Shokran Al-Hamsi
Altstadt von Cagnes-sur-Mer, oberhalb von Nizza
E
ine Tasse Verveine-Tee«, sagte er, und sein Bruder ergänzte:
»Für mich einen doppelten Wodka. Mit Eis.«
Der kleine Butler blieb einen Moment zu lange an dem runden Marmortisch im Salon stehen, als dass es normal gewesen wäre. Es schien, als habe er sich immer noch nicht an seine neuen Herren gewöhnt. Schade, dabei hatte Shokran Al-Hamsi es mit ihm versuchen wollen. Er mochte diesen verschrobenen Anblick eines stummen Dieners mit der Körpergröße eines Gnoms, der so adrett aussah in der Weste und mit der schwarzen Fliege.
Als sie das alte Grimaldi-Schloss im Zentrum der bergigen Altstadt gekauft hatten, hatte er dem vorhandenen Personal gleich eine saftige Gehaltserhöhung geboten. Doch die Putzfrau und der Chauffeur hatten abgewinkt – mit Neureichen vom Golf wollten sie nichts zu tun haben. Nur der Diener war geblieben, aber auch er benahm sich immer noch reichlich merkwürdig in ihrer Anwesenheit.
Shokran Al-Hamsi machte sich eine Gedankennotiz – sollte das noch einen Monat so weitergehen, würde er den uralten Mann im Meer entsorgen. Zeugen konnte er sich nicht erlauben – nicht mal stumme.
Al-Hamsi war verliebt in seine alte Trutzburg, die mit ihren dicken Mauern auf dem Dorfplatz von Cagnes-sur-mer thronte. Die alten Salons, der Kamin, die Schlafzimmer mit den Himmelbetten. Sein Bruder hatte verächtlich den Kopf geschüttelt – ihm war das futuristische Hochhaus in Saint-Laurent-du-Var lieber gewesen.
Aber eine Maxisuite in einem Hochhaus hätten sie auch in Katar bewohnen können. Das hier, das hatte echten Stil. Ihm gefiel die Idee, dass er, ein Junge aus der Wüste, nun in einem echten Grimaldi-Schloss wohnte – die Geschichte, diese Uneinnehmbarkeit. Und doch hatte er – Shokran Al-Hamsi – das Schloss eingenommen.
Nun parkte sein Maserati vor der Tür genau neben dem Pétanque-Platz, unter einer der riesigen alten Platanen.
Sie hatten beide nicht schlafen können, deshalb saßen sie nun in tiefer Nacht im Salon, hatten den Diener geweckt, und als der den Wodka und den Tee brachte, schüttelte Shokran missmutig den Kopf.
»Du sollst diese Scheiße nicht machen: Suff und Koks, verdammt«, sagte er zu seinem Bruder Silas, der gerade dabei war, auf dem Couchtisch noch eine Line zu ziehen.
»Wieso denn?«
»Mann, wir brauchen unsere Konzentration, bisher ist die ganze Sache komplett schiefgegangen. Wir brauchen einen klaren Kopf.«
»So …«, antwortete Silas verächtlich und zeigte auf das Koks, das er sich nun geräuschvoll in die Nase zog, »… so habe ich den klarsten Kopf. Und kannst du jetzt endlich mal diese beschissene Uhr da wegnehmen? Das nervt!«
Er zeigte auf die alte Uhr, die auf dem Kamin stand und laut tickend die Stille untermalte.
»Die Uhr bleibt da stehen. Da läuft die Zeit des Alten ab. Das will ich sehen.«
Wenn es denn mal so wäre, dachte Shokran. Denn bisher waren sie ihrem Ziel nicht näher gekommen. Die Macht im Süden. Stattdessen fickte der alte Korse sie, wo er nur konnte.
Gestern Abend, bei seinem Geliebten, hatte er deshalb keinen Steifen bekommen – dabei wäre ein harter Vergewaltigungsfick genau das gewesen, was ihn aus seiner Wut erlöst hätte. Doch sein Lover hatte nur zweimal beschämt auf sein müdes Ding geschaut. Das war zu viel gewesen: Shokran hatte ihm seine randvolle Teetasse ins Gesicht geschleudert, der kochend heiße Tee hatte die schönen Züge des Jungen verzerrt, und als er schreiend durchs Zimmer gelaufen war, hatte sich Shokran auf ihn gestürzt und ihm noch ins Gesicht geschlagen, ihn am Boden liegend gewürgt, dann, irgendwann, als die Wut der Scham gewichen war, hatte er abgelassen und war einfach aus dem Haus gegangen. Der Knabe würde niemals die Bullen rufen.
»Was überlegst du?« Silas’ Stimme erreichte sein Ohr wie durch einen Vorhang, bis Shokran sich besann und seinen Blick auf seinen Bruder fokussierte.
Er betrachtete das Gesicht, das seinem eigenen so sehr ähnelte, sah, wie sich der andere eine Zigarette ansteckte. Merkwürdig, wie ähnlich sie sich waren – und wie unterschiedlich:
Silas, der sich vor acht Jahren entschieden hatte, der Heimat den Rücken zu kehren und sich in der westlichen Welt niederzulassen, der ihr Geschäft hier maßgeblich aufgebaut hatte, der nach den Regeln dieser Welt spielte, der teilnahm am Leben, der in Rollen schlüpfte und doch immer er selbst war. Silas, der Aktive. Der Gesprächige. Aber auch der, der zuschlug, wenn es drauf ankam.
Bei ihm selbst, Shokran, dachten alle: Er war der Ruhige, der Denker, der im Hintergrund die Fäden sponn. Das stimmte. Er war der strategische Kopf dieser Familie, hatte sich die Wege konzipiert, um die Unterwelt Frankreichs gänzlich zu übernehmen. Deshalb trafen ihn die Fehlschläge der letzten Tage doppelt. Er, der diese westliche Welt nur nutzte, um die Dinge zu bekommen, die er in Katar nicht gefahrlos bekommen konnte: Sex und Drogen.
Ansonsten verachtete er diese Welt des Konsums, der Beliebigkeit, der Freiheit. Er floh von hier, wann immer er konnte, um dann wieder aus der Enge des Orients zu fliehen. Er wäre gerne wie Silas gewesen. Den er über alles liebte.
»Ich überlege, wie es sein kann, dass dieser alte Mann es schafft, uns immer wieder auszustechen. Und ich überlege langsam ernsthaft, ob es nicht auch daran liegt, dass du unseren Standpunkt nicht deutlich genug klarmachst.«
Silas sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Willst du jetzt sagen, es liegt an mir?«
»Ich will sagen, dass es eben manchmal nicht reicht, mehr Geld zu bieten. Diese verdammten Kanakenmaghrebiner und die Froschfresser funktionieren so nicht.« Er machte eine Pause, um seiner Stimme mehr Dramatik zu verleihen. »Sie müssen Angst vor uns haben.«
»Mein lieber Bruder, wir haben doch die Taktik extra gewechselt. Vor einem Jahr hatten alle Angst vor uns, weil wir eine Schneise der Verwüstung hinterlassen haben. Doch damit haben wir den Markt auch nicht übernommen. Nun gab es eben einige Fehlschläge …«
»Das nennst du Fehlschläge, Silas? Ernsthaft? Wir hatten die Jungs in La Pomme schon beliefert. Die Ware ist weg, unwiderruflich. Und jetzt stehen die unter dem ganz besonderen Schutz des Alten, wie ich höre, da brauchen wir uns gar nicht ranzutrauen. Und dass er danach noch unseren wichtigsten Bullen plattgemacht hat …« Seine Stimme überschlug sich beinahe, so wütend war er. »Mann, Silas, er hat den einfach erschossen. Das war doch so geplant. Er wollte uns zeigen, dass wir tun können, was wir wollen. Er wird uns immer wieder zerlegen und uns unsere wichtigsten Leute entweder klauen oder sie einfach umlegen.«
»Er ist wirklich ein Bastard.«
»Was ist mit dem Stellvertreter des Bullen? Diesem Blanc?«
»Ich habe versucht, ihn zu treffen. Ich habe viel Geld geboten, am Telefon. Er meldet sich nicht. Ruft nicht zurück. Geht auch nicht mehr in seine Stammbar. Er scheint Angst zu haben.«
»Der verdammte Korse.«
»Oh ja.«
»War sie bei den Aktionen dabei?«
Silas nickte.
»Stell dir das mal vor: Der Pate und die Patin reisen gemeinsam durch unseren Süden, um uns unsere Geschäfte zu versauen. Und nun stell dir vor: Er übergibt dieser verdammten Fürstin seine Geschäfte. Dann pissen sich hier alle Verbrecher vor Angst ein, und wir können gleich zurück in die Wüste in ein Zelt ziehen und dort mit Kamelkacke handeln.«
»Das heißt …«
»Das heißt, wir müssen aufhören, uns mit den kleinen Fischen zu beschäftigen.«
»Und stattdessen …«
Shokran hasste es, wenn Silas seine Sätze begann und dann wartete, bis sein kluger Bruder sie beendete. Aber er war zu sehr in Fahrt.
»Stattdessen müssen wir ihn ausschalten. Und sie. Beide zusammen. Es gibt keine andere Wahl.«
Er betrachtete die alte Stadtmauer, die steil abfallende Landschaft, bis hinunter zum glitzernden Mittelmeer. Es fühlte sich von hier oben an, als herrsche er schon jetzt über Land und Leute.
»Jetzt geht es nicht mehr darum, Angst zu machen. Jetzt geht es um Leben und Tod. Unser Leben. Ihr Tod.«
»Was hast du vor?«
»Wir treffen ihn. Er wird sie mitbringen. Und dann …«
»Dann …«
»Ruf Navarro an. Er hat lange genug gezaudert. Wenn er nicht mitmacht, killen wir seine Tochter. Diesmal wirklich.«
Silas nickte und ging in das Büro im hinteren Teil der Burg, um zu telefonieren.
Shokran blickte auf das dunkle Meer, dann griff auch er zum Telefon.
Zuffa würde es zu Ende bringen. Er musste.
Navarro war in jedem Fall ein toter Mann, genau wie seine Familie.