Isaakson
Wald im Massif de Gourougou, Nador, Marokko
E
r bemühte sich krampfhaft, die Augen auf die Fahrbahn zu richten, die jetzt in der Abendsonne durch die scharfen Schatten noch mehr aussah wie eine gigantische Buckelpiste.
Vor ihnen schlichen eine weiße und eine cremefarbene Mercedes-Limousine vor sich hin, beide hatten ein improvisiertes Taxi-Schild auf dem Dach. In einem der Taxis drängten sich mehrere große und kleine Köpfe, es waren bestimmt acht Leute in dieser Karre.
Eben überholten sie einen Pferdewagen, der Besitzer hatte auf der Ladefläche Dutzende Autoreifen gestapelt.
Am Straßenrand scharrte eine räudige Katze im Staub herum, daneben vor einer Hütte ging Wäsche an der staubigen Luft.
Im Radio lief laute Berber-Musik, das Nazar-Auge am Rückspiegel wackelte bei jedem Schlagloch, das Zara nicht umfuhr, hin und her.
Er sah sie an.
Zara.
Wer war sie?
Welche Version von ihr fuhr im Moment diese Karre?
Es schien, sie war die Zara, die er schon so lange kannte. Die kühle, konzentrierte. Die Gewalt verabscheute.
Vor drei Monaten hatte er die andere Zara kennengelernt.
Die rabiate, brutale, ja: gemeingefährliche.
Mit der er die beste Nacht seines Lebens verbracht hatte.
Zwei Tage später hatte sie ihn angefallen, als er versucht hatte, sie zu berühren.
Er hatte es nicht wieder gewagt.
Dabei hätte er sie berühren können, sie saß so nah neben ihm. Er hätte sie berühren wollen. Doch seine Hände lagen auf dem Sitz wie festgenagelt.
Sie war so kontrolliert gewesen – bei den Islamisten und eben bei dem korrupten Grenzer.
Doch irgendetwas an ihr, ihre Bewegungen, ihr Blick, sagten ihm, dass da etwas war, das sich von der alten Zara unterschied.
Er hätte den Islamisten gerne festgenommen. Und den Grenzer zumindest aus dem Verkehr gezogen.
Zara aber hatte alles über sich ergehen lassen.
Er betrachtete Aznar im Rückspiegel.
Isaakson wusste nicht, ob der Spanier schmollte oder ob er vor Angst erstarrt war. Sicher hatte er noch nie einen Einsatz im Feld erlebt, so wie gestern in der Islamistenhölle.
Seitdem hatte er jedenfalls keine fünf Worte gesagt – was für den Doktor aus Barcelona ein neuer Rekord war.
Zara hatte sich vorhin an der Grenze wieder ans Steuer gesetzt und war, als der Schlagbaum hochging, einfach hineingefahren nach Marokko.
Sie waren ein Stück am Zaun entlanggefahren, nun auf der anderen Seite. Der Zaun, der die Sehnsucht nach und die Unerreichbarkeit von Europa symbolisierte.
Er hatte die Polizisten alle fünfzig Meter gesehen, bewaffnet mit schweren Gewehren, die dort standen und den ganzen Tag und die ganze Nacht den Zaun bewachten.
Er verstand die Welt nicht, die Politik, die Politiker.
Aber das war auch nicht sein Auftrag. Sein Auftrag war, Europa zu schützen. Auch wenn er hier heute nicht so richtig wusste, warum und wovor.
Zara aber hatte die Musik aufgedreht, und nun, wo die Sonne sich bereits hinter der Bergkuppe des Gourougou-Massivs versteckte, bog sie hinter den letzten einfachen Steinbehausungen nach links ab, und die ersten Serpentinen begannen, sie hinaufzutragen in den Wald.
Er hielt die Karte in den Händen, doch es gelang ihm kaum, einen Blick hinaufzuwerfen.
Je kleiner der Zaun und die Umrisse von Melilla unter ihnen wurden, je höher sie in den Wald von Gourougou hineinfuhren, desto dunkler wurde es.
Und doch sah er in den Scheinwerfern an der nächsten Serpentine, dass dort in der Kurve unter einem Baum mehrere Männer saßen, Schwarze, die sich eine Plane in den Baum gehängt hatten, damit sie den Regen abhielt – und den Wind und den Sand.
In der nächsten Serpentine waren einige Männer damit beschäftigt, ein Feuer zu entfachen. Sie betrachteten den Wagen vorsichtig, wahrscheinlich dachten sie, es sei Marokkos Polizei.
Noch eine Serpentine, wieder Dutzende Männer, nein, eigentlich waren es noch Kinder, die dem Wagen und seinen Lichtern nachsahen.
Isaakson verstand: Es waren Tausende, Zehntausende, die in diesem Wald saßen und auf Europa sahen, auf dieses kleine Stück Europa in Afrika – das sie bald, in einer besonders dunklen Nacht, ohne Mond und Sterne, zu erreichen hofften.
»Hier links«, sagte er, sie sah nicht auf, bog einfach nach links auf den schmalen Waldweg ab, auf dem es kein einfaches Zurück mehr gab, weil er zu schmal war, Wenden war unmöglich.
Aznar saß hinter ihnen und rührte sich nicht, sah nur angstvoll hinaus in die Nacht.
Gab es Späher? Jemanden, der die Männer warnte? Die Bullen hier würden ihnen jedenfalls nicht helfen.
Zara bremste, lenkte nach links und parkte den Wagen zwischen zwei Bäumen, so, dass er von dem Weg aus nicht leicht zu sehen war.
»Den Rest gehen wir zu Fuß«, sagte sie.
Aznar stieg hinten aus, seine Tasche fest in der Hand.
Isaakson folgte ihm und Zara.
Der Schwede roch den Rauch, dann sah er auch den Feuerschein, der über den Bäumen lag und irgendwie als rotes Licht vom Himmel zurückgeworfen wurde.
»Okay, ich muss da rein und sehen, ob ich Kevins Schwester finde«, sagte Zara. »Ihr müsst hier warten.«
»Ich komm mit.«
»Nein, zu viel Bewegung. Ich muss das allein …«
»Ich bin der Einzige, der den Blonden schon mal gesehen hat. Ich komme mit.«
Zoë überlegte einen Moment, dann nickte sie.
»Gut, komm.«
Und zu Aznar gewandt: »Versteck dich hier irgendwo. Wenn wir in einer halben Stunde nicht wieder hier sind, dann ruf Den Haag an. Dann brauchen wir ’nen Heli.«
»Dann hilft nur noch Beten«, sagte Aznar.
Sie nickte kaum merklich, dann ging sie vor Isaakson zwischen den Bäumen in die Dunkelheit.