Benito Bolatelli
Café Lungomare, Ventimiglia, Italien
E r fühlte sich so belebt wie lange nicht mehr. Die Luft Italiens tat ihm gut, irgendwie roch hier alles nach Freiheit.
Sie hatte um drei, als sie in Ventimiglia ankamen, darauf bestanden, dass er mit hierherkam, sogar, dass er bei ihr in der Wohnung schlief, in ihrem Schlafzimmer, in ihrem Bett, während sie die Couch im Wohnzimmer bezogen hatte.
Er wusste nicht, was sich mit Zoë zugetragen hatte, in jedem Fall war sie nicht mehr die scheue Jahrhundertkriminelle, sondern irgendwie eine andere geworden.
Früher hätte ihn das misstrauisch gemacht, nun aber spürte er in jeder Minute, dass sie durch diese neue unkonventionelle Komponente in ihrem Verhalten wirklich bereit war, seine Nachfolgerin zu werden.
Falls er den ganzen Mist hier überleben sollte.
Sie hatten nicht lange geschlafen, es war gerade kurz nach sieben, doch die Bar an der Strandstraße hatte schon geöffnet.
Er nahm einen Schluck aus seiner kleinen Tasse Cappuccino, den er enorm genoss, weil er ein wenig mehr nach zu Hause schmeckte als die Plörre in Südfrankreich.
Er betrachtete sie, wie sie auf und ab ging, langsam und gemächlich, der Stimme am anderen Ende, die er nicht hören konnte, aufmerksam lauschte und immer wieder nickte.
Sie ging an der Mauer zum Strand auf und ab, und Bolatelli schloss die Augen. Er spürte die wärmende Morgensonne auf seinem Gesicht. Es war einfach herrlich.
Er wusste, dass er alt war. Dass es vielleicht nicht mehr Hunderte dieser Morgen geben würde.
Der Barkeeper hatte Zoë begrüßt wie eine alte Freundin. Was er wohl gedacht hatte, als sie hier mit so einem alten Knacker aufgetaucht war?
Sie kam zurück, nahm neben ihm Platz und trank den zweiten Espresso des Morgens, wieder ohne Zucker.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja, nur ein Klient aus Spanien.«
»Deine Geschäfte internationalisieren sich, ohne mich?«
»Keine Sorge«, antwortete sie lächelnd, »nur ein ideelles Geschäft.«
Sie machte eine Pause, er spürte, dass sie etwas überlegte.
»Ich werde allerdings gleich kurz wegmüssen. Ich würde Sie bitten, Monsieur Bolatelli, dass Sie hier in Ventimiglia bleiben. Es ist viel sicherer hier, als nun nach all den Toten zurück nach Marseille zu fahren. Bleiben Sie in meiner Wohnung, wir werden sehen, was die Al-Hamsis als Nächstes planen.«
Ihre Offenbarung überraschte ihn.
»Wann wirst du zurück sein?«
»Spätestens morgen früh.«
Er nickte.
»Gut.«
Eben wollte er fortfahren, als von hinten eine Stimme rief:
»Julie, ciao.«
Er drehte sich um, seine Hand schon an der Waffe, nachdem er die Uniform gesehen hatte, die schwarze Pistole in dem weißen Holster, den riesigen jungen Mann mit den dunklen Haaren, der an ihren Tisch trat.
Doch kurz bevor er aufspringen konnte, erlaubte er sich glücklicherweise noch einmal einen Blick zu Zoë, die lächelnd nach oben schaute, die Sonne mit den Augen abgeschirmt, dann aber aufstand, weil der junge Carabiniere die Arme ausgebreitet hatte.
Sie ging zu ihm und ließ sich hineinfallen, es sah etwas steif aus, und Bolatelli konnte sich gerade noch ein Grinsen verkneifen.
»Ich dachte, du bist weggezogen, weil du mich loswerden wolltest«, sagte er, und neben dem offensichtlichen Scherz schwang auch ein bisschen offenkundige Sorge mit.
»Caro«, sagte sie und streichelte seinen Rücken, »ma no. Impossibile. Ho lavorato.«
»Die Arbeit reißt uns auseinander«, gab er lächelnd zurück, dann fragte er: »Und wer ist dein Begleiter?«
Bolatelli erhob sich und hörte Zoë sagen: »Gianluca, darf ich vorstellen? Das ist mein Vater, Pierre.«
Der Carabiniere verbeugte sich und ergriff Bolatellis Hand, sehr galant, gerade so, als hoffte er, dass er eines Tages bei ihm um ihre Hand anhalten dürfe.
»Signore, buongiorno. Grande piacere.«
»Anche per me«, sekundierte Bolatelli.
Gianluca betrachtete ihn, dann ließ er los und sagte lachend zu Zoë: »Weißt du, ich habe euch schon eine Weile betrachtet und muss wirklich sagen: Sorry, aber dein Vater sieht echt aus wie ein ganz gefürchteter alter Mafiaboss von Korsika. Wir haben sein Phantombild in der Kaserne hängen. Der hat noch nie im Gefängnis gesessen und ist Millionär. Obwohl«, er unterbrach sich, »ich weiß gar nicht, ob der Alte noch lebt. Er ist eine Legende. Also, Signor Pierre, nichts für ungut. Ich hätte Sie ja nur beinahe verhaftet, dann wäre ich der Star in der Kaserne gewesen …«
Er lachte ein lautes italienisches Lachen.
Bis Zoë sagte: »Dann wärst du mich aber los gewesen.«
Nun lachten sie alle drei, Bolatelli setzte sich wieder hin, spürte, wie ihm der Schweiß über die Stirn rann, und verfluchte sein Alter.
»Bene, cara«, sagte der Carabiniere, »ich muss dann mal, sehen wir uns die Tage?«
»Mein Vater bleibt nur noch ein paar Tage, dann rufe ich dich an.«
Er nickte.
»Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Signore.«
»Ganz meinerseits«, sagte Bolatelli.
Zoë stieg auf die Zehenspitzen und gab dem Carabiniere einen züchtigen Kuss auf den Mund, drehte sich dabei leicht zu ihm hin, als wolle sie nicht vor ihrem Vater küssen. Sie spielte es perfekt.
Als sie wieder Platz nahm und Gianluca um die Ecke verschwunden war, sagte Bolatelli anerkennend: »Die besten Freunde sind die, die man sich selbst aussucht«, nicht wissend, wie ihm so ein Quatsch immer wieder einfiel.