Zoë
Grenzübergang zwischen Melilla und Beni Ensar, Spanien und Marokko
K
evin hatte ihnen auf der Karte genau eingezeichnet, wo die Bärtigen ihr Lager aufgeschlagen hatten. Er hatte ihnen auch ein Foto seiner Schwester und seines Schwagers gezeigt. Als er es ihnen mitgeben wollte, hatte Zoë den Kopf geschüttelt.
»Behalte es und bete für sie«, hatte sie gesagt.
Nun hielt er sich in Zoës Hotelzimmer versteckt. Er hatte drei Sandwiches verschlungen, die sie ihm in einer Bar gekauft hatten. Sie hatte ihm Badewasser eingelassen. Er solle so lange bleiben, wie er wolle, wenn er auf sie warte, werde sie versuchen, ihn nach Europa zu kriegen.
Dann war sie hinausgegangen, hatte bei Aznar und Isaakson geklopft. Und nun waren sie fast da, das spätabendliche Melilla war wie ausgestorben gewesen, nur unten am Hafen brannten die Lichter der Fähren und Kräne.
Doch hier, kurz vor der Grenze, gab es eine Schlange, obwohl es kurz vor zehn Uhr war.
Vor ihnen ausschließlich marokkanische Kennzeichen, alte Mercedes-Limousinen, voll besetzt, daneben Transporter, zerbeult, zerschunden, als würden sie diesen Weg täglich zehnmal machen, Unfälle inklusive. Was wahrscheinlich sogar stimmte.
Am späten Abend waren viele Händler unterwegs, weil die Kontrollen für die Marokkaner dann schneller gingen als bei den stundenlangen Staus am Tage.
Zoë reihte sich in die Schlange für die Spanier ein, hier waren nur drei Autos vor ihr.
Alles war hermetisch abgeriegelt, rechts der leere Übergang für die Fußgänger, eingefasst mit blauen Metallzäunen, vorne der Grenzzaun, steil und hoch, nur unterbrochen von dem Grenzhäuschen aus Beton.
Die Männer von der Guardia Civil winkten sie einfach durch, keine weitere Beachtung. Es schien, als sei ihnen jeder, der aus Spanien ausreise, sehr recht.
Sie rollte noch einmal fünfzig Meter, das blaue Schild mit gelben Sternen, das für die Europäische Union stand, war durchgestrichen.
Ein weiteres Grenzhäuschen mit zwei schmalen Durchfahrten, auf der rechten Seite stand ein gelangweilt aussehender Mann in Uniform, der rauchte.
Zoë bremste, er trat an ihr Fenster.
»Salam aleikum«, sagte er und sah ins Auto, ein Blick zu Zoë, ein Grinsen, dann misstrauischer auf den Rücksitz.
»Wa aleikum as-salam«, gab Isaakson zurück.
»Papiere«, sagte er.
Zoë reichte ihm ihren Pass, der Zaras Pass war.
Der Mann konzentrierte sich auf das Dokument, seine Augen zuckten immer wieder nervös.
»Wohin?«, murmelte er, den Blick immer noch in dem französischen Dokument vergraben.
»Nador.«
»Warum?«
»Geschäfte«, sagte der Schwede auf Arabisch.
Der Grenzer warf seine Zigarette weg, schnell und dynamisch, als habe er irgendeine Entscheidung getroffen.
»Ranfahren und aussteigen. Sie müssen sich drinnen anmelden«, sagte er.
Zoë fuhr ein paar Meter zu einer Haltebucht.
»Warte hier, Aznar«, sagte sie. Dann stieg sie mit Isaakson aus.
Sie gingen auf das Grenzhäuschen zu, ein hässlicher Neubau mit verspiegelten Fenstern, am Eingang riesig die rote Flagge mit dem grünen Stern.
Vor dem Häuschen standen Händler mit Taschen, Frauen mit Kopftüchern und blauen Einkaufstüten, aus denen der Kram herausschaute, dass es ein Wunder schien, dass sie noch nicht aufgeplatzt waren.
Ein Polizist mühte sich, den Ansturm aufzuhalten, er redete hektisch auf die Menschen ein, die eintreten wollten, doch sie riefen alle durcheinander, er fuchtelte wild mit den Armen, es war ein ungeheures Durcheinander.
Zoë trat von hinten heran und schob die ersten Frauen zur Seite, dann griff sie die Schulter eines Mannes, der bei der Berührung zusammenzuckte, sie ansah und durchließ, auch vor ihnen wurde Platz gemacht, die blonde Frau mit den kurzen Haaren und dem weißen Tanktop war hier fehl am Platze, das spürten sie und ließen sie vielleicht gerade deshalb passieren. Isaakson folgte ihr.
In dem großen Raum im Inneren standen Schreibtische, Männer in Uniformen saßen da, vor ihnen Händler, sie prüften Dokumente, es wurde laut geredet, ein Wirrwarr sondergleichen.
»Le capitaine«, sagte Zoë laut zu einem der Polizisten, er zeigte zu einem Büro mit einem großen Fenster weiter hinten.
Die Tür stand offen, drinnen standen zwei Männer, ein Bulle in Uniform und ein großer schlanker Mann mit einer Lederjacke, die Zoës sehr ähnlich war. Ein dicker Mann saß hinter seinem Schreibtisch. Er trug die Paradeuniform, eine schwarze Jacke voller Ehrenabzeichen, auf dem Kopf saß adrett die Mütze, was merkwürdig aussah, hier in dem warmen Büro. Er rauchte, dass der kleine Raum in eine weiße Wolke eingehegt war.
Vor ihm stand eine kleine Frau mit einem Kopftuch, in den Händen hielt sie drei schwere Säcke mit irgendwelchen chinesischen Billigartikeln, Radios, Toaster, die sie wahrscheinlich über die Grenze bringen wollte.
Der Hauptmann redete laut auf sie ein, auf Arabisch, es waren wüste Beschimpfungen, bis die Alte endlich nachgab, den Tränen nah, und aus ihrer Tasche mehrere Scheine holte, die sie dem Polizisten übergab. Er grinste, nahm den Stempel vor ihm, drückte damit auf das Stempelkissen und hieb den blauen Freifahrtschein in ihren Pass. Dann schickte er sie mit einer unwirschen Handbewegung hinaus, sah Zoë und den Schweden und winkte sie hinein.
»Bonjour, Capitaine …«, sagte Zoë und sah, wie der Dicke den Mann in der Lederjacke prüfend anblickte. Der Mann nickte, er hatte ein interessantes Gesicht, schmal geschnitten, kleine prüfende Augen, wie die einer Katze, strahlend weiße Zähne, hohe Wangenknochen. Doch der Eindruck wurde gänzlich entstellt von der langen Narbe, die am Mund begann und sich über die Wange bis fast hinauf zur Stirn zog.
Messerstecherei, dachte Zoë, die derlei aus Marseille kannte – die Narbe war so unregelmäßig und ausgefranst, wie nur unscharfe Messer es hinbekamen.
»Bonjour, Mademoiselle«, antwortete der Dicke und entnahm seiner Schachtel Marlboro eine neue Zigarette, die er sich sofort ansteckte, »bienvenue au Maroc.«
»Vielen Dank. Wir würde gerne einreisen.«
»Bien«, sagte der Dicke und wies mit einer wegwerfenden Handbewegung die anderen Uniformierten an, das Büro zu verlassen. Der Typ mit der Messernarbe aber blieb, wo er war, und wandte sich Zoë zu.
»Mademoiselle von Hardenberg, darf ich fragen, was der Grund Ihrer Ankunft ist?«
Sie wäre beinahe zusammengezuckt. Sie hatte ihren Namen noch nicht genannt. Und er hatte einfach gewusst, wer sie war. Wahrscheinlich passierte auf diesen paar Quadratkilometern nichts, was den Behörden entging.
Sie spürte, wer dieser Typ war.
Die Renseignements généraux, das Abbild des französischen Geheimdienstes in Marokko, hatte genau solche Typen am Start, alte Soldaten und Söldner, die nun ihre Bevölkerung ausspitzelten.
»Nun, sagen wir, es gibt einige Dinge für uns zu tun, hier bei Ihnen im schönen Marokko.«
Der Hauptmann saß immer noch hinter seinem Schreibtisch und hatte ganz versonnen begonnen, Zoë in Augenschein zu nehmen, sein Blick glitt über ihren ganzen Körper, sie hätte ihm gerne die Scheiße aus dem Leib geprügelt. Stattdessen behielt der Geheimdienstler das Wort.
»Sie werden doch aber nichts unternehmen, was den Gesetzen des Königreichs zuwiderhandelt?«
»Das würden wir nie tun.«
»Haben Sie Waffen dabei?«
Zoë schaute entrüstet. »Wo denken Sie hin? Wir haben doch gar keine Ermittlungsbefugnisse hier in Nordafrika.«
»Und wenn wir nun Ihr Auto durchsuchen würden, würden wir dann …«
»Naciri«, schaltete sich der dicke Mann hinterm Schreibtisch ein, und sein Ton war eher zärtlich als befehlend. »Laisse tomber«, fuhr er fort. »Mademoiselle, wir sind natürlich immer froh über Gäste aus Europa, wenn Sie uns denn etwas Schönes mitbringen, wenn Sie verstehen. Dann kriegen Sie unser bestes Geleit und werden eine gute Zeit haben.«
Zoë sah die Messernarbe und den Hauptmann an, kramte dabei in ihrer Hosentasche, aus der sie schließlich einige Scheine nahm. Sie reichte sie über den Schreibtisch.
Er nahm sie an und zählte.
»200«, sagte er, »da werden wir um eine Durchsuchung des Wagens nicht herumkommen. Wissen Sie, die Zeiten sind fruchtbar, wir konnten den Händlern die Preise erhöhen, weil die Einnahmen bei denen auch steigen. Da können wir für Sie im reichen Frankreich keine Ausnahme machen, bei Ihrem neuen Präsidenten …«
»Capitaine, ganz ehrlich, wir wollen nur einen Tag hier …«, begann Isaakson, aber der Hauptmann unterbrach ihn sofort.
»Naciri, nimm dir ein paar Leute und sieh ihr Auto an.«
Zoë hob die Hand.
»Okay«, sagte sie, kramte diesmal in ihrer hinteren Hosentasche, genauestens beobachtet vom Hauptmann, und nahm acht 100-Euro-Scheine heraus. Der Polizist nahm das Geld über den Schreibtisch an, steckte es aber sofort in eine Schublade seines Schreibtischs. Ein zufriedener Ausdruck hatte sich auf sein Gesicht gelegt.
»Gut. Pässe?«
Er nahm die drei Pässe von Zoë entgegen, die Aznars Dokument einfach mit hineingenommen hatte.
Er machte sich nicht einmal die Mühe, die Dokumente zu prüfen, setzte stattdessen drei Stempel auf die jeweils hinterste Seite.
»Sie haben einen Tag. Vor der Ausreise kommen Sie wieder hierher. Dann reden wir noch mal. Sie verstehen schon.«
Er grinste.
»Vielleicht, Mademoiselle, kommen Sie einfach alleine. Zu zweit redet es sich doch am besten.«
»Das mache ich, versprochen«, entgegnete sie und nahm ihm die Pässe wieder ab.
»Mit welcher Persönlichkeit habe ich denn gesprochen?«
»Hauptmann Talabi«, sagte er in einer Mischung aus Stolz und Unruhe.
»Dann freue ich mich sehr auf unser Wiedersehen, Capitaine Talabi.«
»Die Freude ist ganz meinerseits, Mademoiselle.«
Wir werden sehen, dachte Zoë.