Zoë
Autovía A-1 vor San Sebastián, Spanien
S
ie fuhr nicht mehr auf der linken Spur, sondern mittlerweile seit einer Stunde auf dem kleinen bisschen Asphalt, was noch links neben der Überholspur lag, weil es ihr die Möglichkeit gab, all die schleichenden Seat Ibizas und Alhambras zu überholen, die wiederum noch langsamere Lkws überholten – ohne von ihrem Tempo 280 herunterbremsen zu müssen.
Das tosende Geräusch der Ducati, das mehr einer Flugzeugturbine als einem Motorrad glich, war nun seit fünf Stunden ihr permanenter Begleiter – sie wusste, dass sie es noch nachher im Bett hören würde.
Nachher, im Bett.
Wie würde das sein?
Was würde dann sein?
Was, wenn sie zu spät wäre?
Sie hatte all die Kilometer, all die Stunden tief aus dem Süden bis hierher in den Norden ins Baskenland Ausschau gehalten, doch den schweren Lkw hatte sie nicht gesehen.
ESW8241.
Jedes Kennzeichen hatte sie gescannt, im Vorbeifliegen.
Sie hatte ein mieses Gefühl.
Sie wusste nicht, ob sie jemals schon ein derart schlechtes Bauchgefühl gehabt hatte.
Ihr Magen hatte während der ganzen Fahrt nicht aufgehört zu krampfen. Sie hatte nur einmal angehalten, um auf einem verlassenen Parkplatz zu pinkeln, dann hatte sie sich in der Sonne hingelegt, sich lang ausgestreckt, hatte fünf Minuten meditiert.
Danach war es kurz besser gewesen, aber nun waren die Krämpfe wieder da.
Sie flog an dem Schild vorbei, das den Weg ins Centro von San Sebastián wies, dann, Sekunden später, nahm sie die Abfahrt, immer noch war das Tempo hoch, doch die Maschine klebte in der Kurve.
Noch zwanzig Minuten, dann würde das Fest seinen Höhepunkt erreichen, kurz vor dem Sonnenuntergang.
Sie müsste vorher …
Sie spürte ihn, bevor sie ihn sah.
Ihr Bauch zuckte, dann die Kurve, dahinter, schnell auf der mittleren Spur, der grau-schwarze Sattelschlepper, die Aufschrift auf der Plane Metálicos Duarte.
Sie flog vorbei, das Kennzeichen:
ESW8241.
Er konnte nicht mit ihr rechnen.
Eben blinkte er rechts, ganz vorschriftsmäßig, und nahm dann die Abfahrt von der Autobahn, hinein auf die breite Straße, die genau am Fluss entlangführte, um sich dann wenig später zu verengen und in die Altstadt zu münden.
Sie brauchte sein Gesicht nicht anzuschauen.
Sie wusste, dass er es war.
Sie bremste nicht, sondern gab noch mehr Gas, nahm eine Ausfahrt später, sie hatte sich alles auf der Karte angeschaut.
Sie raste entlang, übersah eine Radaranlage, die bei diesem Tempo ohnehin keine Chance mehr haben würde, sauste eine kleine Straße entlang, die sich in Kurven einen Hügel hinaufwand, gegenüber dem Bahnhof, da musste sie hin.
Als sie die Brücke sah, bremste sie, so deftig, dass die Maschine in zwei Sekunden von hundert auf null zum Stehen kam, das Vorderrad brach aus, nur einen Moment, doch sie hielt die Ducati mit ihren Oberschenkeln und ihren Armen aufrecht, sprang im selben Moment ab und stellte sie auf den Ständer.
Dann rannte sie auf die Fußgängerbrücke, vielleicht hatte sie noch dreißig Sekunden. Ihr Weg war deutlich länger gewesen.
Sie überquerte den Fluss, dann erreichte sie die Mitte der Brücke über der breiten Straße, es war nicht viel los, die Touristen waren schon lange in der Stadt eingetroffen für das abendliche Spektakel, zu dieser Stunde wurde nicht mehr gereist, sondern bereits gefeiert.
War er schon durch? Sie sah nach vorne in Richtung Zentrum, kein Lkw.
Sie drehte sich um in Richtung Autobahn. Dort? An der … Ja, er hatte an der Ampel halten müssen. Ihre Chancen stiegen.
Sie sah sich die Höhe der Brücke an, die Straße unter ihr, auf der gerade zwei, drei Autos durchrasten, immer noch hatten sie hier 70, 80 Stundenkilometer auf dem Tacho.
Sie stand fünf Meter über ihnen, locker.
Sie entschied sich dafür, in Fahrtrichtung zu springen, um gleich in die richtige Richtung laufen zu können.
Sie würde etwa zweihundert Meter haben. Dann käme die nächste Brücke, die deutlich tiefer war.
Sie kletterte auf die Brüstung, drehte sich um, der Lkw kam näher, hinter ihr, sie meinte, das Blond sehen zu können, den Fahrer, dann verschwand der Lkw aus ihrem Blickfeld, sie zählte leise: »Drei, zwei, eins«, schloss die Augen, nur für den Bruchteil der Sekunde, in der sie sich fallen ließ, die Knie senkte, die Füße weit ausstellte, dann federte sie hoch, kurz bevor sie aufkam, genau im richtigen Moment, um zu landen, sich zu ducken und sofort loszulaufen, nach vorne, sie sprang mit einem Satz von dem Anhänger auf das Führerhaus, keine Ahnung, ob er sie hörte, es war auch scheißegal, eine weitere Sekunde, dann war sie an der rechten Seite, hangelte erst ihre Füße hinunter, suchte Halt, fand das Trittbrett, ließ sich dann ein Stück abgleiten, genau als der Lkw unter der tiefen Brücke durchfuhr, ihre Hände fanden den Türgriff, zogen daran, er gab nach, der Idiot hatte nicht mal die Tür verriegelt, das verdammte Adrenalin, vielleicht wollte er auch aufgehalten werden, all das ging ihr durch den Kopf, als sie die Tür öffnete, mit der anderen Hand die Waffe aus dem Bund ihrer Jeans zog, und dann zum ersten Mal seit gestern sah sie sein Gesicht wieder, seine teuflischen kleinen Augen, doch nun blickten sie Zoë an, als hätten sie ein Gespenst gesehen.
Er versuchte, das Lenkrad nach rechts zu reißen, um sie wieder aus dem Führerhaus herauszuschleudern, suchte mit der anderen neben sich seine Pistole, doch bevor er sie fand, hatte sie schon einen festen Griff am Beifahrersitz, zog sich hinauf und rammte ihm mit voller Wucht ihren Ellbogen in den Magen, er ließ das Lenkrad los, nur einen Moment, zuckte vor Schmerz, dann hatte er seine Waffe doch gefunden, griff zu, sie versuchte, seinen Arm hochzureißen, schlug mit dem anderen in sein Gesicht, ein Schuss löste sich, aber zu hoch, er durchschlug das Beifahrerfenster, das Glas splitterte, rieselte nach draußen auf die Straße, dann noch ein Schuss, sie schlug wieder nach ihm, er versuchte, ihr die Waffe zu entreißen, doch er konnte sich nicht entscheiden: Lenkrad oder Kampf? Er wollte nicht sterben.
»Du Bastard«, rief sie, der Fahrtwind wehte durch die zerschossene Scheibe herein, übertönte ihre Worte fast, »das ist für Kevin, für Agba, für sie alle …«
Es gelang ihr, ihm den einen Arm zu verdrehen, sodass er keine Wahl mehr und sie endlich die rechte Hand frei hatte, zielte, aus nächster Nähe, drückte ab, sie konnte die Kugel fast sehen, obwohl sie wusste, dass es nicht möglich war, sie durchschlug sein linkes Auge, trat irgendwo am Hinterkopf wieder aus und schlug im Sitz ein, dann nahm sie das Lenkrad und zerrte es nach rechts, der Lkw geriet ins Schlingern und wurde ein wenig langsamer, weil Al-Haddads Bein nicht mehr steif auf dem Gaspedal stand, nun, wo er mausetot war, aber dann brach der schwere Sattelschlepper doch aus, sie kletterte über den Toten, hatte allenfalls noch zwei Sekunden, dann öffnete sie seine Tür und spürte, wie das Fahrerhaus durch die Brücke brach, und in dem Moment, als der Wagen zu kippen begann, sprang sie ab, so weit weg wie möglich, ließ sich fallen, rollte sich in der Haltung eines Embryos zusammen, und dann blieb ihr nur noch, die Augen zu schließen und zu warten, vielleicht eine halbe Sekunde, bis sie auf dem Wasser aufschlug, spürte, wie die Schwärze sie umfing, das Nass, die Kälte, dann erst hörte sie es hinter sich, und dann kam die Welle, als der komplette Lkw in den Fluss stürzte, kaum drei Meter von ihr entfernt, der Sog riss sie mit hinab, und dann war Ruhe.