19. KAPITEL
Heimkehr
Eik hob den Kopf, als die Zeltplane zurückgeschlagen wurde. Bossel, der neben ihm saß und nervös mit einem Messer ein Stück Holz zu Spänen schnitzte, sprang auf, noch bevor die Person ins Innere des Zeltes getreten war.
»Junger Herr!« Die Erleichterung in Bossels Stimme war nicht zu überhören.
Eik starrte den Lieutenant mit blutunterlaufenen Augen an. Mein Bruder!, dachte er. Der Mann, der zugesehen hat, wie meine Eltern ermordet wurden, und der mich gerettet hat! Der Gedanke löste weder Erleichterung noch Wut in ihm aus. Mit dem Beginn der Kanonade und dem Befehl zum Angriff hatte sich alle Hoffnung in ihm verflüchtigt, dass sich seine Lage noch zum Guten wenden könnte, obwohl Valerian ihn verschont und vor dem Schicksal bewahrt hatte, aufgeknüpft zu werden wie die drei anderen Dragoner, die ihn auf dieser Unternehmung begleitet hatten. Ein völlig sinnloses Abenteuer, dachte Eik. Aber hinterher war man immer klüger. Während der langen Stunden, die er gefesselt und machtlos mit dem ehemaligen Burghauptmann von Schloss Villesen in Valerians Zelt verbracht hatte, war ihm das klar geworden. Wenn überhaupt, hatte er gedacht, hat unser Versuch, Tilly umzubringen oder herauszufinden, was die Kaiserlichen planen, den General nur noch in seiner Entscheidung bestärkt, Magdeburg anzugreifen.
Trotzdem, als er Valerian nun ansah, glomm so etwas wie Hoffnung in ihm auf. Das Gesicht seines Bruders – ein seltsamer Gedanke, an den ich mich noch gewöhnen muss! – war voller Blut und Dreck, seine Kleidung rußverschmiert, aber Eik erkannte in seinen Zügen eine Entschlossenheit, die er bei ihren letzten Begegnungen nicht darin gesehen hatte. Diese Entschlossenheit wurde nicht von Feindseligkeit gespeist, jedenfalls kam Eik das so vor. Er ist nicht gekommen, um mir mein Todesurteil zu überbringen!
»Wie steht die Schlacht, junger Herr?« Bossel konnte seine Erregung nur mit Mühe im Zaum halten. Eik hatte während der Zeit des Wartens deutlich bemerkt, dass es den Burghauptmann kaum auf seinem Posten hielt. Hätte Valerian ihm nicht eingeschärft, dass niemand Eik zu sehen bekommen dürfte, weil das ihn, Valerian, den Kopf kosten würde, hätte der Burghauptmann Eik zweifellos einfach nur verschnürt im Zelt liegen lassen und wäre hinter seinem Lieutenant hergelaufen, um ihn in dem Hauen und Stechen in der umkämpften Stadt zu beschützen.
Oder, was wahrscheinlicher ist, sagte sich Eik, um selbst zu plündern, sollte der Sturmangriff von Erfolg gekrönt sein.
Und das war er, jedenfalls nach dem Jubel der wenigen zu urteilen, die im Lager zurückgeblieben waren, weil sie nicht laufen konnten. Die gesamte Armee Tillys, dazu Tross und Marketender, war den Pappenheimern gefolgt, nachdem die Kanonade aufgehört hatte. Bossel hatte den Kopf aus dem Zelt gesteckt und Eik berichtet, was er sah, obgleich das aus dieser Entfernung nicht allzu viel war.
Als Eik jetzt Valerian anblickte, wich sein Optimismus einer düsteren Vorahnung.
»Tilly hat gesiegt«, sagte Valerian, ohne einen der beiden anzusehen. »Falls man das so nennen kann!«
»Das ist ja großartig!« Bossel rang die Hände. »Und was ist mit der Beute?«
»Tilly hat die Stadt zur Plünderung freigegeben.« Valerian blickte seinen Burschen immer noch nicht an. »Du kannst dir ein Pferd nehmen und hinreiten, wenn du willst, und dich an dem Gemetzel beteiligen!« Endlich wendete er den Kopf und musterte Bossel von Kopf bis Fuß. »Wenn du dich beeilst, kommst du vielleicht noch rechtzeitig, um eine Frau oder ein minderjähriges Mädchen zu vergewaltigen, einem Mann die Augen auszustechen und ein paar Kinder abzuschlachten. Und möglicherweise findest du auch noch etwas, das sich zu plündern lohnt.«
Aber Bossel hatte offenbar gar nicht zugehört, denn er fragte: »Und Ihr seid sicher, dass der hier Euch keine Schwierigkeiten macht?«
Valerian grinste müde und legte eine Hand auf die Pistole in seinem Gürtel. »Wohl kaum, Bossel. Geh nur!«
Er wartete, bis sein Bursche seine Waffen gepackt und das Zelt verlassen hatte, dann drehte er sich zu Eik herum. »Und was mache ich jetzt mit dir, Bruder?«
»Hast du …« … Augusta gesehen?, hatte Eik fragen wollen, doch im letzten Moment verbesserte er sich. »Weißt du, ob Leona und ihr Vater aus der Stadt entkommen sind?«
Valerian seufzte und ließ sich auf den Hocker fallen, auf dem zuvor Bossel gesessen und Eik bewacht hatte. »Ich weiß es nicht.« Seine Stimme klang resigniert und müde. »Und ich weiß auch nicht, ob unsere Schwester …«, bei diesen Worten warf er Eik einen kurzen Blick zu und sah, wie der zusammenzuckte, »meinem Rat gefolgt ist und Magdeburg rechtzeitig verlassen hat. Ich würde ja beten, dass sie es geschafft haben, wenn ich glauben könnte, dass sich Gott noch für unsere Gebete interessiert.«
»Du zweifelst an seinem Ratschluss?«, fragte Eik überrascht und hätte fast hinzugefügt: So wie ich auch?
Valerian fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, und verschmierte Blut, Ruß und Schweiß darauf zu einer schmierigen Masse. »Das würdest du auch, hättest du gesehen, was ich gesehen habe.« Er hob den Kopf. »Und vielleicht wirst du das auch noch.«
»Was meinst du damit?«
Valerian stand auf und zückte seinen Dolch.
Eik kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und schluckte. Habe ich mich etwa in ihm getäuscht? Kommt jetzt seine Rache für meine Verfehlung Augusta gegenüber? Oder will er den günstigen Moment nutzen und den missliebigen Bastard-Bruder für immer aus der Welt schaffen? Im nächsten Moment wurde ihm klar, wie absurd dieser Gedanke war. Hätte Valerian das gewollt, hätte er einfach nur zulassen müssen, dass man ihn hängte, nachdem sie ihn im Lager erwischt hatten.
»Ich meine, dass du dir selbst ein Bild davon machen solltest, was wir tun und wofür wir kämpfen!« Valerian trat hinter seinen Bruder und durchtrennte mit mehreren schnellen Schnitten die Stricke, mit denen Eik gefesselt gewesen war. »Vielleicht kommst du dann zu demselben Schluss wie ich, Bruder!« Das letzte Wort betonte er mit Nachdruck.
Eik rieb sich Gefühl in die durch die Fesseln aufgequollenen Hände, und auch als Valerian seine Fußfesseln durchschnitt, blieb Eik noch einen Moment auf dem Hocker sitzen.
»Nimm dir ein Pferd, wenn du eins findest, und reite nach Magdeburg«, sagte Valerian währenddessen. »Sieh dir an, was dort passiert, und triff deine eigene Entscheidung. Und dann suche Leona und ihren Vater. Oder Augusta!« Er hob den Blick und starrte Eik an. »Ich glaube nicht, dass sie noch dort sind, aber ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht finden können, und ich habe bis jetzt auch nichts von ihnen gehört.« Er wandte sich ab, kehrte Eik den Rücken zu und begann, seine Jacke aufzuknöpfen. »Überlassen wir es Gottes unerfindlichem Ratschluss, wie du so schön gesagt hast, ob wir uns alle wiedersehen. Und jetzt geh, Bruder.«
Valerian drehte sich nicht um, während Eik mit stockenden Schritten seine Sachen aufsammelte, Harnisch, Stoßdegen, Pistole und Helm, und zur Zeltöffnung ging.
»Ich …«
»Geh!«
Noch ein letztes Mal blickte Eik auf Valerians Gestalt. Sein Bruder stand mit gesenktem Kopf da, und Eik hatte den Eindruck, als würden seine Schultern unter der Jacke zittern.
Danke, Bruder, dachte er und trat vor das Zelt. Er orientierte sich kurz, weil er in der Dunkelheit der Nacht nicht genau gesehen hatte, wohin man ihn gebracht hatte. Dann setzte er sich in Bewegung und gelangte nach ein paar Schritten an die Ecke der Zeltreihe, wo in einer mit Seilen abgetrennten Koppel zwei müde wirkende Mähren standen. Er sah sich suchend um und fand Zaumzeug und eine Decke, aber keinen Sattel.
Das muss genügen, dachte er, jedenfalls fürs Erste. Er legte der Stute, die etwas lebhafter wirkte, das Zaumzeug an und warf ihr die Decke über. Dann stellte er sich auf einen Holzklotz und schwang sich auf den Rücken des Tiers.
Er war kaum hundert Schritt geritten, als ihn plötzlich ein eisiger Stich durchzuckte und er wie erstarrt innehielt.
Denn das Bild, das sich ihm bot, war entsetzlich.
Magdeburg stand in Flammen.
»Zum Dom! Zum Dom!«, schrien die Söldner und rannten johlend an Eik vorbei. »Wir räuchern sie aus!«
Eik blieb stehen und führte sein Pferd am Zügel ein Stück beiseite. Er zupfte an dem Tuch vor seinem Gesicht und rieb sich die brennenden Augen. Er war so müde, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Seit Stunden, so schien es ihm, lief er schon durch Magdeburg, ziellos und ohne Hoffnung.
Je weiter er sich der Stadt genähert hatte, desto größer war die schreckliche Gewissheit in ihm geworden, dass es keinen Sinn hatte, in diesem Schlachtfeld nach einer einzelnen Person zu suchen.
Und ihm war auch klar geworden, was Valerian gemeint hatte, als er sagte, Eik sollte sich selbst ein Bild davon machen, wofür sie kämpften. Hatte er zunächst noch ungläubig reagiert und sogar versucht einzuschreiten, wenn einer der vollkommen außer Rand und Band geratenen Söldner eine Frau vergewaltigte oder einen wehrlosen Mann oder ein Kind niedermetzelte, hatte er es schon bald aufgegeben, diesem grausigen Tun Einhalt gebieten zu wollen.
Es nahm kein Ende, und je weiter er in die brennende Stadt ging, desto schlimmer wurde es. Söldnern schlugen und verstümmelten wehrlose Bürger und lachten dabei wie Irre. Blutige Gestalten irrten umher, Männer, denen man Nase und Ohren abgeschnitten oder ihnen mit brennenden Holzscheiten die Augen ausgebrannt hatte. Greise waren offenbar aus den Fenstern höherer Stockwerke geworfen worden und lagen mit zerschmetterten Gliedern auf den Pflastersteinen. Frauen wurden ihre Kinder entrissen, die man vor ihren Augen erschlug, um dann über die vor Schmerz irrsinnig gewordenen Mütter herzufallen.
Eiks Schritte hatten ihn zunächst in die Straße getragen, in der sich das Haus befand, in dem Leona, ihr Vater und de Vries zusammen mit ihm gewohnt hatten. Es war nur noch eine ausgebrannte Ruine, und die Leichen, die darin und davor herumlagen, waren bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Eik meinte aber dennoch zu erkennen, dass es sich hauptsächlich um Söldner zu handeln schien, wenn auch einige Kinder darunter waren.
Dann war er ein paar Straßen weitergegangen, zum Lakenmachertor, wo Augusta und ihr Ehemann Quartier genommen hatten. Aber er war nicht einmal in die Nähe des Hauses gekommen, weil die Flammen und die Gluthitze nicht erlaubten, auch nur einen Schritt in die Gasse zu setzen. Wer auch immer dort war, ist hoffnungslos verloren, dachte er.
Eik sah sich um, aber so wie überall versuchte auch hier niemand, der Flammen Herr zu werden. Was auch völlig sinnlos gewesen wäre, denn der Wind wehte immer noch, und die Flammen fraßen sich gierig und ungehindert von Haus zu Haus, von Dachstuhl zu Dachstuhl.
Nur auf den größeren Straßen und Plätzen konnte sich Eik noch fortbewegen, und als die Söldner mit dem Ruf »Zum Dom, zum Dom!« an ihm vorbeirannten, schloss er sich ihnen, in Ermangelung eines anderen Zieles, an.
Sein Pferd schnaubte und wieherte, aber es wehrte sich nicht, als Eik es weiterzog. Die Hitze und die Funken, die vom Wind durch die Gassen getrieben wurden, setzten dem Tier zweifellos genauso zu wie Eik. Er hatte versucht, ihm ein Tuch über den Kopf zu binden, aber daraufhin war das Pferd fast durchgegangen, also hatte Eik es bleiben lassen.
Er erreichte den Domplatz und blieb stehen. Eine große Menge Soldateska hatte sich auf dem Platz versammelt, wurde aber von einer Reihe von Pikenieren der Tillyschen aufgehalten. Als Eik genauer hinsah, bemerkte er, dass dahinter noch andere Soldaten damit beschäftigt waren, einige kleine Feuerherde zu löschen, die an den Fundamenten und Fenstern des Doms züngelten.
Tilly will den Dom retten? Eik war zunächst verblüfft, dann erinnerte er sich, dass der Oberbefehlshaber der Kaiserlichen als strenggläubiger Mann galt. Doch ihm fielen sogleich wieder die Gräueltaten ein, derer er Zeuge geworden war, und dachte: Kaum zu glauben, dass derselbe Mann, der zulässt, dass sich seine Söldner wie Tiere an der Bevölkerung Magdeburgs vergehen, verhindern will, dass sie den Dom und seine Schätze plündern.
Eine Gruppe von Kürassieren ritt aus einer Seitenstraße zum Dom. Es wurden immer mehr, und schon bald war klar, dass dies nicht einfach nur eine Abteilung von Reitern war, sondern eine Eskorte, die eine wichtige Person begleitete.
Die Reiter strömten auf den Platz und drängten die Pikeniere zur Seite. Die Männer hoben ihre Piken in die Luft, um die Reiter und Schaulustigen auf dem Platz nicht aufzuspießen, und schon bald drängten sich Söldner und Pikeniere in einer einzigen Masse zusammen, alle von den Geschehnissen gebannt, die sich vor den Stufen des Doms zutrugen.
Ein Mann auf einem prachtvollen Hengst ritt die Stufen hinauf, flankiert von mehreren Offizieren der Kürassiere.
Eik kniff die Augen zusammen. Kann das Tilly höchstpersönlich sein? Zwar hatte er den General der Kaiserlichen Armee noch nie gesehen, aber die Art und Weise, wie die anderen Offiziere ihn behandelten, ließ darauf schließen, dass es sich um den Heerführer der siegreichen Belagerungsarmee handelte. Neben ihm ritt ein anderer hoher Offizier, in dem Eik den General von Pappenheim erkannte.
Die beiden Männer stiegen ab und gingen die letzten Schritte bis zum Portal zu Fuß. Dann hämmerte Tilly mit irgendetwas an die mit Bronze verstärkten Türflügel. Als das Pochen über den Platz hallte, breitete sich plötzlich ein gespanntes Schweigen unter den Anwesenden aus.
»Hier spricht Generallieutenant Graf Tilly!« Eik wusste, dass der Mann schon über siebzig Jahre zählte, aber seine Stimme klang kräftig und war deutlich vernehmbar. »Wer auch immer da drin ist, er öffne das Portal! Ich sage das nur einmal! Danach befehle ich meinen Kanonieren, es mit Gewalt …«
Weiter kam er nicht. Ein Quietschen und Krachen ertönte, dann ein Knarren, was in der Stille deutlich zu hören war.
Eik hielt die Luft an, als die beiden Portale aufschwangen.
Eine dunkel gekleidete Gestalt trat heraus, der Domherr, wie Eik vermutete, und warf sich vor Tilly zu Boden. Er sagte etwas, aber Eik war zu weit entfernt, um es verstehen zu können. Jedenfalls schienen es die richtigen Worte gewesen zu sein, denn General Graf Tilly bückte sich, half dem am Boden liegenden Mann auf die Beine, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte etwas zu ihm.
Der Priester nickte und machte das Segenszeichen über Tillys Kopf, als der ihn senkte. Dann drehte er sich zu dem offenen Portal herum und winkte jemandem, den Eik nicht erkennen konnte. Gleichzeitig trat Tilly ein paar Schritte vor, vom Dom weg, auf die Zuschauer zu, und breitete die Arme aus.
»Ich habe den Menschen, die hier im Dom Zuflucht gesucht haben, Pardon gewährt!«, rief er. »Ich erwarte, dass jeder Offizier und jeder Söldner meinem Befehl Folge leistet. Wer sich an diesen Menschen vergeht, verstößt gegen meinen ausdrücklichen Befehl und wird entsprechend bestraft!«
Er wartete einen Moment, bis die Menge seine Worte aufgenommen hatte, dann drehte er sich um, ging zu seinem Pferd und ließ sich von einem Ordonnanzoffizier in den Sattel helfen. Von Pappenheim folgte seinem Beispiel und gab einem seiner Offiziere ein Zeichen. Daraufhin bildeten die Kürassiere, die Tilly und von Pappenheim eskortiert hatten, eine Gasse.
Eik schnappte nach Luft, als er sah, was dann geschah. Menschen strömten aus dem offenen Portal. Zerlumpte Gestalten, Männer, zumeist jedoch Frauen, Kinder und Alte.
Ein Gedanke durchzuckte ihn, und er versuchte, sich durch die Menge zu drängen. Die Söldner fluchten, als er sie zur Seite schob, und nach ein paar Schritten musste er die Zügel loslassen, weil er mit dem Pferd in dem Gewühl nicht weiterkam. Er ließ die Mähre einfach stehen und drängte sich immer rücksichtsloser durch die Menge, bis er schließlich die Stufen vor dem Dom erreichte. Hinter der Reihe der Kürassiere blieb er stehen und verrenkte sich fast den Hals, um die Leute sehen zu können, die aus dem Dom kamen.
Leona war nicht dabei. Und Augusta ebenso wenig. Er hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als er plötzlich aufschrie.
»Lasst mich durch!«, schrie er die Kürassiere vor sich an und versuchte, sich zwischen den Pferden hindurchzudrängen. »Ich kenne den Alten! Lasst mich zu ihm!«
Die Reiter versuchten ihn zurückzuhalten, aber die Erregung verlieh Eik ungeahnte Kraft. Er stieß die beiden Pferde zur Seite und sprang durch die Lücke, die sich zwischen ihnen auftat. Ohne auf die wütenden Schreie zu achten, die ihm folgten, bahnte er sich den Weg durch die wankenden und fassungslosen Gestalten, die aus dem schützenden Dom in das lodernde Inferno der Stadt traten, auf einen alten, gebeugten Mann zu, der mit gesenktem Kopf und scheinbar ohne auf das Entsetzen um ihn herum zu achten, die Stufen hinunterhumpelte.
»De Lemos! Gabriel de Lemos!«, schrie Eik.
Der Mann blieb kurz stehen, als er seinen Namen hörte, schüttelte dann jedoch den Kopf und machte Anstalten weiterzugehen.
»Ich bin es, de Lemos! Eik, Eik Schmalens! Wo ist Leona?«
Der jüdische Bankier hatte noch zwei Schritte gemacht, aber bei Eiks Namen war er stehen geblieben, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen. Und als Eik den Namen seiner Tochter schrie, fuhr der Alte herum.
Eik hatte ihn fast erreicht und wollte schon die Hand nach ihm ausstrecken, aber als er das Gesicht des Mannes sah, zuckte er entsetzt zurück. Es war schmutzig und verzerrt, ein Auge war zugeschwollen und blutig, und aus Mund und Nase sickerte Blut. Aber nicht das war es, was Eik bestürzte. Sondern der Blick des gesunden Auges, der sich auf ihn richtete. Wie ein Brandeisen schien sich dieser Blick in seinen Körper zu bohren. Noch nie in seinem Leben hatte Eik solch glühenden Hass auf einem menschlichen Antlitz gesehen.
»Du!« Die Stimme des Alten klang heiser und zittrig, aber die abgrundtiefe Wut und das Entsetzen waren selbst aus dieser einen Silbe überdeutlich herauszuhören. »Du Mörder! Du Hund! Du ehrloser Schuft wagst es, auch nur ihren Namen zu nennen! Deinetwegen ist sie gestorben, du gewissenloser …!«
Eik blieb stehen. Gestorben? »Leona … Sie ist tot?«
Der Bankier, der in seiner blutigen und verdreckten Kleidung kaum noch zu erkennen war, hob die Hand und ballte sie zu einer zitternden Faust. »Sie ist aus der Kutsche gesprungen, weil sie dich suchen wollte!« Tränen rannen aus seinem gesunden Auge und liefen ihm über die Wange. Blutiger Speichel troff von seinen bebenden Lippen. »Ich habe versucht, sie aufzuhalten, aber ich schaffte es nicht!«
»Aber wo …? Was …?«
»Am Fischertor! Wir sind mit dieser Hure von Marquise in ihrer Kutsche gefahren und waren schon fast in Sicherheit, als Leona aus der Kutsche sprang!« Der Mann näherte sich Eik taumelnd und schüttelte seine knochige Faust. »Sie ist aus der Kutsche gesprungen und wurde von einem dieser Söldner gepackt! Und als ich dazukam, hat er sie durchbohrt, einfach so, mit seinem Dolch, und ihr dann die Kehle aufgeschlitzt, als wäre sie ein Schaf, das er schächten wollte!« Seine Stimme klang erstickt, als die Erinnerung ihn überkam. »Du bist schuld an ihrem Tod, du Hund! Du solltest dort im Dreck liegen und verrecken …!«
Eik wich zwei, drei Schritte zurück und schüttelte den Kopf, als könnte er dadurch das Bild vertreiben, das bei den Worten des Alten in ihm aufgestiegen war. Leona ist tot? Trauer durchströmte ihn, Bedauern, Schuldbewusstsein, der Wunsch, das alles möge nicht wahr sein. Aber dann schob sich ein anderer Gedanke in den Vordergrund, ein Gedanke, der sein Herz anschwellen und ihm das Blut zu Kopf steigen ließ, sodass es wie ein brausender Sturmwind in seinen Ohren rauschte. Er klammerte sich an etwas anderes, was der Alte gesagt gerade hatte. In der Kutsche der Marquise. Wir waren fast in Sicherheit!
Augusta!, dachte er. Hat sie es geschafft, die Stadt zu verlassen? Er starrte den Alten an, der immer noch auf ihn zukam, und wich weiter vor ihm zurück.
»Und die Marquise? Hat sie es geschafft?« Diese Frage konnte er sich einfach nicht verkneifen. Die Worte drangen über seine Lippen, bevor er sich ihrer bewusst wurde. Er sah, wie das Gesicht des Alten sich noch weiter verzerrte und Speichel aus seinem Mund flog, als er irgendetwas Unverständliches schrie. Plötzlich griff sich de Lemos mit seiner faltigen Hand an die Brust, riss sein gesundes Auge weit auf und sank auf die Knie. Blutiger Schaum quoll aus seinem Mund, und der Blick, mit dem er Eik hasserfüllt durchbohrt hatte, schien sich plötzlich ins Leere zu richten.
Ihn hat der Schlag getroffen!, erkannte Eik, und bevor er etwas tun konnte, spürte er Fäuste auf seinen Schultern. Die Kürassiere, die ihn vorher vergeblich daran zu hindern versucht hatten, ihre Reihe zu durchbrechen, hatten sich aus ihren Sätteln herabgebeugt, ihn gepackt und zogen ihn zurück.
»Haben wir dich, Freundchen! Was fällt dir ein?«
Eik wehrte sich nicht, als sie ihn grob zurückzerrten, hinter ihre Reihe. Einer der Männer rammte ihm mit voller Wucht den Stiefel in den Rücken, sodass er den Halt verlor und auf die Pflastersteine stürzte. Er prallte gegen die Beine einiger Söldner, die wütend nach ihm traten und ihn mit Flüchen bedachten.
Eik schlug um sich und wehrte sich gegen Fäuste, die nach ihm griffen, während er sich aufrappelte und ein Gedanke unaufhörlich in seinem Kopf kreiste.
Augusta lebt, dachte er. Gott gebe, dass sie es geschafft hat. Erst als er sich durch die Masse der Söldner zum Rand des Domplatzes drängte, wurde ihm bewusst, was das bedeutete.
Eik zügelte sein Pferd und blieb einen Moment stehen, um den Anblick in sich aufzunehmen, der sich ihm bot.
Es war ein idyllisches Bild und schien so gar nicht zu dem zu passen, was er auf seinem Ritt von Magdeburg erlebt hatte. Schloss Villesen lag im Licht der Nachmittagssonne da, so als würde im Land tiefster Friede herrschen.
Auf einer Weide jenseits der von Linden gesäumten Zufahrt grasten friedlich einige Kühe, auf dem Hof herrschte Ruhe. Nur ein Hund lief über die Pflastersteine und hielt hier und da inne, um herumzuschnüffeln.
Eik holte tief Luft, drückte sich den Hut tiefer in die Stirn und trieb sein Pferd an. Bringen wir’s hinter uns, dachte er, als er den Wallach, den er einem schwer verletzten Kürassier abgenommen hatte, auf die Zufahrt lenkte.
Der Hund hob den Kopf und bellte, als Eik auf den Hof ritt und sein Pferd verhielt. Ansonsten rührte sich nichts. Eik drehte sich einmal mit dem Pferd im Kreis, aber aus keinem der Gebäude kam jemand herbeigelaufen, um sich nach seinen Wünschen zu erkundigen oder ihn zur Rede zu stellen, was er wollte.
Eik runzelte die Stirn und stieg ab. Immer noch ließ sich niemand blicken. Er führte das Pferd zu den Stallungen an der Seite des Hofs. Als er die Tür öffnete, empfingen ihn ein leises Schnauben und ein Wiehern.
Dass noch andere Lebewesen außer ihm hier waren, erleichterte Eik. Er führte sein Pferd in eine der Boxen, lockerte den Sattelgurt und nahm ihm das Zaumzeug ab. Nachdem er ihm mit einer Handschaufel Hafer aus einer Kiste in den Trog geschüttet und ihm einen Eimer mit Wasser in die Box gestellt hatte, schloss er die Tür und trat hinaus.
Immer noch war niemand zu sehen, nur der Hund kam schwanzwedelnd zu ihm gelaufen und schnüffelte neugierig an Eiks Beinen.
»Na, ein richtiger Wachhund bist du aber auch nicht gerade, hab ich recht?« Eik bückte sich und tätschelte dem Hund den Kopf.
»Wir haben keinen Bedarf an Wachhunden. Kaum jemand verirrt sich hierher. Aber Ihr scheint Euch gut auszukennen, Herr. Darf ich fragen …?«
Eik hatte sich hastig aufgerichtet, als die weibliche Stimme ihn ansprach, sodass der Hund erschreckt zurücksprang und ihn auf einmal anknurrte. Aber Eik achtete nicht auf das Tier. Sein Herz schlug heftig, als er sich zu der Sprecherin herumdrehte, doch dann musste er erkennen, dass es sich nicht um Augusta handelte.
»Madame von Villesen.« Eik widerstand dem Impuls, den breitkrempigen Hut zu ziehen, und beschränkte sich auf eine einfache Verbeugung. Er war neugierig, ob Maria, Freifrau von Villesen, ihn nach all den Jahren noch erkennen würde. Als er sich aufrichtete, fiel sein Blick auf die kleine Pistole in der Hand der Schlossherrin. »Wie ich sehe, seid Ihr durchaus auf unerwarteten Besuch vorbereitet.«
Maria von Villesen musterte ihn aufmerksam, ließ jedoch die Pistole sinken, als spürte sie, dass von ihm keine Bedrohung ausging.
Jedenfalls keine Bedrohung, die Ihr erwartet, dachte er.
»Kenne ich Euch?«
Eik verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. »Wohl kaum. Aber Euer Gemahl sollte mich kennen.«
Die Schlossherrin schob die Pistole in die Tasche ihres weiten Umhangs und trat neugierig ein paar Schritte näher. »Mein Gemahl ist tot«, sagte sie. »Er starb vor wenigen Tagen nach langer, schwerer Krankheit …« Wie zu sich selbst fügte sie leiser hinzu, während sie Eiks Gesicht forschend musterte: »… und doch mit leichtem Herzen, weil er seine Tochter noch einmal sehen durfte.«
»Das betrübt mich«, erwiderte Eik, doch kein Mitgefühl lag in seinem Tonfall. »Hätte ich mich mehr beeilt, hätte er ein weiteres seiner Kinder noch einmal sehen können.«
Als er dies sagte, riss Maria von Villesen die Augen weit auf, dann schlug sie sich die Hände vor den Mund.
»Ah, Euer Gemahl hat Euch ins Vertrauen gezogen«, sagte er voller Spott.
»Eik? Eik Schmalens!« Maria von Villesen schüttelte den Kopf. »Ist das zu glauben? Grundgütiger Gott! Das ist ein Fingerzeig des …«
»… Allmächtigen?« Eik lachte bitter. »Ich glaube kaum, dass Gott etwas damit zu tun hatte. Es war allein Euer Gemahl, und dabei hatte er wohl nicht nur seine Finger im Spiel!« Als er das verständnislose Gesicht der Freifrau sah, sagte er: »Offenbar hat er Euch nicht alles erzählt. Nun, Eure Tochter hat es mir ebenfalls verschwiegen, obwohl wir mehr als einmal das Bett geteilt haben!« Die letzten Worte stieß er im verächtlichen Tonfall hervor. »Aber Euer anderer Sohn war nicht so zurückhaltend! Er hat …«
»Mein Gemahl?« Maria von Villesen starrte Eik an, und plötzlich zeichnete sich Verstehen auf ihrem Gesicht ab. Sie schüttelte den Kopf. Dann trat sie noch einen Schritt dichter an Eik heran und streckte eine Hand aus. Eik fuhr zurück, als sie versuchte, seine Wange zu berühren.
»Verzeiht.« Sie ließ die Hand sinken. »Dazu habe ich kein Recht. Aber …«
»Allerdings nicht!«, fuhr Eik sie an, der von dieser Geste sonderbar berührt war. »Ebenso wenig wie Eure Tochter das Recht hatte zu tun, was sie getan hat. Und dafür schuldet sie mir Rechenschaft! Ich habe gehofft, sie hier anzutreffen, und ich verlange von Euch …«
»Schweigt!«
Die Stimme der Frau klang so gebieterisch, dass Eik verblüfft den Mund zuklappte.
»Ihr urteilt ein bisschen voreilig, Eik Schmalens.« Sie sah Eik aus zusammengekniffenen Augen an. »Denn Ihr kennt offenbar nicht die ganze Wahrheit.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, sie Euch zu verraten, aber um meiner Tochter willen werde ich es trotzdem tun!«
»Augusta ist hier?«
»Das ist sie, und sie grämt sich seit ihrer Rückkehr, weil sie von Euch nie etwas gehört hat und auch in Valerians letztem Brief …« Sie verstummte, als würde ihr die Stimme versagen.
»Sprecht es ruhig aus: Sie hat nichts von ihrem Halbbruder gehört! Ich will auf der Stelle mit ihr reden!«
Wieder schüttelte Maria von Villesen den Kopf. »Bevor Ihr das tut, solltet Ihr Euch erst anhören, was ich Euch zu sagen habe. Sonst lauft Ihr Gefahr, Euch noch einmal zum Narren zu machen und mein Kind ein zweites Mal zutiefst zu kränken.«
»Ich sie kränken?« Empört trat Eik auf sie zu. Der Hund bellte, aber keiner der beiden achtete darauf. »Das ist der blanke Hohn! Eure Tochter wusste, dass ich …«
»Augusta wusste, dass Ihr der Sohn Eures Vaters seid, so wie auch Valerian der Sohn Eures Vaters ist!«
»Eben! Und doch hat sie das nicht davon abgehalten, sich mir hinzugeben und …«
»Warum hätte sie das auch davon abhalten sollen? Zugegeben, ich hätte mir eine bessere Partie für meine Tochter gewünscht. Aber Augusta hatte schon immer ihren eigenen Kopf. Und ganz offensichtlich hat sie sich in Euch verliebt.« Sie seufzte. »Das war einer der Gründe, weswegen mein verstorbener Mann beschlossen hatte, sie mit diesem schrecklichen Franzosen zu verheiraten. Eine Verbindung, die allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt war!«
Eik starrte sie fassungslos an. »Ihr seht nichts Übles darin, wenn eine Schwester mit ihrem Bruder …?«
»Ihr hört die Worte, aber ihren Sinn versteht Ihr nicht, Eik Schmalens! Augenscheinlich hat Augusta sich in Euch getäuscht. Ihr seid nicht halb so klug, wie sie mir Euch geschildert hat.«
»Aber … Ihr habt selbst gesagt, dass mein Vater auch der Vater …«
»Ich habe gesagt, dass Euer Vater auch Valerians Vater war. Und jetzt benutzt Euren Verstand, falls Euch dieser unselige Krieg noch etwas davon übrig gelassen hat.«
Eik starrte die Frau an und schüttelte den Kopf, als er endlich begriff. »Aber … das kann nicht sein! Wieso …? Und Valerian weiß nicht, dass …?«
Maria von Villesen seufzte. »Wir hielten es für besser, ihm die Wahrheit zu verschweigen. Das war vielleicht ein Fehler, aber wir haben zu lange gewartet, und dann, als er es vielleicht verstanden hätte, war er so stolz auf seinen Stand. Und …« Fast entschuldigend sah sie Eik an. »Dein Vater war ein ehrlicher, guter Mann, versteh mich nicht falsch, Eik.« Sie trat wieder auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf den Arm, und diesmal wich Eik nicht zurück. »Nach Augustas Geburt waren wir sehr glücklich, aber Tanno wollte einen männlichen Erben für all das hier, für den Namen von Villesen.« Sie seufzte. »Dann kam dieser Reitunfall und damit die niederschmetternde Erkenntnis, dass er keinen Erben mehr würde zeugen können.« Sie senkte den Kopf, und Eik hatte den Eindruck, als schämte sie sich. »Dein Vater … Er hat es uns sehr leicht gemacht und uns nie merken lassen, wie sehr er uns geholfen hat.« Sie sah Eik an. »Pieter Schmalens war ein guter Mann. Du kannst stolz auf ihn sein.«
Eiks Gedanken überschlugen sich. »Aber …« Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Aber dann ist mein Vater ja auch der von Valerian, und Ihr habt …«
Maria von Villesen lächelte. »Ich glaube, den Rest kann dir Augusta besser erklären.« Sie drückte Eiks Arm. »Sie hat so darum gebetet, dass du dem Massaker von Magdeburg entkommst, doch in Valerians Brief fanden wir keinerlei Andeutungen darüber, ob …«
Valerian hat ihr geschrieben? Und sie ist nicht meine Halbschwester? Das Blut rauschte in Eiks Ohren, und all das, was er sich auf dem langen Weg hierher zurechtgelegt hatte, all die bösen Sätze und Beschuldigungen, seine Gedanken von Vergeltung und Strafe, von Schuld und Schuldzuweisung, waren wie weggeweht. Sie ist nicht meine Halbschwester?
»Ich vermute, dass sie im Rosengarten im hinteren Park ist, wie immer um diese Zeit.« Maria von Villesen trat zur Seite. »Den Weg kennst du ja.«
Es war der Ort, wo Augusta ihn als Jungen unterrichtet hatte, ein Ort, an den sich Eik in den letzten Jahren so oft zurückgesehnt hatte. Er musste nur noch ein paar Schritte tun, um dort hinzugelangen.
»Ja, den kenne ich.« Er nahm Maria von Villesens Hand, zog mit der anderen seinen Hut, beugte sich vor und küsste die Finger der Frau. »Ich danke Euch, Madame. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr ich Euch dafür danke.«
Maria von Villesen sah Eik nach, während er davonging, und lächelte, als seine Schritte immer schneller wurden.
»O doch, das kann ich«, sagte sie leise.