaltete das Abblendlicht aus, sie alle zogen die Köpfe ein.
Mehr und mehr Jeeps der Guardia Civil rollten an, von drüben auf der marokkanischen Seite war Geschrei zu hören. Auch die, die auf dem Zaun saßen, schrien.
Es war ein Geheul, Zoë konnte nicht sagen, ob die Menschen dort aus Schmerzen schrien, weil der Stacheldraht ihre Oberschenkel aufgerissen hatte – oder aus Freude, weil Europa so nahe war.
Sie war erstaunt, mit welcher Ruhe sie so weit gekommen waren. Sie war geschult, Menschen zu vernehmen, sie zu sehen oder zu hören. Doch die Flüchtlinge hatten es beinahe lautlos auf den Zaun hinaufgeschafft.
Nun sprangen die Ersten die sechs Meter hinunter auf spanischen Boden, stießen sich ab, hangelten sich, hielten einander fest, und dann, kaum auf dem Grund, rannten sie los, weg von den Polizeiwagen, in Richtung Dunkelheit, es waren erst nur ein paar, dann mehrere Dutzend.
Gerade fingen die Bullen an, eine Polizeikette aufzubauen, um die Mehrheit der Flüchtlinge zurückzudrängen, doch es war schon reichlich spät.
»Wartet hier«, sagte Zoë und glitt lautlos aus dem Wagen, bevor einer der beiden Männer etwas antworten konnte. Geduckt schlich sie sich in Richtung Golfplatz.
Die Hand hatte sie am Hosenbund.
Nach nur wenigen Metern wäre sie fast mit einem Mann zusammengestoßen.
Er erschrak, doch als er sah, dass sie eine Frau war, noch dazu ohne Uniform, entspannten sich seine Gesichtszüge wieder. Er war ein junger Schwarzer, vielleicht Anfang 20, vielleicht auch erst 17. Er hatte eine blutende Wunde am Bein.
»Police?«, fragte er, und sie vernahm seinen Akzent. Gabun, Togo, Elfenbeinküste, schätzte sie.
»Non«, antwortete sie und sprach sogleich Französisch, um ihn zu beruhigen.
Der Mann humpelte auf sie zu, er fiel beinahe auf sie.
»Setz dich hin«, sagte sie, doch er drehte sich immer wieder zum Zaun um.
»Bitte«, sagte er flehend, »sie dürfen mich nicht kriegen. Ich hab es schon dreimal geschafft, und sie haben mich jedes Mal zurückgeschickt, durch die Drehtür im Zaun, zurück nach Marokko, zu den Schlachtern …«
Er stöhnte vor Schmerzen oder vor Angst, Zoë wusste es nicht.
»Setz dich«, sagte sie und half ihm zu Boden, dann krempelte sie seine Hose hoch, besah sich die Wunde an seinem Unterschenkel. Ein tiefer Schnitt, sie sah die Risse, die der Stacheldraht an den Rändern hinterlassen hatte. Teufelszeug.
»C’est pas trop grave«, flüsterte sie und tupfte mit einem Taschentuch die Wunde ab, »nicht zu schlimm.«
Dann drehte sie sich in Richtung ihres Autos um, dahinter waren Häuser zu erkennen.
»Du musst nach dort hinten laufen, dort ist das Camp, in dem du deinen Antrag stellen kannst. Wenn du Polizei siehst, duck dich weg. Und du musst sofort beim ersten Menschen, den du triffst, um Asyl bitten. Dann dürfen sie dich nicht zurückschicken.«
Der Junge lachte.
»Das interessiert die Polizei hier kein bisschen«, sagte er bitter, »dreimal schon. Und wenn wir wieder zurück in Marokko sind, sind da die Bullen, die uns misshandeln, und dann fahren sie uns wieder zurück in den beschissenen Wald, und da warten die Bärtigen.«
Zoë war sofort hellwach.
»Wer wartet da?«
»Na, die Bärtigen«, sagte der Junge ungeduldig, als spräche er mit einer Ahnungslosen.
»Was sind das für Bärtige?«
Er sah sie an, als käme sie vom Mond.
»Sie waren versteckt, wir haben nur von ihnen gehört. Sie sind Männer, die uns für Allah kämpfen lassen wollen. Sie waren tief in den Bergen. Doch vor ein paar Tagen sind sie zu uns in den Wald gekommen, mitten unter uns. Haben sich zu erkennen gegeben, haben ihr Camp aufgebaut. Mitten im Wald der Flüchtlinge. Wer sich ihnen anschließt, dem versprechen sie, ihn heil nach Europa zu bringen. Wenn er für ihre Sache kämpft …«
»Islamisten?«
»Genau.«
Der Junge senkte den Blick. Dann nickte er sehr langsam, angstvoll, als hätte er den Teufel gesehen.
»Es sind viele Männer. Wenn sich ihnen eine Frau anschließt, dann sieht man sie nie wieder. Das erzählen sich alle. Und zuletzt sind ein paar junge Männer einfach auch verschwunden. Sie sind …«
Der junge Mann brach ab, eine Träne lief sein Auge herab.
»Ich habe solche Angst …«
»Wie heißt du?«
»Kevin«, sagte er.
»Woher kommst du?«
»Togo.«
»Okay, komm mit …«
»Ich habe noch … da ist …«
»Was ist?«
»Meine Schwester. Agba. Und ihr Mann. Sie sind noch dort, bei …«
»Bei den Islamisten?«
Er nickte, die Augen glasig, als sehe er seine Schwester in einer unerreichbaren Ferne vor sich.
»Sie wollten nicht mit mir kommen, hierher, an den Zaun. Zu gefährlich, sagte meine Schwester, ihr Mann sagte, dort sei es sicher, die Männer würden für sie sorgen. Und in Europa tue eh niemand was für uns, die Bärtigen wüssten schon, was zu tun sei …«
Zoë griff den Jungen unter den Armen und zog ihn mit sich in Richtung Auto.
»Wir holen sie da raus. Du musst uns aber dabei helfen.«
Kevins Hände begannen zu zittern, kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, seine Augen weiteten sich.
»Ich gehe nicht wieder dorthin, ich kann nicht, ich habe solche … Die werden mich töten …«
»Keine Angst, Junge, du musst nicht zurück.«
Wortlos ließ sie ihn hinten auf den Rücksitz einsteigen, wo er Aznar und Isaakson ängstlich anguckte.
Dann startete sie den Wagen und fuhr mit ausgeschalteten Lichtern hinein in die Nacht, hinunter in die Altstadt von Melilla.