Zoë
Plage de l’Estagnol, Bormes-Les-Mimosas, Provence
D
as Renault-Taxi fuhr an ihr vorbei in die entgegengesetzte Richtung. Sie bremste in einer Staubwolke vor der kleinen Holzhütte, die sie mit aufgebaut hatte. Die Holzhütte, an der an einem Tag wie diesem zu dieser Zeit die Touristenautos Schlange standen, um die 10 Euro Parkplatzgebühr zu entrichten.
Heute war die Schranke heruntergelassen.
Fermeture exceptionelle pour raison familiale
stand auf dem Schild.
Sie sah den Weg hinunter.
Ein einsamer Mann lief den sandigen Weg entlang Richtung Strand. Er zog einen Koffer.
Der Gang kam ihr so bekannt vor, dass es sie traf wie einen Schlag.
Das war kein Mann.
Sie gab Gas und beschleunigte, dann, auf gleicher Höhe, bremste sie sofort wieder ab, stieg ab und nahm sofort den Helm ab.
»Zoë«, sagte ihre Maman mit einem Strahlen, sie kam auf sie zu und wollte sie umarmen.
Doch Zoë sagte leise und deutlich: »Maman, du musst von hier verschwinden. Es ist hier nicht sicher. Nicht jetzt. Geh wieder zur Straße.«
»Aber das Taxi hat mich doch gerade erst …«
»Geh zur Straße und halt ein Auto an. Es soll dich nach Bormes ins Café Central bringen. Warte dort, bis ich dich hole. Verstanden?«
Ihre Mutter nickte. Zoë stieg auf, diesmal ohne Helm, und fuhr wieder an.
Sie nahm die kleinen Kurven durch den Pinienwald und bremste in einer neuerlichen Staubwolke genau vor dem Restaurant. Sie stellte den Motor ab, schnellte aus dem Sitz und rannte in Richtung Terrasse.
Keine Bodyguards, keine Waffen, wenigstens das.
Sie zog ihre Waffe aus dem Hosenbund.
Als sie um die Ecke bog, erkannte sie die fünf Gestalten am Tisch.
Ihren Papa.
Bolatelli.
Silas Al-Hamsi und seinen beschissenen Bruder.
Zara.
Sie ging auf sie zu.
Shokran und Silas starrten sie an, wie vom Blitz getroffen, Bolatelli sprang auf und stützte sich auf dem Tisch ab.
Er sah zu ihr und dann zu Zara.
»Verdammt, was …«
»Sie beschissener Wichser«, brüllte Shokran ihn an, »was spielen Sie hier …«
Nun stand Zoë genau vor dem Tisch, direkt neben Zara, sie hatte die Waffe nach oben gerichtet.
»So, jetzt ist Schluss mit diesem verdammten Theater, Zara, was hast du dir dabei gedacht, das ist doch der totale Harakir−«
Der erste Schuss fiel, und ihr war klar, dass es keine Pistole war, und auch kein Schreckschuss, sondern ein verdammtes Gewehr mit Zielfernrohr.
Für einen Moment passierte nichts. Kein Blut spritzte.
Doch dann griff Shokran nach seinem Bruder, der sich plötzlich hingesetzt hatte. Zoë sah, dass ein kleines Loch links neben seiner Stirn klaffte, er hatte den Kopf zur Seite geneigt, Shokran lehnte sich über ihn.
Da fiel der zweite Schuss.
Sie konnte Zara noch einen Blick zuwerfen, die mit weit aufgerissenen Augen in die Sonne sah, dann schlug die Kugel ein, das Blut verteilte sich auf dem Tisch, es gab einen Schlag, dann wurde ein Stuhl umgerissen, und das Stöhnen hielt nur eine Sekunde an.
Zoë schrie: »Papa«, und beugte sich sofort zu ihm herab, er lag dort unten auf den Planken, das Blut lief aus seinem Kopf, vermischte sich mit Tränen und Gehirnmasse.
»Papa!«, schrie sie und spürte, wie sich alles um sie herum auflöste. »Papa!«
Seine Augen waren offen, er sah sie an mit diesem sanften Zug, den er immer hatte, wenn er wusste, dass nichts mehr zu verlieren war.
Zara stand neben ihr, beugte sich herab, sie hätte sie gerne erschossen, aber sie wusste, dass sie nun sehr aufmerksam sein musste.
»Ich liebe euch«, hauchte er, und es war ein vollkommener Satz, »bitte, liebt euch …« Dann erstarben seine Worte, und seine Augen wechselten den Ausdruck, sie berührte sein Gesicht, versuchte, seinen letzten Atem zu erhaschen, beugte sich über ihn, küsste seine Lider, doch dann riss sie sich los, stieß Zara beiseite, wich Bolatelli aus, der auf sie zustrebte, und rannte los, in Richtung Düne, von dort hatte sie den ersten Schuss gehört.
Sie sah seinen Schatten, sah die Bewegung in der gleißenden Sonne.
Er schraubte eben das Zielfernrohr ab, als sie ihn von hinten ansprang und ihre Beretta auf seinen Rücken niedersausen ließ.
Navarro ging zu Boden, sie riss ihn herum, wie sie es mit dem verdammten Agenten in Marokko getan hatte, er sah sie an, ganz anders, mit wachen Augen, doch sie presste ihm die Finger in die Wangen, sein Mund öffnete sich, und sie steckte ihm die Beretta hinein.
»Du hast meinen Vater erschossen«, schrie sie, und er, den Mund geweitet von der riesigen Waffe, schüttelte den Kopf, »lüg mich nicht an, warum hast du das getan?«, doch er schüttelte immer noch den Kopf, ganz vorsichtig, und sie, endlich, zog die Waffe heraus, sodass er mühsam hervorbrachte: »Ich habe Shokran treffen wollen, aber Silas …«
Dann hörte sie das Aufheulen der Maschine, sie versetzte Navarro einen Schlag ins Gesicht, damit er sie nicht angreifen konnte, dann richtete sie sich auf und sah direkt in sein Gesicht, dort drüben, auf der Anhöhe im Wald, genau gegenüber.
Er blickte sie an, während er gemächlich sein Gewehr in den Koffer packte, dann schnallte er es sich auf den Rücken und stand auf. Er lächelte, schien zu pfeifen, und sie saß hier auf diesem beschissenen Bullen. Sie stand auf, doch da hatte sich Carlos Zuffa schon auf das laufende Motorrad gesetzt und raste davon, und Zoë spürte, wie ihr die Tränen ins Gesicht schossen.
Sie würde Zara erschießen.
Ohne Frage.
In der Ferne erklangen Sirenen.
Ihr blieb eine Minute.
Sie gab Navarro einen Stoß, dann sprang sie auf und rannte die Düne hinunter. Gott sei Dank kannte sie den Schleichweg durch den Wald, weg von hier.
Sie wollte nicht weg. Sie wollte hier sein.
Dort unten, wo ihr Vater lag. Sein Blut, das die Holzplanken tränkte, die sie vor 5 Jahren mit ihm zusammen auf die alten harzigen Bretter geschlagen hatte.