Zara
Hafen von Marseille
D ie Schranke öffnete sich wie von Geisterhand, nachdem Bolatelli auf dem Rücksitz eine Minute vor der Einfahrt mit irgendjemandem telefoniert hatte.
Sie fuhr rasch hindurch, das Gewirr der Gassen hinter der Einfahrt war unübersichtlich.
Die Container waren nur noch riesige Schatten, die die Wege versperrten, die Nacht hatte alle Farben verschluckt.
»Wir müssen zu Verladeplatz 23«, sagte Bolatelli von hinten. Er hatte nichts mehr gesagt, seit sie in La Pomme losgefahren waren. Er hatte immer wieder auf den Zettel mit dem Vertrag geschaut, als könne er es immer noch nicht glauben.
Sie fuhr die dunklen Wege hinunter durch den riesigen Hafen, an einem Verladeplatz wurde ein schwarzes Schiff beladen, die Rosalda, die Lichter der Kräne tauchten die wenigen Arbeiter in ein gespenstisches Licht.
Sonst war nichts los. Was wollten sie hier?
Sie fuhr weiter.
Dock 21.
Dock 22.
Dann eine Kurve, sie bog nach links ab.
Dock 23.
Auch hier standen mehrere Container aufeinandergestapelt, jetzt waren die weißen Aufschriften zu sehen.
Hamburg Süd. Maersk. Hapag-Lloyd.
Am Ende der Container, kurz vor der Mole, stand ein Peugeot 607, schwarz, die Scheinwerfer ausgeschaltet.
Als Zara näher kam, leuchteten die Lampen einmal kurz auf, ein Blitz nur.
Zara schaltete ihre Scheinwerfer aus, ließ den Wagen lautlos rollen, bis kurz vor die Wasserkante.
Bolatelli beugte sich kurz zu ihr vor.
»Bereit?« fragte er, doch ohne eine Antwort abzuwarten, stieg der Pate aus.
Sie stöhnte einmal kurz auf, dann folgte sie ihm.
Sie standen auf dem dunklen Platz, in der Ferne waren Lichter zu sehen, gedämpft konnte sie die Kräne wahrnehmen, die Container, die aufeinandergestapelt wurden, dass das Metall knarzte. Doch hier, ganz nah, waren nur die kleinen Wellen zu hören, die an die Kaimauer platschten.
Die Fahrer- und Beifahrertür des Peugeot 607 öffneten sich. Zwei Männer stiegen aus.
Einer klein, der andere groß. Beide trugen … Uniformen.
Zara zuckte zusammen. Sie erkannte den Kleinen sofort, er zog heftig an der Kippe in seinem Mundwinkel, wie damals. Vor Jahren hatte sie einmal vor ihm gesessen. Es war um den Schmuggel von Waffen für Schläfer in Frankreich gegangen. Er hatte Europol zugearbeitet.
Der Leiter der Hafenpolizei von Marseille. Alain Galvez, das war sein Name, sie hatte ihn sofort wieder vor Augen. Das Schild auf seinem Schreibtisch war aufgetaucht wie aus einem schlechten Traum.
Bolatelli trat auf die Männer zu. Zara neben ihm.
Nun standen sie sich im Dunkeln gegenüber, zwischen den beiden Autos. Es war wie der Showdown in einem Krimi. Nicht auszuhalten.
»Commissaire Galvez«, sagte der Pate. »Und Commissaire Blanc.«
Blanc. In Zaras Gehirn ratterte es. Blanc. Der Stellvertreter von Galvez. Seit anderthalb Jahren. Sie hatte im Organigramm von Frankreichs Polizei davon gelesen, vor acht Monaten bei einer Recherche.
»Sie kommen persönlich«, gab Galvez zurück, seine Stimme war kratzig. »Ich wusste es und bin trotzdem überrascht, ich wollte es erst glauben, wenn ich es sehe.«
»Ich komme immer, wenn ich höre, dass mir ein langjähriger Weggefährte von der Fahne geht.«
»Na, da haben Sie gerade aber viel zu tun«, sagte Galvez und lachte, hoch, misstönend, es klang, als lache er nicht oft.
»Darf ich fragen, warum Sie diese Entscheidung getroffen haben?«
Galvez entzündete mit dem Stummel der alten Kippe eine neue, dann warf er die alte ins Hafenbecken.
»Wissen Sie, ich habe irgendwann entschieden, dass ich die Arbeit bei der französischen Republik gegen die Arbeit für Sie eintausche, weil die deutlich besser bezahlt ist. Seitdem haben Sie mich immer erreicht, auch nachts, ich habe Überstunden gemacht, ich habe alles durchgelassen, was Sie brauchten und wollten. Ich war loyal wie ein Beamter. Und nun gibt es eben wieder jemanden, der mich besser bezahlt, der mir meine Überstunden besser vergütet, der mir mehr Prozente gibt. Also wechsele ich wieder den Auftraggeber. Das müssen Sie doch verstehen, Sie sind doch ein lupenreiner Kapitalist. Es ist das bessere Angebot. Ich habe Ihnen rechtzeitig Bescheid gesagt …«
»Du hast einfach zwei Container von mir an die verschissenen Al-Hamsis verkauft, nachdem du mir eine Nachricht hinterlassen hattest, auf dem Handy, eine halbe Stunde vorher. Das ist nicht …«
Die Stimme des Paten hatte sich verändert, sie war laut geworden und gleichzeitig kalt wie Stahl.
»Aber Monsieur Bolatelli, nun wollen wir doch nicht ausfällig …«
Der Pate unterbrach ihn, wandte sich aber dem stillen großen Mann zu.
»Wie stehen Sie dazu?«
»Wozu?«
»Dass Ihr Partner die Seiten wechselt …«
»Ich stehe hinter allen Entscheidungen …«
»Meine Liebe, ich denke …«, wieder unterbrach der Pate sein Gegenüber, sah Zara dabei an, dass es ganz still wurde, doch sie wartete auf seine Worte. Eine Sekunde verstrich, dann noch eine.
Was dann geschah, war eine Sache von Sekundenbruchteilen.
Der Pate verdrehte die Augen, knurrte einmal tief, griff in seine Hosentasche und holte einen winzigen Revolver heraus, er spannte und schoss, die Kugel löste sich, lange bevor Galvez überhaupt mit seiner Hand auf dem Weg war zu seiner Knarre, und sie schlug ein, als sich auf seinem Gesicht noch nicht einmal Überraschung ausgemalt hatte, sie formte ein sauberes kleines rotes Loch in seiner Stirn, es trat kaum Blut aus, stattdessen riss es ihn hintenüber, und er fiel beinahe lautlos, es gab nur ein leises Geräusch, ein Platschen, als er ins Wasser fiel. Er würde den Aufprall nicht mehr mitbekommen haben.
Blanc und Zara sahen ihm nach, Bolatellis Blick aber ruhte still auf dem Stellvertreter.
Als der sein Zittern wieder unter Kontrolle hatte, sagte der Pate: »Mein lieber Commissaire Blanc, ich danke für Ihren Anruf. Wie besprochen: 500 000 Euro pro Jahr auf ein Konto in Liechtenstein. Dazu meinen Schutz vor den Al-Hamsis. Meinen sicheren Schutz. Sollten Sie das nicht ausreichend finden, brauchen Sie keinen Schutz mehr. Nie wieder. Haben wir eine Vereinbarung?«
Blanc nickte schon vor dem Ende des letzten Satzes.
»Gut. Wenn ich etwas von diesem Abend höre, sterben Sie am selben Abend. Wenn nicht, werden Sie ein gutes Leben haben. Das hier ist übrigens die Frau, die mir nachfolgen wird. Eine sehr nette Frau. Schießt besser als ich. Eigentlich. Heute war sie wohl etwas schüchtern. Nun gut. Einen schönen Abend.«
Er streckte Blanc die Hand hin, der sie ergriff und beinahe manisch schüttelte. Bolatelli löste sich und ging zurück zum Audi.
Blanc sah sie an, und Zara wusste, dass sie seinen Blick aus angstgeweiteten Augen nie vergessen würde.