Zoë
Beach Hotel Dos Mares, Tarifa, Spanien
S ie schloss die Augen der Kleinen, die der Teufel so zugerichtet hatte.
Er musste irgendwo ein sehr feines Messer herbekommen haben, vielleicht hatte er es in der Küche gestohlen, irgendwann in der Nacht.
Dass er sie vergewaltigt hatte, war unschwer zu erraten, Zoë fragte sich nur, warum niemand etwas gehört hatte.
Zoë hatte vorhin sogar die Schritte vor der Tür gehört, war sich aber nicht sicher gewesen, ob es ihre Schwester war, deshalb hatte sie die Waffe gezogen. Als sie Zaras Blick sah, die Blässe, die zitternden Hände, hatte sie schon geahnt, was passiert war. Doch sie hatte nicht glauben können, was er dem Mädchen angetan hatte.
»Bleib hier«, hatte sie zu Zara gesagt, »es wird noch mehr Durcheinander geben, wenn hier gleich zwei von uns herumlaufen.«
Sie hatten die beiden Zimmer durchsucht, dann – es war schon Vormittag – hatte Zoë an Isaaksons Tür geklopft, dann an Aznars.
Der Spanier beugte sich gerade über die Leiche von Kevins Schwager, nahm seinen Kopf hoch, suchte nach der Kugel.
»Ich rufe die Policía Nacional an«, sagte Isaakson, der bleich im Türrahmen stand, die Hände zu Fäusten geballt.
»Nein«, fuhr Zoë auf. Das war es noch, was Zara ihr gesagt hatte, bevor sie auf den Flur getreten war.
»Keine Spanier. Wir müssen das klären.«
»Wieso, Zara? Das sind drei Tote. Und unser Mann ist …«
»Durchsuch sein Zimmer. Nimm alles auseinander. Wir müssen wissen, wo er steckt. Aznar, schau dir ihre Leiche an. Sag mir, was du hast.«
»Und du?«
»Ich muss nachdenken.«
Sie verließ ohne ein weiteres Wort den Raum und erschreckte sich über sich selbst, dass sie keine Übelkeit verspürte, da waren nur Adrenalin und tödliche Wut.
Sie ging zurück in ihr Zimmer und schloss die Tür mit dem Schlüssel ab.
Zara stand am Fenster.
»Isaakson will die Polizei rufen.«
»Ich weiß. Er wird es nicht tun, wenn ich – also du – es nicht willst. Aber wir müssen uns beeilen.«
»Wo ist er?«
Zara antwortete nicht.
Zoë trat neben sie.
»Zara. Wo ist er?«
Ihre Zwillingsschwester drehte ihren Kopf zu ihr. Zoë sah ihre geröteten Augen. Sie hatte Zara noch nie weinen sehen.
»Woher soll ich das wissen?«, brach es aus Zara hervor. »Woher soll ich das immer alles wissen?«
Zoë nahm sie an der Schulter, etwas zu fest, und sie schüttelte sie beinahe.
»Weil du es weißt, Herrgott, du kannst jetzt nicht im Selbstmitleid versinken, wir müssen diesen Typen …«
»Ich versinke nicht im Selbstmitleid, ich habe es einfach übersehen, das war ein Riesenfehler, der größte Fehler …«
Zoë ließ nicht von Zara ab, ihr Druck war fast brutal, sie hielt ihre Arme, umklammerte sie und sagte: »Hör auf damit. Es ist nicht deine Schuld. Ich habe es auch übersehen. Ich habe alles übersehen. Und Isaakson, er hat ihn auf Zypern angeworben, er hat es auch übersehen. Wir alle haben einen Fehler gemacht. Und nun werden wir diesen Fehler wiedergutmachen.«
»Aber für die drei …«
»Zara. Die Wut vernebelt deinen Verstand. Du musst nachdenken. Los. Denk nach.«
Zara schüttelte Zoë ab, dann öffnete sie das Fenster, damit die Meeresluft hereinwehte, die in der Nacht ziemlich abgekühlt war.
Sie atmete mehrmals tief durch, schloss die Augen, Zoë sah, wie sie nach draußen trat und auf der Terrasse herumwanderte.
Immer wieder, von links nach rechts und von rechts nach links, sie umschritt die beiden Stühle und den kleinen Tisch, sah dabei entweder aufs Meer hinaus oder ziellos am Hotel entlang.
Sie griff zum Telefon und sprach hinein, mit wem, war von hier drinnen nicht zu verstehen.
Nach ein paar Minuten kam sie wieder herein, schloss die Tür und wandte Zoë ihren Blick zu, er war wieder klar und fest.
»Es gibt ein paar Fragen: Warum hatte er es so eilig?«
»Wieso eilig? Er konnte doch nicht voraussagen, wann wir ihn finden.«
»Das stimmt nicht«, antwortete Zara. »Es war alles geplant. Die Reise von Rakka nach Marokko. Dass sein Handy ausfiel. Die drei Toten im Hafenbecken. Ich denke, wenn wir endlich die Akten zu den drei Toten im Hafen kriegen, werden wir feststellen, dass es einfach irgendwelche armen Seelen waren – aber sicher keine Terroristen. Sie hatten einen Plan, sie alle zusammen, die ganze Zelle. Und dieser Plan war, ihn zu einer bestimmen Zeit hierher nach Europa zu kriegen. Er hätte es nie hierhergeschafft ohne uns – nicht bei den neuen scharfen Kontrollen. Irgendein Terrorist vielleicht – aber nicht er: der bekannteste Schlächter des IS.«
»Aber es war doch Zufall, wann wir ihn finden würden?«
»War es nicht. Sie haben richtig Gas gegeben. Sein Handy war ausgeschaltet – das war für uns das Signal, dass es für ihn eng werden würde. Sie wussten, dass wir ihn holen würden. Warum, meinst du, waren die Islamisten in Melilla so freundlich zu euch? Weil sie euch den Weg weisen wollten. Und warum, meinst du, sind die Bärtigen aus ihrer sicheren Festung irgendwo in den Bergen vor ein paar Tagen mitten in den Wald von Gourougou gezogen – quasi auf den Präsentierteller aller marokkanischen Polizisten? Sie wollten, dass wir ihn finden. Dass der Geheimdienst sogar mit drinsteckt – geschenkt. Der abgehörte Anruf, das war ein Plan. Und dann haben sie ihn wirklich in dieses Zelt platziert, damit ihr ihn wie ein Geschenk abholen könnt.«
»Aber er kann doch nicht gewollt haben, dass wir seine Truppe plattmachen?«
Zara schlug auf den Nachttisch. Ihr Blick ein Ausrufezeichen.
»Hat er auch nicht gewollt – das war der einzige Fehler in seinem Plan: Er hat nicht gewusst, dass nicht ich komme, sondern du. Stell dir vor, eine normale Polizeieinheit hätte Al-Haddad befreit. Sie hätten ihn da rausgeholt, dann wären sie verschwunden. Die Bärtigen hätten sie dagelassen, sie hatten ja keine Handhabe – nicht in Marokko. Aber du warst da – du und dieser verrückte Katalane. Ihr habt das Ding in die Luft gejagt – und wie du mir berichtet hast, hat Al-Haddad danach sehr verstört ausgesehen, genau wie auf dem Boot, als er gesehen hat, wie die Rauchwolke über Melilla aufstieg – als ihr auch noch die Terrorzelle habt verschwinden lassen. Da wusste er, dass er nun keine Helfer mehr hatte – dass er den Rest allein würde machen müssen. Er braucht also einen anderen Plan.«
»Was aber war denn der Ursprungsplan?«
»Es muss etwas ganz Konkretes gewesen sein. Sie haben auf ein Datum hingearbeitet. Und wenn ich mir die Daten so anschaue, dann gibt es nur eines, auf das es sich konkret hinplanen lässt.«
Zoë stutzte.
»Der 11. September …«
»Genau. Nun müssen wir herausfinden, was heute stattfindet. Was Al-Haddad vorhat, wenn ihm Truppen und Waffen abhandengekommen sind.«
»Was könnte das sein?«
Zoë griff zum Handy, um die Nachrichtenseiten zu durchsuchen, aber Zara legte die Hand darauf.
»Was hasst er am meisten?«
»Al-Haddad?«
Zara nickte.
»Den Westen? Die Polizei?«
»Denk an den Raum. An das Hotelzimmer. An das Blut, die Schüsse – und die Stiche. Was hasst er am meisten?«
Zoë erstarrte.
»Frauen.«
Zara nickte.
»Ich habe ein Gespräch gehört, das er mit Isaakson auf Zypern geführt hat. Die größte Regung, den größten Hass hat er gezeigt, als es um Mädchen und Bildung ging. Er hasst alle Frauen. Und er hasst, dass sie mittlerweile alle Chancen haben. Seine Schwestern haben ihn wie einen Versager aussehen lassen. Und nun wird er sich rächen.«
»Aber was kann er denn gegen die …«, Zoë stockte, »Rafiki ist in Spanien.«
Zara nickte wieder.
»Genau. Und sie hält ihre große Rede heute Abend, am 11. September.«
Zara sah auf die Uhr.
»Jetzt ist es 13 Uhr 30. Die Rede hält sie in sechs Stunden.«
»Symbolischer geht es ja gar nicht.«
Zoë unterbrach sich, weil Zaras Handy klingelte.
»Ja?«
Sie hörte einige Sekunden zu. Dann legte sie auf.
»Er musste seinen Plan ändern. Aber er wird zuschlagen. Er hat einen Sattelschlepper gestohlen, hinter Tarifa, auf der Landstraße. Der Fahrer ist am Straßenrand gefunden worden, mit einem Loch in der Stirn. Europol hat den Eintrag in der Datei der spanischen Polizei gefunden. Es war vor fünf Stunden.«
»Dann hat er reichlich Vorsprung, er müsste bald in San Sebastián ankommen.«
»Wir müssen alles absperren«, sagte Zara. »Wir müssen die Veranstaltung absagen. Wir müssen sie warnen, alle.«
»Nein«, sagte Zoë – und nun war sie es, die voller Ernst und Klarheit war. »Nein, das dürfen wir nicht. Es wäre das Ende – dein Ende, Isaaksons Ende, das Ende von allem, wenn rauskommt, was hier geschehen ist. Ich habe es verbockt – genau wie du.«
»Aber wir können nicht Tausende ins Verderben rennen lassen, Zoë, das hier ist kein Mafiaspiel.«
Zoë griff Zara am Arm.
»Wir wissen, wann es passieren soll. Und wo. Es wird nicht passieren.«
»Was …«
»Ich werde ihn stoppen«, sagte Zoë und war im nächsten Moment schon aus der Tür.