Zoë
Friedhof von Èze, Côte d’Azur
F red Coste – 1949–2018« stand auf dem schlichten Stein aus dunklem Marmor.
Sie berührte den Stein, fuhr mit dem Finger die cremefarbene Schrift entlang, folgte den Jahreszahlen.
Als sie spürte, wie sich die erste Träne den Weg über ihre Wange bahnte, erlöste sie sich und ließ ihren Blick hinabgleiten auf das funkelnde Meer, das sich vor ihren Füßen ausbreitete wie ein türkisblauer Teppich.
Èze war ein Traum.
Sein Traum.
Hätte sie früher jemand gefragt, was sie tun würde, wenn jemand ihre Liebsten angreift, dann hätte sie geantwortet: Ich werde denjenigen verfolgen, töten und auf seinem Grab tanzen.
Am Tag nach dem Tod ihres Vaters hatte sie den ganzen Tag damit verbracht, mit dem Priester und dem Bürgermeister von Èze zu sprechen. Gegen die Zahlung je einer fünfstelligen Summe waren beide bereit gewesen, die entsprechenden Dinge kurzfristig in die Wege zu leiten.
Seither hatte sie Nachforschungen angestellt, hatte versucht herauszufinden, wo Carlos Zuffa stecken konnte.
Denn dass er es war, der ihren Vater erschossen hatte, daran gab es keinen Zweifel.
Navarro war es nicht. Das hatte Bolatelli ihr nachdrücklich gesagt. Der Pate hatte dem Bullen seinen Schutz angeboten, wenn er Shokran Al-Hamsi erledigte. Das hatte zwar nicht ganz geklappt, aber immerhin war Silas Matsch.
Geistiger Matsch zumindest.
Das würde reichen, damit der Pate dafür sorgte, dass Navarro nach Borgo auf Korsika verlegt werden würde. Dort würde er im Gefängnis die nächsten acht Jahre ein sorgenfreies Leben haben. Danach käme er eh frei.
Es blieb Carlos Zuffa.
Als sie bei Navarro stand, hatte sie sein Motorrad gehört, drüben auf dem Hügel im Wald. Er hatte ihren Blick gefunden, ihr zugenickt, dann hatte er sein Gewehr verstaut und war davongerast.
Zuffa.
Der Mann, der in Saint-Tropez dabei gewesen war. An ihrer Seite.
Der einzige Mann neben Xavi und Bolatelli, der sie kannte. Richtig kannte.
Der Weg zu ihm war verbaut, für den Moment.
Er wusste seine Spuren so gut zu verwischen, wie sie es konnte.
Und die Al-Hamsis, die wissen würden, wo er war, waren verschwunden. Shokran pflegte seinen Bruder, an einem geheimen Ort.
Sie würde warten müssen.
Warten bis zu dem Tag, an dem sie Zuffa finden würde.
Sein Grab würde nicht hier oben sein, an diesem herrlichen Ort.
Den Tag der Beisetzung hatte sie in Ventimiglia verbracht, in der Wohnung von Gianluca, in seinem Bett, in seinen Armen. Sie hatte ihre Mutter nicht sehen wollen.
Und Zara. Zara.
Sie staunte, wie wenig Hass sie empfand.
Zara hatte an einem Tag alles verloren:
Ihren Vater.
Er lag nun hier an diesem friedlichen Ort. In der alten Erde von Èze, umgeben vom botanischen Garten mit seinen Sukkulenten, der stattlichen Kirche, dem alten Dorfkern, dort unten die Corniche, das Cap Ferrat, Villefranche leuchtete in der Ferne.
Ihre Mutter.
Sie hatte Zoë angerufen. Darum gebeten, hierbleiben zu dürfen. Das Restaurant zu übernehmen. Zoë hatte sofort eingewilligt. Sie wollte ihrer Schwester ihre Maman wieder entreißen. So war es ein Leichtes. Sie hatte eine Bedingung gestellt: Das Restaurant würde nur Chez Zoë heißen. Maman hatte sofort Ja gesagt.
Es hatte ihr dennoch keine rechte Befriedigung verschafft.
Sie selbst.
Zara hatte sie verraten.
Hatte ihren Vater geopfert.
Sie würde ihr das nicht verzeihen können.
Niemals.
Sie beugte sich herab zu dem Stein, der so kühl war in der Hitze des Nachmittags, küsste ihn und murmelte leise:
»Adieu, mon père, adieu.«