5. KAPITEL
Schloss Villesen
»Verdammt, verdammt, verdammt!« Ferdinand von Straaten war außer sich vor Wut und rannte wie ein angestochener Keiler im Salon des Schlosses auf und ab. Schließlich blieb er stehen und wirbelte zu Tanno von Villesen herum. »War es wirklich zu viel von Euch verlangt, auf einen einzelnen hilflosen, einfältigen Bauernburschen aufzupassen?« Er schlug sich mit der Faust in die flache Hand und trat gegen einen gepolsterten Stuhl, der krachend gegen die Wand flog. »Kein Wunder, dass wir immer wieder Rückschläge erleiden, wenn selbst unser Adel derartig hirnlos ist, sich von einem Bauernlümmel übertölpeln zu lassen!«
Tanno von Villesen wurde bleich bei diesem beleidigenden Wortschwall, aber er sagte nichts. Stattdessen warf er Augusta einen vorwurfsvollen Blick zu. Auch wenn er den Ton und die Respektlosigkeit dieses Offiziers zutiefst verabscheute, musste er vor sich selbst zugeben, dass der Mann in gewisser Weise recht hatte. Jedenfalls hätte er recht gehabt, wenn es wirklich so abgelaufen wäre. Tanno von Villesen kannte seine Tochter jedoch gut genug, um zu wissen, dass sie sich von diesem Müllersburschen keineswegs hatte übertölpeln lassen.
Aber damit war jetzt Schluss. Jedenfalls, wenn es ihnen gelang, mit heiler Haut Frankreich zu erreichen, und Augusta endlich verheiratet wurde.
Sein Blick glitt zu seinem Kammerdiener, der neben Augusta stand und den Rittmeister mit unverhohlener Verachtung betrachtete. Er hatte kurz vor der Rückkehr der Ligistischen dem Freiherrn berichtet, dass der junge Eik Schmalens auf geheimnisvolle Weise aus der Kornkammer, in die sie ihn gesperrt hatten, entkommen war.
Aber Tanno von Villesen wusste ganz genau, dass Eik Schmalens niemals in dieser Kammer gewesen war. Er hatte vom Fenster des Saals aus die Vorgänge im Hof beobachtet und gesehen, wie seine Tochter zuerst Eiks Wunden behandelt und dann mit ihm zu den Stallungen gelaufen war.
Noch bevor er den Hof erreicht hatte, um sie zu fragen, was zum Teufel das sollte, hatte er das Klappern von Hufen auf dem Pflaster gehört. Der Stallbursche hatte stotternd und errötend zugegeben, dass ihm »das gnädige Fräulein« befohlen hätte, ihre Stute zu satteln und dann zu verschwinden. Der Mann hatte nicht beschwören wollen, dass sie allein davongeritten war, aber angeblich hatte er nichts gesehen.
»… davon ausgehen, dass dieser verfluchte Bauer den Spionen bei ihrer Flucht geholfen hat!«
Die wütende Stimme des Rittmeisters riss den Freiherrn wieder in die Gegenwart zurück.
»Und wie hätte er es schaffen sollen, vor Euch das Dorf zu erreichen, Herr Rittmeister?« Augusta von Villesen ließ sich auch von der Wut des Offiziers nicht einschüchtern. Der alte Freiherr hätte fast vor Stolz gelächelt, aber ihm fiel gerade noch ein, dass sie letztlich alle der Willkür dieses Offiziers ausgeliefert waren. Er würde kaum etwas dagegen machen können, wenn dieser von Straaten auf die Idee kam, sie hier in Villesen festzuhalten, statt sie nach Frankreich abreisen zu lassen. Oder weit Schlimmeres mit ihnen anzustellen.
Er schüttelte sich unwillkürlich, als er sich an Valerians Schilderung der Ereignisse erinnerte, die sich in Bruchhausen zugetragen hatten.
»Das würde ich Euch gern fragen, Herr von Villesen!«
Tanno von Villesen zuckte zusammen, aber dann merkte er, dass die Frage nicht ihm gegolten hatte.
»Darauf kann ich Euch nur die Antwort geben, dass ich das für vollkommen ausgeschlossen halte, Herr Rittmeister!« Valerian zuckte mit den Schultern. »Wir sind den schnellsten Weg im Galopp geritten, und selbst wenn dieser Müllersbursche Schmalens«, Augusta funkelte ihren Bruder wütend an, während Tanno angesichts der Herablassung, mit der sein Sohn seinen Freund aus Jugendtagen bedachte, die Brauen hob, »hätte fliegen können, hätte er es kaum vor uns dorthin schaffen können.« Bevor der Rittmeister etwas erwidern konnte, sprach Valerian weiter: »Ich bin sicher, dass er vor Angst einfach davongerannt ist und sich irgendwo im Wald versteckt hält. Außerdem ist das letztlich unwichtig.« Valerian hob die Schultern. »Wir haben alle nötigen Schritte unternommen, um zu verhindern, dass diese Spione an Pferde kommen.«
Hoffe ich jedenfalls! Er warf seiner Schwester einen kurzen Seitenblick zu, aber Augusta achtete nicht auf ihn. Sie starrte nur den Rittmeister an, und ihr Blick verriet tiefsten Ekel. Ich kann es dir nicht verdenken, Schwesterherz, aber wenn alles gut geht, wirst du dies hier bald hinter dir haben. Hauptsache, du machst jetzt keine Dummheiten!
»Schön, aber damit haben wir sie immer noch nicht in unserer Gewalt!« Der Rittmeister schien sich ein wenig beruhigt zu haben. »Und ich muss Euch widersprechen, von Villesen! Es könnte sehr wohl einen Unterschied machen, ob dieser Müllersbursche die Spione anführt oder nicht. Immerhin kennt er sich hier aus …«
»Das schon, aber …« Valerian biss sich fast auf die Zunge. Wir sind Freunde und haben die Gegend gemeinsam erkundet, hätte er fast gesagt. »… ich kenne die Gegend genauso gut wie er, wenn nicht besser, und ich weiß vor allem auch, welchen Weg diese Leute nehmen müssen, wenn sie nach Stade wollen. Wie gesagt, in der Nacht kommen sie nicht weit, weil das viel zu gefährlich ist. Auf der Straße laufen sie Gefahr, von Abteilungen der Ligistischen angehalten zu werden, nachdem Eure Leute Verden und auch Nienburg eingenommen haben, und im Wald … Sie wären nicht die Ersten, die auf Nimmerwiedersehen im Moor versinken.«
Von Straaten trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Handgriff seines Degens. »Ja, sicher, Ihr wiederholt Euch.« Er seufzte. »Also gut, von Villesen. Ich vertraue Euch.« Er hob die Hand und deutete mit ausgestrecktem Finger auf Valerian. Diese Geste machte aus seinen Worten fast eine Drohung. »Wir werden den Rest dieser Nacht ruhen und morgen früh bei Tagesanbruch aufbrechen. Vorausgesetzt, diese Spione wurden nicht bei dem Versuch erwischt, sich Pferde zu beschaffen …«
Valerian sah wieder zu Augusta hinüber, die seinen Blick diesmal erwiderte und eine Braue hob. Was denn? Ich bin unschuldig, sollte das wohl heißen. Für Valerian war das allerdings genauso gut wie ein Eingeständnis ihrer Schuld.
Mach keinen Fehler, Schwester! Du kannst ihm nicht länger helfen!, signalisierte er ihr mit einem durchdringenden Blick.
Augusta reagierte nicht darauf, sondern wandte sich zum Gehen.
»Wo wollt Ihr hin, Mademoiselle?«
»Ich wüsste nicht, was Euch das angeht, Rittmeister.«
Valerian schloss die Augen. O nein, nicht jetzt, Augusta!, dachte er. Das ist ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt, deinen Dickkopf durchzusetzen.
Der Rittmeister grinste bösartig. »Alles, was hier auf diesem Schloss passiert, geht mich etwas an, Fräulein von Villesen! Und alles, was auf diesem Schloss passiert, geschieht von jetzt an nur noch mit meiner Zustimmung!«
»Tatsächlich?« Augusta fuhr zu ihm herum. »Soll das etwa heißen, dass Ihr mir beim Auskleiden und Zubettgehen behilflich sein wollt?« Sie wedelte mit der Hand. »Danke, aber dafür habe ich eine Zofe, die sich dabei weit geschickter und rücksichtsvoller anstellen dürfte als Ihr.«
Der Rittmeister senkte den Kopf. »Schwört bei Gott, dass Ihr Eure Gemächer nicht verlasst! Ihr könnt mir danken, dass ich so nachsichtig mit Euch bin. Immerhin tragt Ihr die Schuld daran, dass dieser Bauernlümmel entkommen ist!«
»Ach, Ihr glaubt tatsächlich an Gott?« Augusta lächelte unschuldig.
Ihre Frage schien den Mann zu überrumpeln. »Ja … gewiss, selbstverständlich! Wieso fragt Ihr?«
»Wenn das wirklich stimmt, Herr von Straaten, dann bedaure ich Euch zutiefst. Es muss schrecklich sein, in solcher Furcht vor dem Jüngsten Gericht zu leben, bei dem Ihr Euch für Eure Taten werdet verantworten müssen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und die katholische Kirche hat den Ablasshandel ja mittlerweile verboten.«
»Macht Euch keine Sorge um meine Seele, Fräulein von Villesen!« Der Rittmeister spie die Worte regelrecht aus. »Was ich tue, tue ich im Namen Seiner Kaiserlichen Majestät und der Heiligen Katholischen Kirche.« Er schüttelte den Kopf. »Für mein Seelenheil ist gesorgt.«
»Vorausgesetzt, Ihr habt überhaupt eine Seele!«
»Augusta!« Valerian machte einen Schritt auf seine Schwester zu.
»Das genügt!« Tanno von Villesen erhob sich aus seinem gepolsterten Armstuhl. »Du entschuldigst dich auf der Stelle bei dem Herrn Rittmeister und gehst dann augenblicklich auf deine Gemächer!«
Von Straaten stand da und starrte Augusta an. Seine Blicke schienen sie zu durchbohren, aber sie schaffte es, ihn anzulächeln, während sie vor ihm einen Knicks machte.
»Das war ohnehin meine Absicht, Vater. Und ich muss mich tatsächlich entschuldigen, Herr von Straaten. Ich habe mich geirrt. Natürlich habt Ihr eine Seele.« Sie machte eine winzige Pause und hob eine Braue. »Ihr habt nur kein Herz.«
»Wartet!« Eik hob die Hand und lauschte. Der beißende Brandgeruch direkt neben der Ruine der Herberge schnürte ihm fast die Kehle zu, aber er ließ auch hoffen, dass sich niemand freiwillig hier aufhielt. Sie hatten auch keine Wachen gesehen, als sie sich der großen Scheune hinter dem Haus näherten. Eik beugte sich vor, hörte jedoch nur seine eigenen angestrengten Atemzüge und das leise Keuchen des Hauptmanns, der direkt hinter ihm stand.
Entweder hat Augusta gelogen, oder der Freiherr hat die Pferde schon wieder abgeholt. Oder die Dragoner haben sie gefunden und requiriert!
Bevor Eik seine Bedenken äußern konnte, meldete sich der Franzose zu Wort. »Ich habe doch gleich gesagt, dass man diesem Bauernlümmel keinen Glauben schenken darf!«
Chevalier Ducroix hegte ebenfalls Zweifel an Eiks Idee, die er allerdings drastischer formulierte, als sie der junge Müllerssohn nur für sich in Gedanken sprach. Dem Mann des Kardinals war der ganze Plan von Anfang an suspekt gewesen.
»Es stand Euch jederzeit frei, eine bessere Idee zu äußern, Monsieur.« Das war die Jüdin, Leona. Eik grinste trotz seiner Anspannung, als sie weitersprach. »Abgesehen von ständigen Beschwerden wegen Eurer empfindlichen Füße und barbarischen Drohungen gegen diesen Jungen und alle Welt habe ich nichts aus Eurem Mund gehört, was der Erwähnung …«
»Leona!«
Junge? Eik runzelte die Stirn.
»Schluss jetzt.«
De Vries. Damit hat jetzt wohl jeder seine Meinung geäußert. »Leise.« Eik beugte sich vor, dann hörte er es. Da sind sie. Erleichterung durchströmte ihn. Sie hat also nicht gelogen. Er dachte nicht darüber nach, warum es ihm so wichtig war, dass er sich in Augusta nicht getäuscht hatte. Ging es ihm wirklich nur darum, dass ihre Flucht gelang?
Er drehte sich um, aber er brauchte nichts zu sagen, denn Hauptmann de Vries hatte das leise Schnauben der Pferde ebenfalls gehört. Er nickte Eik zu und drehte sich dann zu den anderen herum. Doch bevor er etwas sagen konnte, überlagerte plötzlich der unverkennbare Gestank von glimmender Lunte den Brandgeruch.
»Wer ist da?«
Eik erstarrte. De Vries griff zum Degen, und der Chevalier zückte sein Rapier.
»Verschwindet, ihr Gesindel! Hier gibt’s nichts zu holen außer einer Bleikugel!«
Eik atmete erleichtert auf. Die Stimme kannte er. Sie gehörte dem alten Hufner.
»Keine Sorge«, sagte er und hob beschwichtigend die Hand. »Das ist der Schmied.« Mit erhobener Stimme fuhr er fort: »Hufner? Ich bin’s, der junge Schmalens.«
»Eik?« Die Stimme kam näher, und dann erkannte Eik in dem dämmrigen Stallgebäude auch die Gestalt des Alten. »Bist du das, mein Junge?«
»Ja. Gibt es irgendwo …?«
Bevor er die Frage nach Licht zu Ende aussprechen konnte, glomm ein gelblicher Schein vor ihm auf. Im Lichtkegel erkannte er das faltige Gesicht des ehemaligen Schmiedes von Bruchhausen, der eine Steinschlosspistole im Anschlag hielt. Doch nicht das war es, das seinen Blick fesselte, sondern die dunklen Umrisse von Pferdeleibern am anderen Ende des großen Stalls.
»Sagt diesem senilen Idioten, er soll seine Waffe weglegen, bevor er sich noch selbst damit ins Bein schießt! Oder ich die Geduld verliere und …«
»Hast du nicht gehört, was mein Vater gesagt hat, Franzmann?«, fiel eine energische Stimme dem Chevalier ins Wort. »Noch ein Schritt, und ich brenne dir ein Loch in den Pelz!«
Eik fuhr herum. Unbemerkt hatte sich ihnen eine weitere Gestalt genähert und bedrohte sie mit zwei Pistolen.
Das muss einer der Söhne des alten Hufners sein, dachte er. Und ich dachte, sie wären in Verden!
»Steckt Euer Rapier weg, Ducroix«, befahl der Hauptmann auf Französisch. »Auf diese Entfernung würde uns selbst ein Blinder treffen.« Er selbst schob seinen Degen in die Scheide und sah dann Eik fragend an.
Der hob die Hände und trat in den Lichtkegel der Laterne, die der alte Hufner hielt. »Ich bin unbewaffnet, Hufner«, sagte Eik. »Und wir wollen Euch nichts Böses.«
»Tatsächlich?« So gebrechlich der alte Mann auch wirkte, die Laterne und die Pistole in seiner Hand waren vollkommen ruhig. »Und was ist das da an deiner Hüfte? Ein Tafelmesser?«
Eik hatte seinen Pallasch vollkommen vergessen. Der Hauptmann hatte ihm die Waffe zurückgegeben, bevor sie sich der Ruine genähert hatten. »Ich hoffe, ich werde das nicht noch bereuen«, hatte er gesagt.
Bevor Eik dem Alten etwas erklären konnte, redete der weiter: »Und wenn ihr nichts Böses wollt, wieso schleicht ihr euch dann mitten in der Nacht bis an die Zähne bewaffnet in meine Scheune?«
»Das sind die, wegen denen diese ligistischen Schweine die Herberge niedergebrannt haben!«, erklärte der Sohn. Eberhard, dachte Eik. Das muss Eberhard sein, der Ältere. Unwillkürlich sah er sich in dem Dämmerlicht um. Dann grinste er, als er über ihnen auf der Tenne einen matten Glanz sah, den Lauf einer Arkebuse. Und das ist Gerulf, sein zweiter Sohn. Entweder haben sie auf uns gewartet, oder sie haben hier Wache gehalten, weil sie damit gerechnet haben, dass einer der Dragoner auf die Idee kommen könnte, sich in diesem Stall nach irgendetwas Brauchbarem umzusehen.
Sein Respekt vor den Schmieden wuchs, denn keiner von ihrer kleinen Gruppe hatte die Männer gehört oder gesehen, als sie sich in den Stall geschlichen hatten.
»Tatsächlich?« Die Stimme bestätigte Eik, dass es sich bei dem Mann auf der Tenne um den jüngeren der Hufner-Söhne handelte. »Was machst du denn bei denen, Eik?«
Das ist eine gute Frage, dachte Eik, doch laut sagte er: »Ich helfe ihnen, damit der Tod meiner Eltern nicht völlig sinnlos gewesen ist.« Er hatte über seine Antwort nicht lange nachgedacht, und als er die Worte hörte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass sie der Wahrheit entsprachen.
Der alte Hufner lachte. Es war ein unschönes Geräusch. »Und wer sagt, dass sie uns und dich nicht einfach massakrieren, wenn sie deine Hilfe nicht mehr benötigen?«
Eik sah den Hauptmann an. Der erwiderte seinen Blick vollkommen regungslos, als wäre ihm klar, dass nichts, was er sagte, eine befriedigende Antwort auf diese Frage geben könnte. Aus irgendeinem Grund beruhigte Eik das.
»Niemand«, erwiderte er. Sein Blick glitt zu der jungen Frau. »Doch ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen.«
»Aber wir vielleicht nicht«, meldete sich erneut Gerulf Hufner, der immer noch auf der Tenne lag und mit einer Arkebuse auf die kleine Gruppe unter sich zielte.
»Also was wollt ihr hier?« Der alte Hufner verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, und zum ersten Mal bemerkte Eik, dass es den Mann offenbar anstrengte, die ganze Zeit die Laterne und die Pistole zu halten.
»Die Pferde natürlich, das ist doch klar, Vater!« Eberhard Hufner trat vorsichtig um die kleine Gruppe herum, die Pistole nach wie vor im Anschlag. »Ich frage mich allerdings, woher ihr wusstet, dass der alte Villesen seine Kutschpferde hier versteckt …« Sein Blick fiel auf Eik, und er grinste. »Natürlich.«
»Natürlich was?«, fragte Eik gereizt.
»Ein kleines Vögelchen hat es dir ins Ohr gezwitschert, stimmt’s?«
Eik hoffte, dass in dem dämmrigen Licht niemand sah, wie er errötete. Es ärgerte ihn, dass ihm so schnell das Blut in die Wangen stieg, aber damit musste er wohl leben. »Du hast nicht das Recht …«
»Du solltest dich besser hüten, von Recht zu sprechen, nachdem du wie ein Spitzbube in unseren Stall eingedrungen bist!«, knurrte der alte Schmied.
»Du meinst die junge Villesen?«, erkundigte sich Gerulf bei seinem älteren Bruder und lachte leise. »Ein raffiniertes Biest. Sie verrät Eik, wo ihr Vater die Kutschpferde vor den Dragonern in Sicherheit gebracht hat, in der Hoffnung, dass er sie stiehlt und so ihre Reise nach Frankreich und ihre ungewollte Hochzeit ins Wasser fällt.« Er sah zu Eik hinunter. »Hat sie dir vielleicht auch versprochen, dich dafür in ihr Bett zu lassen?«
Eik wurde wütend. »Sie hat nichts dergleichen …!«
»Selbst wenn ihr die Pferde stehlen könntet, wie wollt ihr sie reiten?« Der alte Hufner warf seinem jüngsten Sohn einen missbilligenden Blick zu, bevor er sich an Eik wandte. »Ich sehe keine Sättel oder Zaumzeug bei euch.« Er kniff ein Auge zusammen. »Außerdem seid ihr zu fünft, und da stehen nur vier von diesen Kutschgäulen.«
»Wir wollten euch ja nicht bestehlen«, erwiderte Eik, der es für sicherer hielt, nicht weiter mit Gerulf über das Thema Augusta von Villesen zu debattieren. Zumal er die Blicke der jungen Jüdin in seinem Rücken spürte. Und ganz sicher auch die des Chevaliers, dachte er.
»Ach nein?« Der Alte lachte wieder. »Und wenn morgen, nachdem die Dragoner abgerückt sind, um deine neuen Freunde zu jagen, der Freiherr seinen Stallmeister schickt, damit der seine Gäule holt, wen wird er wohl für deren Verschwinden verantwortlich machen, he?«
»Ihr habt gesehen, zu welchen Gräueltaten die Ligistischen fähig sind, guter Mann«, mischte sich der Hauptmann ein und trat einen Schritt vor in den Lichtkreis der Laterne. »Wollt Ihr wirklich zulassen, dass das immer so weitergeht? Wir haben einen wichtigen Auftrag …«
»Ich habe allerdings gesehen, wozu diese Schweine fähig sind, und ich habe sehr wohl gehört, wozu Eure Leute fähig sind, Söldner!«, fiel der alte Hufner ihm ins Wort. »Und ich habe keine Lust zu riskieren, dass mir mein Haus über dem Kopf angezündet wird, womöglich noch mit mir drin, ganz gleich, ob Kaiserliche oder Protestanten die Fackel ans Reet halten!«
Eiks Gedanken überschlugen sich. »Sie werden nicht erfahren, dass ihr uns Pferde, Sättel und Zaumzeug gegeben habt!«, platzte er dann heraus. »Denn sie wissen ja nicht, dass der Freiherr seine Kutschpferde zum Beschlagen zu euch gebracht hat.«
Der alte Hufner kniff die Augen zusammen, und Gerulf lachte leise. »Zwitschert das Vögelchen.«
»Falls dieser Rittmeister jedoch herausfindet, dass die Pferde des Freiherrn hier versteckt waren, dürfte euer aller Leben keinen Pfifferling mehr wert sein!«, erklärte der Hauptmann. »Ihr habt ja miterlebt, was er mit den unschuldigen Eltern dieses tapferen Burschen hier gemacht hat, nur aufgrund eines vagen Verdachts.«
Tapferer Bursche? Eik zwang sich dazu, dem Mann keinen Blick zuzuwerfen.
»Er hat recht! Ich habe euch doch gleich gesagt, es war eine dumme Idee, auf dieses Angebot einzugehen!«, mischte sich Eberhard ein. Er sah Eik an. »Wahrscheinlich wird dieser Mordbrenner gerade die ganze Familie verhören, und ich glaube kaum, dass die junge von Villesen diesem Kerl allzu lange standhält, wenn er ihr erst mal die Daumenschrauben anlegt.« Er deutete auf die kleine Gruppe. »Und wenn sie bei den Ligistischen genauso redselig ist wie bei ihm hier …«
»Was schlägst du also vor, Bruder?«
Eik nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie sich Gerulf auf der Tenne bereit machte zu feuern.
»Wir könnten sie umbringen und hoffen, dass der Rittmeister uns dafür belohnt, dass wir ihm seine Spione vom Hals geschafft haben«, meinte Gerulf. »Ich glaube kaum, dass er uns dann noch bestrafen wird, weil wir die Pferde des Freiherrn versteckt haben.«
»Das wäre eine Möglichkeit«, erklärte Eberhard und hob seine Pistolen. »Oder aber wir entwaffnen und fesseln sie und übergeben sie dem Rittmeister.«
»Damit wärt ihr genau solche Mordbuben wie die, die ihr eben noch zu Recht verurteilt habt.« Leona de Lemos schob sich an ihrem Vater und dem Hauptmann vorbei und trat neben Eik. Sie schlug die Kapuze ihres Umhangs zurück, und Eik hörte, wie die beiden Brüder überrascht Luft holten, als die rote Mähne der jungen Frau im Licht der Laterne schimmerte. »Schlimmer noch, ihr würdet diesen Männern ihre schmutzige Arbeit abnehmen und sogar einen vollkommen Unschuldigen opfern, nur auf die ungewisse Hoffnung hin, dass sich dieses Vieh von einem Söldner dankbar zeigt.« Sie schüttelte den Kopf. »Seit Antwerpen jagt er uns, und ihr dürft mir glauben, dass ich mich lieber von euch erschießen lassen würde, als zuzulassen, dass er mich lebend in seine schmutzigen Finger bekommt.«
»Aber wir haben keine andere Wahl«, erklärte der alte Hufner, der sich als Erster von der Überraschung erholte, dass eine Frau bei diesen sogenannten Spionen war. »Leute wie wir haben nie eine Wahl. Wir sind immer diejenigen, die bezahlen müssen.«
Bevor Leona weiterreden konnte, mischte sich Eik ein. »Diesmal nicht. Wenn die Pferde weg sind, gibt es hier nichts, das euch mit uns in Verbindung bringt.«
»Aber der Freiherr …«
»Der Freiherr wird sich hüten, dem Rittmeister gegenüber zuzugeben, dass er die Kutschpferde vor ihm verstecken wollte. Und wenn der Rittmeister weg ist und der Freiherr seine Pferde wiederhaben will, könnt ihr behaupten, dass ihr von uns überwältigt wurdet.«
Von der Tenne ertönte ein leises Lachen. »Gewiss, wir können sagen, dass uns deine Kühnheit und Gerissenheit vollkommen übertölpelt haben.«
Der alte Hufner schwieg, aber Eberhard nickte. »Auf jeden Fall habe ich nicht vor, dich diesem Halunken auszuliefern«, sagte er an Eik gewandt. Seine Stimme klang belegt, als er weitersprach. »Wir alle haben gesehen, was er mit deinen Eltern gemacht hat!«
Eik schnürte sich die Kehle zusammen.
»Und wenn er merkt, dass sie auf den Kutschpferden des Freiherrn entkommen sind?«, wollte Gerulf Hufner wissen.
»Dann macht er entweder den Freiherrn dafür verantwortlich, oder aber er kommt hierher, um Vergeltung zu üben.«
»Ganz genau.« Das war Eberhard.
»Nur dass wir dann nicht mehr hier sind.« Gerulf klang selbstsicher.
Zum ersten Mal schöpfte Eik Hoffnung. Vielleicht geht die Sache doch noch gut aus. Er sah zu Leona. Das war klug von ihr.
Die junge Frau bemerkte seinen Blick und lächelte.
Eik nickte ihr zu und erwiderte ihr Lächeln.
»Und wo wollen wir hin?« Das war der alte Hufner.
»Wir fahren zurück nach Verden«, schlug Eberhard vor. »In der Schmiede dort haben wir viel Arbeit, und für uns ist es gleich, ob das Pferd, das wir beschlagen, einem Ligistischen oder einem Unionisten gehört. Hufschmiede werden gebraucht, und wir werden dich jetzt ganz sicher nicht allein hier zurücklassen.«
»Du meinst, wir schenken diesen Dieben einfach diese vier prachtvollen Kutschpferde samt Sätteln und Zaumzeug?« Gerulf Hufner richtete sich auf der Tenne auf und ließ die Arkebuse sinken. »Das ist nicht dein Ernst.«
»Natürlich nicht.« Eberhard grinste und deutete auf den alten Mann und den Franzosen. »Ich bin sicher, dass die beiden da mehr als genug Silber bei sich haben, um uns für unsere Großzügigkeit angemessen zu entschädigen.«