Zara
8. September 2005, Autoroute 8, zwischen Cannes und Nizza
E
s gab diese eine Stelle, mitten auf der stark befahrenen Autoroute, diese eine Kurve, die hoch genug lag und rechts sehr viel Platz und wenig Felsen bot. Dadurch erlaubte diese Kurve den Ausblick über die gesamte sichelförmige Bucht von Antibes bis kurz vor den Flughafen Nizza. Das Meer schien zum Greifen nah und war so türkisfarben, die Boote darauf so weiß, noch beschienen von der Sonne, dass Zara in diesem Moment der Atem stockte, vor heimatlichem Ankommen, vor dem Erkennen der Schönheit.
Sie erschrak über sich selbst, über die plötzliche Emotionalität. Diese Reise hatte sie verändert.
Sie steuerte den Kleinwagen die Berge in Richtung Nizza hinauf und versuchte, im Innenspiegel einen Blick auf sich selbst zu erhaschen.
Nein. Dieselben blauen Augen wie immer. Dasselbe blonde Haar. Dasselbe Gesicht, das die anderen bildschön nannten, das ihr aber einfach viel zu vertraut war, um zuzustimmen oder zu verneinen.
Ja. Da war ein anderer Zug. Klarheit? Freude? Liebe?
Vor drei Wochen hatte sie den Ruf des Europol-Station-Chiefs von Lissabon bekommen. Per Telefax an die Akademie, an der sie den letzten Monat ihrer Ausbildung absolvierte.
Sie hätte ihren Mitschülern und Freunden an der Akademie sagen können, dass sie keine Ahnung hatte, warum er ausgerechnet sie rief.
Aber sie tat es nicht. Sie hatte nämlich keine Freunde unter ihren Mitschülern. Außerdem wusste sie, warum er sie bei sich haben wollte.
Es hatte in der Geschichte der Polizeiakademie in Paris keinen gegeben, der in den Bereichen Täterprofiling und Verbrechensanalyse so gut abgeschnitten hatte wie sie.
Am Anfang hatten es alle für einen Fehler gehalten, für einen Trick. Ihre Mitschüler, die harten Jungs, die irgendwann Anzugträger werden wollten, an Schreibtischen in den Polizeipräsidien dieses Landes. Ihre Ausbilder, die schon Anzugträger waren und die dachten, die schriftlichen Testergebnisse dieses blonden Mädchens seien ein Ergebnis der versteckten Kamera – oder ein Test der Innenrevision.
Später hatten die Ausbilder bemerkt, welchen Trumpf sie dort im Ärmel hatten, und sie legten ihr echte Fälle vor. Meterhohe Aktenberge, die sie über Nacht in ihr Zimmer im Internat mitnahm, während die anderen draußen feiern gingen, miteinander tranken und schliefen. Sie aber las und las, schrieb in ihr rotes Notizbuch, und zwei Tage später ging sie zu ihren Ausbildern und wies auf diese oder jene Ungenauigkeit hin, die sie auf diesen Hinweis geführt hatte, dem wiederum dieser Zeuge noch etwas hinzugefügt hatte und den sie am Vortag telefonisch erreicht hatte, denn der hatte dann gewusst, wer es gewesen war.
Die Ausbilder dachten natürlich anfangs nicht daran, Zara den Ermittlungserfolg einheimsen zu lassen. Stattdessen ließen sie den Täter festnehmen und sich selber feiern.
Irgendwann aber, nach einem Jahr etwa, gab Zara den Namen der Täter nicht mehr weiter. Sie las die Akten im Falle eines Serienvergewaltigers, der in Béziers sein Unwesen trieb. Sie fand schnell heraus, wer er war, doch sie ließ die Ausbilder zappeln. Bis die ihr versprachen, den Ermittlungserfolg in ihrer Akte zu vermerken.
Sie aber wollte noch etwas: Sie wollte, dass Europol in Den Haag über diese außergewöhnliche Schülerin informiert wurde. Die Ausbilder taten auch das. Erst dann gab Zara ihnen den Namen des Vergewaltigers von Béziers.
Europol. Terror. Clans. Organisierte Kriminalität. Große Verbrechen. Das war ihr Ziel gewesen.
Zudem hatte Europol einen anderen Vorteil: Es war weit weg. Sie hatte die Chance, Raum zwischen sich und ihre Vergangenheit zu bringen. Zwischen sich und den Süden.
Dass es aber so schnell gehen würde, damit hatte nicht einmal die sehende Zara gerechnet.
Vor drei Wochen war sie also in Orly unter regenverhangenem Stahlhimmel in eine Maschine von AirFrance gestiegen, anderthalb Stunden später atmete sie die weiche Sonnenluft von Lissabon.
Ein Wagen hatte sie an die Algarve gebracht, in ein kleines Urlaubsdorf. Dort war sie auf Rui Vicentes gestoßen, den Chef der Europol-Einheit in Portugal. Ein kleiner Mann, mit pechschwarzem Haar und buschigen Augenbrauen, der sie mit dem melancholischen Blick der Portugiesen ansah. Diesem Blick von unten herauf, als würde bald ein Wunder geschehen, so richtig sicher sei er sich aber noch nicht.
Kurz bevor das Wunder geschah, knapp zwei Wochen später, hatte sie abends an der Hotelbar gesessen und nachgedacht, Notizen auf Servietten gemacht. Die Tage waren intensiv gewesen, die Ermittlungen, die Suche nach dem kleinen Mädchen sehr kompliziert. Deshalb hatte es auch so lange gedauert, aber nun war sie den Entführern dicht auf den Fersen.
Der Mann sprach sie einfach an, stand neben ihr, in einem Abstand, der ihr noch angenehm war, vielleicht anderthalb Meter. Später würde er ihr sagen, dass er schon damals gespürt hatte, wie viel Raum sie brauchte.
»Ich habe Sie beobachtet, Mademoiselle, seit Tagen schon. Und ich bekomme Sie selbst des Nachts nicht aus dem Kopf. Ohnehin nicht am Tag, wenn ich arbeiten muss und wichtige Gespräche führen. Sie sind immer bei mir. Und ich würde mir wünschen …«
Sie hatte ihn kurz angesehen, sodass er verstummte, dann hatte sie aus ihrem Portemonnaie einen Schein geholt und auf die Bar gelegt. Sie war aufgestanden und hatte ihn wortlos gebeten, ihr zu folgen.
Sie waren in ihr Zimmer gegangen.
Vier Tage später, als der Fall gelöst war, hatte Stefan um ihre Hand angehalten, sie gebeten, mit ihm nach Berlin zu gehen.
Sie hatte zugestimmt, unter einer Bedingung.
Für diese Bedingung setzte sie nun, wo die Autobahn bergiger wurde, wo die Ausläufer der Meeralpen links zu sehen waren, den Blinker und fuhr in Nizza-Nord ab.
Das Licht war fast gänzlich verschwunden, doch noch waren es zehn Minuten zur verabredeten Zeit.
Sie hielt in der Rue Henri Sappia, einer Straße, die genauso heruntergekommen war wie die ihre. Der Vorteil war allerdings, dass sie hier niemand kannte. Dass niemand sich erinnern würde. An die junge Frau in dem Kleinwagen.
Sie atmete tief durch und trank einen Schluck aus der Wasserflasche, die auf dem Beifahrersitz lag, dann räumte sie die Flasche auf den Rücksitz. Sie nahm das kleine rote Notizbuch vom Beifahrersitz, wickelte es aus der Zellophanhülle und schlug es auf.
Die Seiten knarzten noch, brandneu war es.
Auf die erste Seite schrieb sie mit ihrem blauen Stift: Zara von Hardenberg, Berlin: Ermittlungen
Dann schloss sie es und steckte es in das Fach in der Tür.
Sie sah den Schatten, der sich dem Wagen näherte, immer wieder kurz beleuchtet von einer Straßenlaterne. Eine leichte Reisetasche in der Hand. Über Zaras Mund ging ein Lächeln. Es würde wirklich wahr werden, das alles.
Morgen um sieben ging ihr Flug von Genua über Rom und Frankfurt. Niemand würde sie finden.
Ein neues Leben.
Die Tür öffnete sich, und sie stieg ein.
Zara sah sie an, sah die Tränen um die Augen, die tiefen Falten vom Leben, wo eigentlich Lachfältchen sein müssten − und für die wollte sie jetzt sorgen.
»Salut, Maman«, sagte Zara und klang dabei leichter als jemals zuvor in ihrem Leben.