Zoë
Wald von Gourougou, Nador, Marokko
D en Abhang hinunter standen die Zelte. Sie waren in zwei Kreisen aufgebaut, es waren Dutzende, sie bildeten einen festen Außenring, in dessen Inneren auch einige standen.
Zoë musste feststellen, dass es beinahe aussah wie das berühmte gallische Dorf von Asterix, nur leider hatte das alles hier wohl nichts Komisches.
Als Zoë sie in Sichtweite hatte, robbte sie nur noch, schmiegte sich mit dem Körper an den Waldboden, strebte vorwärts, langsam, aber unbeirrbar. Sie hörte, wie Isaakson es ihr hinter ihr gleichtat.
Seit sie losgegangen waren, hatten sie nicht ein Wort miteinander gewechselt.
Außen standen keine Wachen.
Merkwürdig.
Sie glitten die letzte Bergkuppe herab, durch den Staub der letzten Sonnenwochen, bis zum Rande des Zeltdorfes.
Zoë hielt die Beretta bereit, drückte sich um das erste Zelt herum, dann sah sie hinein.
Und erstarrte.
Sie drehte den Kopf, winkte Isaakson heran. Lautlos trat er zu ihr.
Sie wies mit dem Kopf hinein, er blickte ins Zelt, sah, was sie gesehen hatte. Zoë sah ihn fragend an. Er nickte.
Da lag der Blonde, in Jeans und T-Shirt auf einer Isomatte am Boden, und schlief.
Sein Revolver lag einige Meter neben ihm.
Zoë schüttelte fragend den Kopf.
Isaakson flüsterte: »Na klar, wir nehmen ihn mit.«
Sie überlegte kurz, dann nickte sie.
»Ich bleibe hier. Du gehst rein.«
Sie sah, wie der Schwede ins Zelt robbte, die Waffe in sein Holster einsteckte, seine eigene Waffe behielt er in der Hand. Dann legte er seine andere Hand auf den Mund des Mannes, der sofort die Augen aufschlug.
Zoë spürte, wie ihr ganzer Körper gespannt war.
Sie sah, wie der Schwede den Blonden lautlos nur mit den Bewegungen seiner Augen anwies zu schweigen. Der Libanese nickte.
Isaakson nahm die Hand von seinem Mund.
»Das hat gedauert«, flüsterte der Blonde.
Zoë hörte die Worte klar und deutlich.
»Ruhe«, zischte Isaakson. »Alles in Ordnung?«
Der Mann nickte.
»Gehen wir.«
Der Blonde stand ohne Mühe auf und erblickte sie.
Er starrte sie aus seinen blauen Augen an, die sie selbst in der Dunkelheit erkennen konnte.
Als die beiden Männer vor ihr standen, wies sie Isaakson mit dem Finger den Weg zum Auto. Dann zeigte sie auf sich und wies auf das Zeltdorf.
Der Schwede nickte. Er zog den Blonden mit sich, den Berg hinauf, als sie außer Sichtweite waren, schlich Zoë weiter.
Sie ging um die Ecke, folgte den Zelten an der Außenwand.
Drinnen, im inneren Kreis waren Stimmen zu hören, ein Feuer brannte.
Sie näherte sich einem Mann, der durch die Zähne pfiff, irgendein Song aus den Charts, unmelodisch, und doch klar erkennbar.
Sie blickte um das Zelt herum.
Ein Junge, vielleicht gerade mal zwanzig. Er hielt das alte Gewehr vor der Brust wie eine Gitarre, er sah gänzlich unbeteiligt aus, wie er da vor dem großen Zelt Wache hielt. Drinnen war Flüstern zu hören, leises Wimmern.
Sie wartete, bis er ihr den Rücken zudrehte, dann brauchte sie zwei leise Schritte, bis sie ihm die Beretta auf den Hinterkopf schlug, nicht zu fest, im selben Moment nahm sie ihre Hand vor seinen Mund und erstickte den winzigen Aufschrei, dann ließ sie ihn in ihren Armen zu Boden sacken.
Sie legte ihn an der Außenwand des Zeltes ab, dann ging sie leise hinein.
Alle erschraken, als sie die junge blonde Frau sahen.
Sie saßen dicht an dicht aneinandergedrängt, alle waren schwarz, junge Männer und Frauen, nicht viel älter als Kevin, manche sogar jünger.
Ein Mädchen, vielleicht 16, fing leise an zu weinen, Zoë war in Sekundenbruchteilen bei ihr, kniete sich vor sie und hielt sich den Finger auf den Mund.
»Psst«, zischte sie und fuhr auf Französisch fort: »Wenn ihr nur einen einzigen Mucks macht, dann werden wir alle sterben.«
Die junge Frau nickte, sie war gänzlich aufgelöst, ihre Kleidung war zerrissen, und getrocknetes Blut klebte an ihrer Lippe.
Zoë stand auf und sah sich um.
Dort.
Sie ging auf einen jungen Schwarzen zu, der eine Frau schützend im Arm hielt.
»Kevin schickt mich«, sagte sie, und die Augen des Jungen weiteten sich, dennoch zog er sein Mädchen noch näher zu sich.
»Ich hole euch hier raus.«
Sie kniete sich zu den beiden hin, ohne jedoch die anderen Schwarzen aus den Augen zu verlieren. Es waren ungefähr ein Dutzend, wenn einer davon doch zu sehr an den Bärtigen hing, hatte sie ein Problem.
»Kevin«, sagte das Mädchen, und dann begann sie, in einer fremden Sprache zu flüstern, doch ihr Mann wies sie an, zu schweigen. Dann sagte er leise auf Französisch: »Ja, Sie müssen uns hier rausholen. Schnell. Sie holen sich die Frauen, eine nach der anderen. Sie«, er zeigte auf das weinende Mädchen, »war gerade schon dran. Und meine Frau werden sie als Nächstes holen.« Er atmete tief durch, als wolle er Kraft schöpfen für seine Worte. »Sie wollen neue Krieger machen, sagen sie.«
Zoë erstarrte.
»Und uns wollen sie morgen von hier wegschicken, sagen sie. Mit einem Boot. Wir sollen kämpfen.«
»Ihr müsst uns das alles erzählen. Aber erst mal bringen wir euch in Sicherheit. Nach Europa.«
Europa. Das Wort vervielfältigte sich im Raum, wurde geraunt und geflüstert wie ein Mantra.
»Ihr beiden, kommt mit. Und ihr«, fuhr sie auf Französisch fort, weil es die Sprache war, die in Westafrika, woher diese Menschen augenscheinlich mehrheitlich stammten, am meisten gesprochen wurde, »habt jetzt keine Wache mehr. Ihr könnt in den nächsten zehn Minuten von hier fliehen. Beeilt euch, ehe die Männer euch entdecken. Flieht nicht in die Berge, flieht hinunter Richtung Zaun. Und dann erzählt der Polizei, was hier geschieht. Sie werden euch helfen.«
Einige Männer nickten.
Zoë hätte gerne alle befreit, doch sie konnte ihre Mission nicht gefährden. Sie musste nur sicherstellen, dass in einer Viertelstunde niemand mehr hier drinnen war.
Das schwarze Mädchen und ihr Mann folgten ihr. Sie blickte aus dem Zelt, der junge Wächter war immer noch ohnmächtig. Dann wies sie den Berg hinauf.
»Dort oben, in dreihundert Metern steht ein Auto. Dort sind meine Kollegen. Auf einer kleinen Lichtung. Los, wir bringen euch zu Kevin.«
Die beiden stolperten los, durch die Dunkelheit.
Zoë selbst ging wieder zu Boden und robbte an den Zelten entlang, in Richtung der Stimmen.
Dort, am Feuer, feierten Männer, es roch nach Joints, laut und kehlig drangen die Wortfetzen zu ihr herüber.
Sie aber hörte noch etwas anderes.
Sie lugte um die Ecke eines anderen Zeltes.
Im Widerschein eines kleinen Feuers sah sie nur schemenhaft zwei Gesichter. Ein Mann mit einem Turban und einer Toga, ein anderer mit einem Mantel.
Sie sah den Umschlag, der von einer Hand in die andere wechselte.
»Also ist alles angekommen?«
»Gestern, im Hafen von Algeciras. Wir haben die ankommenden Papiere heute Morgen per Fax erhalten. Es sind alle Kisten drüben – Waffen und Sprengstoff, sie liegen nun in einem Hapag-Lloyd-Container, der morgen früh verladen wird. Die Nummer des Lkws schreiben wir euch noch. Dann könnt ihr ihn übernehmen.«
»Sehr gut. Und mit den Männern geht alles klar?«
»Sie können morgen auf die erste Fähre von Nador steigen, als wären sie Touristen. Meine Männer werden wegschauen. Ihre Papiere aus Marokko sind sauber. Sie werden reichen, um drüben an Land zu gehen. Zurückkommen werden sie ja wohl ohnehin nie. Oder weiterreisen.«
Er lachte ein kehliges Lachen, das jeden Zweifel bei ihr verschwinden ließ.
»Das Einzige, was ihr sicherstellen müsst, ist, dass jeder dieser Männer sauber ist. Keine Einträge in den Datenbanken, keine Fingerabdrücke. Nichts.«
»Das haben wir gecheckt. Es sind ganz normale Flüchtlinge, alle auf ihrer ersten Reise. Sie hatten vorher mit Männern wie uns nichts am Hut.«
»Gut. Die Spanier sind derzeit wie Wachhunde. Aber so sollte es gehen.«
»Dann auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit.«
»Inshallah«, erwiderte der Mann im Mantel.
»Wir sprechen uns morgen.«
»Gute Nacht.«
Der Mann trat aus dem Kreis der Zelte und ging durch die Dunkelheit schnurstracks auf ein Ziel zu, wahrscheinlich auf einen Wagen. Zoë folgte ihm im Schutz der Bäume.
Dann sah sie tatsächlich sein schwarzes Auto, dessen Lack sich im Mondlicht spiegelte.
Sie beschleunigte, dann hakte sich ihr Fuß bei ihm unter, und er schleuderte zu Boden. Sie drehte ihn auf den Rücken, dann war sie über ihm, und bevor er den Mund öffnen konnte, schlug sie ihm die Faust direkt aufs Auge. Dann hielt sie ihm den Mund zu.
Er war für einen Moment benommen, sodass sie Zeit hatte, seine Narbe zu betrachten, sein widerliches Gesicht, auf das sie schon vorhin im Revier der Grenzpolizei so gerne eingedroschen hätte.
Er kam wieder zu sich, funkelte sie böse an, versuchte, sich aufzurichten, doch sie presste seinen Körper fest auf den Waldboden, ihre Beine saßen auf seinen Armen.
»Okay, du Bastard«, flüsterte sie, »sag mir, was ihr vorhabt.«
Sie nahm ihre Hand von seinem Mund. Er wollte sprechen, dann aber öffnete sich sein Mund weit, und er fing an zu schreien, nur eine winzige Sekunde, ehe sie wieder die Faust niedersausen ließ, diesmal auf seinen Kehlkopf.
Er hustete, röchelte, doch sie schlug ihm noch einmal mit der flachen Hand ins Gesicht.
»Sag’s mir, du Geheimdienstwichser.«
Er keuchte schwer, doch sein Gesicht war der pure Hass.
»Du«, brachte er mühsam hervor, »Menschen wie dich werden wir vernichten, wenn der Staat, den wir gerade aufbauen, erst einmal an der Macht …«
Sie nahm seinen Kopf und drehte ihn einmal ums Genick, sodass es ein leise knackendes Geräusch gab.
Seine Augen überschlugen sich, dann wich alle Kraft aus seinem Körper, und die Zunge hing ihm fahl aus dem Mund.
Sie durchsuchte ihn, da war aber nichts. Er war ohne Dokumente gekommen. Ein Profi.
Sie ließ ihn liegen.
Ein Blick zurück, ja, tatsächlich, da schlichen mehrere dunkle Gestalten in Richtung Tal, weg vom Dorf.
Zoë atmete tief durch, dann ging sie in der Deckung der Bäume zurück zum Auto.