Zoë
Plaza de la Constitución, San Sebastián, Spanien
S
ie sah aus wie eine der jungen Frauen, die hier tanzten, die sich selbst und ihre Zukunft feierten, ihre Chancen. Junge Frauen, die einander umarmten, Gläser in den Händen hielten, Bier, Wein, Wasser, die nach oben zu dem Fenster schauten auf dem breiten Platz, dem Fenster mit der Nummer 1. Alle Fenster, alle Balkone hier waren nummeriert mit gelben Ziffern, das kam aus den alten Zeiten, als die Logen für den Stierkampf vergeben wurden.
Der einzige Unterschied zwischen ihr und den anderen Frauen war, dass sie aussah, als hätte sie eben noch ein erfrischendes Bad im Atlantik genommen, ihre kurzen Haare waren nass, und durch das weiße Tanktop ließ sich die Wäsche darunter erkennen, weil sie sich vorhin damit abgetrocknet hatte, nachdem sie aus dem Fluss gestiegen war.
Sie trank eine Caña Bier aus einer kleinen Bar auf dem Platz und sah genau wie die anderen Frauen zu dem Fenster dort oben hin, als die Balkontür sich öffnete und das Mädchen heraustrat. Sofort brandete Jubel auf, begeisterter Jubel, der so ganz anders klang als im Fußballstadion, wenn die Männer brüllten, das hier klang melodisch, einzelne Rufe waren herauszuhören, Begeisterung, Freude, als sich die junge Frau mit dem Kopftuch ihnen zuwandte und rief:
»Danke, dass ihr hier seid, danke, dass wir friedlich feiern können. Damit dieser Tag, der 11. September, nie wieder für Terror stehen wird und für die Ideen derer, die uns einsperren wollen – sondern für unsere Ideen, unsere Freiheit, unsere Chance. Denkt immer daran: Ihr seid die Zukunft, ihr habt es in der Hand, ihr entscheidet über euer Schicksal, mit Gottes Hilfe. Lernt und lebt und lacht, dann …«
Zoë schweifte in Gedanken ab, sie bemerkte, wie sie sanft lächelte, sah die junge, so mutige Frau da oben, sah die Polizistinnen und Polizisten, die irgendwie aufgeregt waren, immer wieder in ihre Funkgeräte sprachen, natürlich hatten sie bemerkt, dass vor der Stadt etwas passiert war, aber die jungen Frauen auf dem Platz bemerkten das nicht. Und das war auch gut so.
Doch Zoë spürte, dass ihr Bauch noch nicht aufgehört hatte zu krampfen.
Was war hier los?
Warum war sie nicht viel freier? Erleichterter? Sorgenloser?
Sie lebte, sie atmete, sie hatte sich nicht einmal ernsthaft verletzt, von der kleinen Wunde am Fuß einmal abgesehen, die sie sich beim Aufprall auf dem Bett des Flusses zugezogen hatte.
Sie hätte sich gern geohrfeigt dafür, dass ihr Bauch keine Ruhe gab.
Sie würde noch ein Bier trinken. Zu einem Lied tanzen. Dann wirklich in den Atlantik schwimmen gehen.
Zara. Sie war so merkwürdig gewesen. So in Eile.
Und dann ging es ihr auf.
Sie trat an den Rand des Platzes, unter einer der Arkaden war es ein wenig ruhiger.
Sie nahm ihr Handy und wählte.
Er nahm sofort ab.
»Salut, Papa«, sagte sie erleichtert.
»Salut, chérie«, antwortete er. »Ça va?«
»Ja, alles gut. Ein kleiner Auftrag, aber ich bin bald zurück.«
»Schaffst du es bis morgen Mittag?«
»Wieso? Was ist …«
»Hat deine Schwester dir denn nichts gesagt? Maman kommt hierher. Und dann ist morgen dieses große Treffen von Bolatelli mit …«
Der Platz war sofort totenstill, ihre Ohren brannten, alles verschwamm, sie hielt sich an der Mauer fest.
»Wo?«
»Hier, im resto. Zara hat gesagt, sie wird es dir sagen. Weil du ja sicher auch hier sein willst.«
»Papa«, sagte sie und klang dabei, als wäre er das Kind. »Du musst das absagen. Unbedingt. Es ist zu gefährlich.«
»Ach, mein Kind, das sind Friedensverhandlungen, damit endlich Ruhe ist hier im Süden. Das ist doch gut, dass die hier bei uns …«
»Papa, sag es ab.«
»Das kann ich nicht. Ich erreiche Zara doch gar nicht mehr. Sie werden morgen Mittag alle …«
Zoë sah auf die Uhr. Sie könnte die Nacht durchfahren, dann wäre sie um 11 …
»Ich komme«, sagte sie, dann legte sie auf und rannte los, die jungen Frauen in ihrer Nähe sahen ihr belustigt nach, dann drehten sie sich wieder um und stießen mit ihren Gläsern an.