Navarro
Les Goudes, Marseille
W en schickten diese verdammten Kamelficker denn nun noch, um ihn einzuschüchtern?
Er hatte die schwere schwarze Limousine gar nicht kommen hören, er sah den schwarzen Audi A8 erst, als er inmitten einer Staubwolke im roten Sand des kleinen Hafens zum Stehen kam.
Er hatte keinen Zweifel, dass die Insassen für ihn gekommen waren, solche Karren hielten nicht hier, am letzten Zipfel von Marseille, an dem kleinen Fischerhafen, den Jean-Claude Izzo so geliebt hatte, dass er der ganzen Stadt in seinen Texten ein Denkmal gesetzt hatte – und den Navarro, seitdem Isabel ihn verlassen hatte, nun sein Zuhause nannte.
Die kleine rote Steinhütte dort hinten mit den blauen Fensterläden, dort lebte er − und hier, genau neben den kleinen Booten, war er meistens, wenn er nicht arbeitete, und warf wie jetzt seine Pétanque-Kugeln, zusammen mit den anderen Les-Goudes-Jungs.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass sich nur die Fahrertür öffnete. Ein alter Mann stieg aus, getönte Sonnenbrille, weißes Hemd, blaues Sakko. Niemand sonst.
Kein Shokran Al-Hamsi. Kein Silas Al-Hamsi.
Keine Killer.
Vielleicht war er doch nicht wegen ihm hier.
Er atmete einmal tief durch, nahm einen Schluck von dem Pastis, aus dem mit einem Eiswürfel kühl gehaltenen Glas.
»Ey, Navarro, du bist weiter weg«, sagte Bastien.
Stimmt. Er war dran.
Er stellte sich an die Linie, nahm Maß und warf. Seine Kugel flog in hohem Bogen und schlug genau auf der Kugel des Kumpans auf, ohne diese jedoch vom Fleck wegzubewegen.
»Merde«, sagte Navarro. Dieses Spiel konnte er nicht mehr gewinnen.
Er behielt den Alten im Blick, der über den Platz auf sie zukam. Mit langsamem, aber zielstrebigem Schritt.
Irgendwo hatte er ihn schon mal gesehen. Er wusste nur nicht …
Erst als er auf Navarros Höhe war, erkannte er ihn.
Die Fahndungsplakate. Überall. In jeder Polizeiwache Frankreichs.
Ohne dass sie genügend Beweise gegen ihn hatten – gesucht wurde er trotzdem. Vielleicht war er der meistgesuchte Mann Frankreichs.
»Gehen wir ein Stück, Monsieur Navarro«, sagte Benito Bolatelli, der Pate von Korsika, und hielt im Gehen nicht einmal inne.
»Jungs«, sagte der Commissaire, ohne lange zu überlegen, »ich bin gleich wieder da.«
Sie nickten ihm zu, tranken von ihren Pastis-Gläsern, während sich Navarro und der Korse entfernten.
»Sie wissen, dass ich Sie gleich hier festnehmen könnte?«, fragte Navarro.
Der Alte nahm seine Sonnenbrille ab. Die grauen Augenbrauen waren buschig, seine Augen tiefbraun und von einer unendlichen Wärme. Unglaublich, dass er getan haben sollte, was ihm die Ermittlungsbehörden von vier französischen Regionen vorwarfen.
»Commissaire Navarro, Sie werden gleich fröhlicher sein als während der gesamten letzten Wochen. Und ich denke, in Ihrer Situation gibt es nicht viel, was Sie noch froh machen kann. Ich habe Ihnen viel zu geben.«
»Ich pfeife darauf, was Sie mir zu geben haben. Ich steck eh schon bis zum Hals in der Scheiße.«
Jetzt erst entdeckte Navarro den Karton in Bolatellis Hand.
»Das weiß ich«, sagte Bolatelli. »Und ich will Ihnen helfen.«
»Was ist das?«
»Es riecht mittlerweile etwas, die Kühlkette war irgendwo unterbrochen.«
Bolatelli hob den Deckel etwas an, wirklich, aus der Schachtel drang ein fürchterlicher Gestank.
»Woher haben Sie …«
Er erkannte das blutige Geschmiere in dem Karton nicht mehr als echten Körperteil, aber doch: Es war wohl das Ohr von Zorro, ein Stück Fell war noch übrig.
»Monsieur le Commissaire. Die Methoden der Männer, die meine Nachfolge antreten wollen, sind mir zuwider. Ihnen derart zu drohen – das gehört sich nicht. Ihre Familie hat nichts damit zu tun. So habe ich mir erlaubt, meine Männer vor dem Haus Ihrer Frau zu postieren. In Paris. Sie haben gestern den Boten der Brüder Al-Hamsi abgewartet, er hat den Karton vor der Wohnung abgestellt, und wir haben ihn dort eingesammelt, bevor er bei Ihrer Frau oder Ihrer Tochter für Unheil sorgen konnte. Diese kleine gute Tat sollten Sie natürlich für sich behalten.«
Navarro musste ihn sehr lange wortlos angestarrt haben, denn irgendwann zwinkerte Bolatelli.
»Aber warum haben Sie das getan?«
»Sagen wir mal: Die Brüder sind Irre, sie sind gefährlich, sie kennen keinen Kodex, keine Ehre. Deshalb sollen sie meine Nachfolge auch nicht antreten. Ich habe bereits eine wunderbare Nachfolgerin, Sie kennen sie sicher als die Fürstin der Unterwelt. Sie hat Ehre im Leib, sie ist fair, gerecht, kurzum: Sie wäre nichts für Ihre Welt, aber sie ist genau richtig in meiner.«
Navarro wusste, dass er niemals etwas von der doppelten Zoë erzählen würde – von der Polizistin und der Mafiosa –, niemals, nicht diesem Mann. Dennoch hatte er sich in diesem Moment entschieden.
»Was soll ich tun?«
»Ich weiß, dass Sie es tun können. Sie haben es schon einmal getan. Bringen Sie ihn um. Morgen, um 12. In Bormes-Les-Mimosas. Chez Zoë.«
»Al-Hamsi?«
»Shokran. Sie müssen Shokran umbringen. Nicht Silas. Silas ist nur die Faust, der kleine Hyperaktive. Shokran ist der Wahnsinnige, der Kopf, das Herz, die Hyäne. Haben Sie ein Gewehr?«
»Natürlich.«
»Gut. Dann tun Sie es. Danach werden wir Sie nie wieder behelligen. Folgen Sie mir nicht. Seien Sie einfach nur pünktlich.«
Mit diesen Worten war das Gespräch offensichtlich beendet, denn Bolatelli warf den Karton in einen Mülleimer auf dem Platz und ging in Richtung des schwarzen Audi A8.
»Was ist, wenn ich es nicht tun kann? Was wollen Sie dann mit mir machen?«, rief Navarro ihm nach.
Bolatelli blieb stehen und sagte, ohne sich umzudrehen: »Gar nichts. Ich habe mit Ihnen keine offene Rechnung. Die Al-Hamsis werden das schon erledigen.«
Dann ging er, stieg ein und ließ Navarro in der Staubwolke des roten Sandes stehen.