Zara
Kirche Notre-Dame-de-l’Assomption, Èze, Côte d’Azur
S
päter hatten ihre Ermittlungen ergeben, dass Zoës plötzliches Auftauchen zumindest einen der Schützen derart verwirrt hatte, dass er so gravierend danebenschoss.
Navarro hatte ihr das gesagt, als sie ihn im Gefängnis von Toulon besucht hatte. Natürlich hatten die Behörden für einen vom Wege abgekommenen Kollegen ein hübsches neues Gefängnis herausgesucht.
Er hatte sich nicht mehr die Mühe gemacht zu fliehen. Er hatte im Sand der Düne gelegen und gewartet, bis die Beamten eingetroffen waren, die natürlich nicht lange auf sich warten ließen – das Restaurant war nur zwei Buchten entfernt vom Fort de Brégançon, dem Sommersitz des französischen Präsidenten.
Er hatte niemandem gegenüber ein Wort verloren, keine Verhöre zugelassen, nun wartete er auf seinen Prozess.
Doch mit Zara hatte er gesprochen, in dem kargen Besucherraum im Gefängnis La Farlède.
»Ich hatte alles im Auge, die ganze Situation. Ich wollte Shokran treffen. Ich habe ihn anvisiert, zehn Minuten lang. Ich wollte abwarten, bis alles besprochen war. Bis Bolatelli zu mir hochsah. Doch dann ging alles ganz schnell, einer sprang auf, ich habe nicht gesehen, warum. Doch dann stand sie da, genau neben ihnen. Ich habe das Gewehr verrissen, und dann ging Silas zu Boden. Ich habe es durch das Fernrohr gesehen, wie die Kugel irgendwo in seinem Kopf einschlug. Dann habe ich den Schall des zweiten Schusses gehört. Und dann …«
Eine Minute danach hatte Zoë ihn ausfindig gemacht und entschieden, ihn nicht zu töten. Warum auch immer.
Bolatelli war direkt nach den Schüssen mit seiner dicken Limousine verschwunden, ohne Zara, ohne Zoë.
Shokran hatte seinen schwer verwundeten Bruder in seinen Range Rover gezerrt und war mit ihm davongerast. Seitdem hatte man nichts mehr von ihnen gehört.
Zara war geblieben. Hatte neben ihrem Vater gewacht. Zusammen mit Maman.
Der zweite Mann war verschwunden. Der auf Fred geschossen hatte.
Einfach verschwunden.
In diesem Moment trugen sie den Sarg in die Kirche.
Der gelbe Bau mit den korinthischen Säulen lag hier oben in der Hitze, dass es ringsum flirrte und die Zikaden überhaupt nicht hinterherkamen mit der letzten Begleitung.
Maman lief hinter dem Sarg, die Sonnenbrille schützte ihre Augen. Sie hatte geweint um ihren Mann, zwei Tage lang. Danach hatte sie Zara darüber informiert, dass sie das Restaurant übernehmen würde. Dass sie hierbleiben würde. Für immer.
Im Testament ihres Vaters hatte gestanden, dass er hier oben in Èze begraben werden wollte. Hier hatte sein zweites Leben begonnen – hier sollte sein zweites Leben enden.
Niemand, der nicht in dieser kleinen Gemeinde mitten in den Bergen hoch oben über dem Mittelmeer wohnte, durfte hier begraben werden, der Friedhof war einfach zu klein. Doch jemand hatte es möglich gemacht, und dieser Jemand hatte auch die Beisetzung vorab bezahlt.
Zara musste nicht lang raten, wer das war.
Maman zog die Sonnenbrille herunter, schaute sie fragend an.
Zara schüttelte den Kopf.
Maman nickte und folgte dem Sarg in das Innere der Kirche, hinter ihr die große Trauergemeinde. Stammgäste aus dem Restaurant, Honoratioren aus der Provence. Nur Menschen aus dem zweiten Leben ihres Vaters. Niemand sonst. Doch, dort hinten, Nadia, aus dem Wohnblock in Nizza, sie war gekommen.
Zara konnte nicht.
Sie konnte nicht in die Kirche, wollte keine schönen Worte hören, die doch nur hohl klangen.
Sie lauschte den Glocken, die vergeblich versuchten, den Zikaden Konkurrenz zu machen, dann setzte sie ihre Sonnenbrille auf und kehrte zurück zu ihrem Wagen.
In zwei Stunden ging ihr Flug nach Berlin, Stefan und die Kinder warteten auf sie. In ihrem zweiten Leben.