1942, als ich zehn Jahre alt war, gewann ich den ersten Preis bei den Ludi Juveniles, einem freiwilligen Pflichtwettbewerb für junge italienische Faschisten — also für alle jungen Italiener. Ich hatte mich mit rhetorischer Bravour über das Thema verbreitet: »Sollen wir für den Ruhm Mussolinis und die unsterbliche Bestimmung Italiens sterben?« Meine Antwort war positiv gewesen. Ich war ein heller Junge.
1943 entdeckte ich dann die Bedeutung des Wortes Freiheit. Ich werde diese Geschichte am Ende erzählen. Damals bedeutete Freiheit noch nicht Befreiung.
Ich habe zwei meiner frühen Jahre zwischen einander beschießenden SS-Männern, Mussolini-Faschisten und Partisanen verbracht und gelernt, den Kugeln aus dem Wege zu gehen. Das war keine schlechte Übung.
Im April 1945 nahmen die Partisanen Mailand ein. Zwei Tage später kamen sie in die kleine Stadt, in der ich damals lebte. Es war ein Freudentag. Die zentrale Piazza war dicht gedrängt voller Menschen, die singend und fahnenschwingend nach Mimo riefen, dem Partisanenführer der Gegend. Mimo, ein ehemaliger Maresciallo der Carabinieri, hatte sich den Anhängern des Mussolini-Nachfolgers Badoglio angeschlossen und in einem der ersten Gefechte mit Mussolinis verbliebenen Truppen ein Bein verloren. Er erschien auf dem Balkon des Rathauses, blass, auf seine Krücke gestützt, und versuchte mit der freien Hand die Menge zu beruhigen. Ich wartete gespannt auf seine Rede, denn meine ganze Kindheit war von den großen historischen Reden Mussolinis geprägt gewesen, deren bedeutendste Stellen wir in der Schule auswendig lernten. Stille. Mimo sprach mit einer rauen Stimme, kaum hörbar. Er sagte: »Mitbürger, Freunde. Nach so vielen leidvollen Opfern … da sind wir wieder. Ehre den für die Freiheit Gefallenen.« Das war alles. Er ging wieder hinein. Die Menge jubelte, die Partisanen hoben ihre Gewehre und feuerten Freudenschüsse in die Luft. Wir Kinder stürzten hin, um die Patronenhülsen aufzusammeln, die kostbare Sammlerobjekte waren, aber ich hatte zugleich gelernt, dass Redefreiheit auch Freiheit von Rhetorik bedeutet.
Einige Tage später sah ich die ersten amerikanischen Soldaten. Es waren Afroamerikaner. Der erste Yankee, dem ich begegnete, war ein Schwarzer namens Joseph, der mich mit den Wundern von Dick Tracy und Li’l Abner bekannt machte. Seine Comics waren bunt und hatten einen guten Geruch.
Einer der Offiziere, Major oder Captain Muddy, war zu Gast in der Villa einer Familie, deren zwei Töchter in meine Klasse gingen. Ich begegnete ihm in ihrem Garten, wo ihn einige Damen umringten und in einem vagen Französisch auf ihn einredeten. Captain Muddy hatte eine gute Erziehung genossen und konnte auch ein bisschen Französisch. So war mein erstes Bild von den amerikanischen Befreiern, nach all den Bleichgesichtern in Schwarzhemden, das eines kultivierten Schwarzen in gelbgrüner Uniform, der sagte: »Oui, merci beaucoup Madame, moi aussi j’aime le champagne.« Champagner gab es leider keinen, aber Captain Muddy schenkte mir meinen ersten Kaugummi, auf dem ich den ganzen Tag lang herumkaute. Nachts tat ich den Klumpen in ein Glas Wasser, um ihn für den nächsten Tag frisch zu halten.
Im Mai hörten wir, dass der Krieg vorbei war. Der Friede verursachte mir ein eigenartiges Gefühl. Mir war gesagt worden, permanenter Krieg sei die normale Situation für einen jungen Italiener. In den folgenden Monaten entdeckte ich, dass es die Resistenza — den bewaffneten Widerstand — nicht nur bei uns, sondern in ganz Europa gegeben hatte. Ich lernte neue, erregende Worte wie Réseau, Maquis, Armée secrète, Rote Kapelle, Warschauer Ghetto. Ich sah die ersten Fotografien vom Holocaust, und so verstand ich seine Bedeutung, bevor ich das Wort kennenlernte. Mir wurde klar, wovon wir befreit worden waren.
Heute gibt es in Italien Leute, die sich fragen, ob die Resistenza wirklich militärischen Einfluss auf den Verlauf des Krieges gehabt hat. Für meine Generation ist diese Frage irrelevant: Wir begriffen die moralische und psychologische Bedeutung der Resistenza sofort. Es machte uns stolz zu wissen, dass wir Europäer die Befreiung nicht passiv erwartet hatten. Und ich denke, dass es auch für die jungen Amerikaner, die mit ihrem Blut für die Wiederherstellung unserer Freiheit bezahlten, nicht ohne Bedeutung war zu wissen, dass es hinter den Linien Europäer gab, die ihre Schulden bereits zurückzahlten.
Heute gibt es in Italien Leute, die sagen, der Mythos der Resistenza sei eine kommunistische Lüge gewesen. Wahr ist, dass die Kommunisten die Resistenza wie ein persönliches Eigentum ausgebeutet haben, da sie eine führende Rolle in ihr spielten. Aber ich erinnere mich auch an Partisanen, die Halstücher in anderen Farben trugen.
Am Radio klebend, horchte ich nachts — bei geschlossenen Fenstern, während die allgemeine Verdunkelung den kleinen Raum um das Gerät zum einzigen Lichtkreis machte — auf die Botschaften, die Radio London an die Partisanen sandte. Sie waren dunkel und poetisch zugleich (»Die Sonne geht abermals auf«, »Die Rosen werden blühen«), und die meisten waren Botschaften »für die Franchi«. Jemand flüsterte mir zu, dass Franchi der Anführer einer der schlagkräftigsten Untergrundorganisationen in Norditalien war, ein Mann von legendärer Tapferkeit. Franchi wurde mein Held. Franchi (sein richtiger Name war Edgardo Sogno) war ein Monarchist und so glühend antikommunistisch, dass er sich nach dem Krieg rechtsextremen Gruppen anschloss und angeklagt wurde, bei der Planung eines reaktionären Staatsstreichs mitgewirkt zu haben. Aber wen kümmert’s? Sogno bleibt der Traumheld meiner Kindheit. Die Befreiung war ein Gemeinschaftswerk von Menschen aus verschiedenen Lagern.
Heute gibt es in Italien Leute, die sagen, der Befreiungskrieg sei eine tragische Zeit der Spaltung gewesen, und was wir jetzt brauchten, sei nationale Versöhnung. Die Erinnerung an jene schrecklichen Jahre müsse verdrängt werden. Aber Verdrängung erzeugt Neurosen. Wenn Versöhnung heißt, Mitgefühl und Respekt für all jene zu haben, die ihren Krieg in gutem Glauben führten, heißt Vergeben jedoch nicht Vergessen. Ich kann sogar zugestehen, dass Eichmann aufrichtig an seine Mission geglaubt hat, aber ich kann nicht sagen: »Okay, komm wieder und mach’s noch mal.« Wir sind hier versammelt, um an das zu erinnern, was geschehen ist, und feierlich zu erklären, dass »sie« es nie wieder tun dürfen.
Aber wer sind »sie«?
Denken wir hier an die totalitären Regime, die Europa vor dem Zweiten Weltkrieg beherrschten, so können wir in aller Ruhe sagen, dass sie unter den veränderten historischen Bedingungen schwerlich in derselben Form wiederkehren werden. Gründete sich Mussolinis Faschismus auf die Idee eines charismatischen Führers, auf den Korporativismus, auf die Utopie der »schicksalhaften Bestimmung Roms«, auf einen imperialistischen Willen zur Eroberung neuer Gebiete, auf einen rabiaten Nationalismus, auf das Ideal einer ganzen Nation im Schwarzhemd, auf die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie und auf den Antisemitismus, so habe ich keine Schwierigkeiten zuzugeben, dass heute die italienische Alleanza Nazionale, die aus der faschistischen Nachkriegspartei MSI hervorgegangen und gewiss eine Partei der Rechten ist, nur noch wenig mit dem alten Faschismus zu tun hat. Aus den gleichen Gründen denke ich nicht — auch wenn ich sehr beunruhigt bin über die verschiedenen neonazistischen Bewegungen, die sich da und dort in Europa einschließlich Russlands regen —, dass der Nationalsozialismus im Begriff ist, in seiner ursprünglichen Form als eine das ganze Volk mitreißende Bewegung wiederaufzuerstehen.
Dennoch, auch wenn politische Regime gestürzt, Ideologien kritisiert und demontiert werden können —hinter jedem Regime und seiner Ideologie steht eine Art des Denkens und Fühlens, eine Reihe von kulturellen Gewohnheiten, eine Wolke von dunklen Instinkten und unauslotbaren Trieben. Gibt es also noch ein weiteres Gespenst, das in Europa umgeht (um nicht von anderen Teilen der Welt zu sprechen)?
Ionesco sagte einmal: »Nur die Wörter zählen, der Rest ist bloßes Geschwätz.« Sprachgewohnheiten sind oft wichtige Symptome für unausgedrückte Gefühle.
Es lohnt sich daher zu fragen, warum nicht nur der bewaffnete Widerstand, sondern der ganze Zweite Weltkrieg überall in der Welt als ein Kampf gegen den Faschismus definiert worden ist. Wer Hemingways Wem die Stunde schlägt liest, wird feststellen, dass Robert Jordan seine Feinde stets als Faschisten bezeichnet, auch wenn er an die spanischen Falangisten denkt. Und Franklin D. Roosevelt erklärte am 23. September 1944: »Der Sieg des amerikanischen Volkes und seiner Verbündeten wird ein Sieg über den Faschismus und das von ihm repräsentierte Erbe des Despotismus sein.«
Während McCarthys Kommunistenhatz wurden diejenigen Amerikaner, die im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatten, als »premature anti-fascists« (verfrühte Antifaschisten) bezeichnet — womit gesagt werden sollte, dass zwar der Kampf gegen Hitler in den vierziger Jahren eine moralische Pflicht für jeden guten Amerikaner war, aber der Kampf gegen Franco in den dreißiger Jahren einen verdächtigen Beigeschmack hatte, weil er hauptsächlich von Kommunisten und anderen Linken geführt worden war. Und warum titulierten dreißig Jahre später linksradikale Amerikaner einen Polizisten, dem ihre Rauchergewohnheiten nicht gefielen, als fascist pig? Warum sagten sie nicht falangist pig, cagoulard pig, ustasha pig, nazi pig?
Hitlers Mein Kampf ist die vollständige Offenlegung eines politischen Programms. Der Nationalsozialismus hatte eine Theorie des Rassismus und des Ariertums, einen präzisen Begriff von degenerierter (»entarteter«) Kunst, eine Philosophie des Willens zur Macht und des »Übermenschen«. Der Nationalsozialismus war entschieden antichristlich und neuheidnisch, so wie Stalins »Diamat« (die offizielle Version des sowjetischen Marxismus) klar materialistisch und atheistisch war. Versteht man unter Totalitarismus ein Regime, das alles individuelle Handeln dem Staat und seiner Ideologie unterordnet, so waren Nationalsozialismus und Stalinismus totalitäre Regime.
Der italienische Faschismus war zweifellos eine Diktatur, aber er war nicht durchgehend totalitär, nicht wegen seiner Milde, sondern wegen der philosophischen Schwäche seiner Ideologie. Entgegen der verbreiteten Meinung hatte der italienische Faschismus keine eigene Philosophie. Der von Mussolini unterzeichnete Artikel »Fascismo« in der Enciclopedia Treccani war von Giovanni Gentile verfasst oder im Wesentlichen inspiriert worden, aber er gab eine späthegelianische Idee vom »absoluten sittlichen Staat« wieder, die Mussolini nie ganz verwirklicht hat. Mussolini hatte überhaupt keine Philosophie, er hatte nur eine Rhetorik. Er begann als militanter Atheist, aber dann unterzeichnete er das Konkordat mit der Kirche und hieß die Bischöfe willkommen, die die faschistischen Fähnchen segneten. In seinen ersten antiklerikalen Jahren soll er einmal, einer glaubwürdigen Legende zufolge, Gott aufgefordert haben, ihn auf der Stelle niederzustrecken, um seine Existenz zu beweisen. Gott war offensichtlich zerstreut. In späteren Jahren rief Mussolini in seinen Reden ständig den Namen Gottes an und hatte nichts dagegen, wenn er als »Mann der Vorsehung« bezeichnet wurde.
Man kann sagen, dass der italienische Faschismus die erste Rechtsdiktatur war, die ein europäisches Land beherrschte, und dass alle ähnlichen Bewegungen, die später kamen, in Mussolinis Regime eine Art Archetyp sahen. Der italienische Faschismus war der erste, der sich eine militärische Liturgie, eine Folklore und sogar eine eigene Kleidermode schuf — womit er im Ausland mehr Erfolg als Armani, Benetton oder Versace haben sollte. Erst in den dreißiger Jahren erschienen faschistische Bewegungen in England (mit Mosley), in Lettland, Estland, Litauen, Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Jugoslawien, Spanien, Portugal, Norwegen und sogar Südamerika, ganz zu schweigen von Deutschland. Es war der italienische Faschismus, der viele liberale Politiker in Europa davon überzeugte, dass dieses neue Regime interessante soziale Reformen durchführte, die eine gemäßigt revolutionäre Alternative zur kommunistischen Bedrohung darstellen konnten.
Dennoch scheint mir die historische Priorität nicht ausreichend, um zu erklären, warum gerade der Begriff Faschismus zu einer Sammelbezeichnung oder einem Pars pro Toto für verschiedene totalitäre Bewegungen geworden ist. Es hilft nichts zu sagen, der italienische Faschismus habe alle Elemente der späteren Totalitarismen sozusagen »als Quintessenz« in sich enthalten. Im Gegenteil, der italienische Faschismus besaß überhaupt keine Quintessenz, ja nicht einmal eine einzelne Essenz. Er war ein verschwommener Totalitarismus, verschwommen im Sinne von fuzzy.*1 Er war keine monolithische Ideologie, sondern eher eine Collage aus verschiedenen politischen und philosophischen Ideen, ein Bienenkorb voller Widersprüche. Kann man sich eine totalitäre Bewegung vorstellen, die es fertigbringt, Monarchie und Revolution zu vereinigen, Königliche Armee und Mussolinis Privatmiliz, Garantie der kirchlichen Privilegien und eine gewaltverherrlichende Staatserziehung, totale Kontrolle und freien Markt? Die faschistische Partei war mit der Proklamation einer neuen revolutionären Ordnung auf den Plan getreten, aber finanziert wurde sie von den konservativsten Agrariern, die eine Konterrevolution von ihr erwarteten. In seinen Anfängen war der Faschismus republikanisch, doch er überlebte zwanzig Jahre, indem er seine Loyalität zur Königsfamilie proklamierte und einem »Dux« erlaubte, Arm in Arm mit einem »Rex« zu gehen, dem er auch noch den Titel »Imperator« anbot. Als dieser König dann schließlich, im Sommer 1943, seinen »Ersten Minister« Mussolini entließ, trat die Partei zwei Monate später, mit deutscher Hilfe, unter dem Banner einer »sozialen« Republik wieder auf den Plan und spielte erneut ihre alte revolutionäre Partitur, bereichert um fast jakobinische Obertöne.
Es gab nur eine Nazi-Architektur und nur eine Nazi-Kunst. Wenn Albert Speer Hitlers Architekt war, gab es in Deutschland keinen Platz für Mies van der Rohe. In gleicher Weise gab es unter Stalin, wenn Lamarck recht hatte, keinen Platz für Darwin. Unter Mussolini hingegen gab es zwar gewiss faschistische Architekten, aber neben ihren Pseudo-Kolosseen entstanden auch neue Bauten im Geist des modernen Rationalismus nach Art von Gropius.
Es gab keinen faschistischen Shdanow, der eine strikte kulturpolitische Linie vorschrieb. Es gab in Italien zwei bedeutende Kunstpreise: Der Premio Cremona wurde von einem ungebildeten und fanatischen Faschisten wie Roberto Farinacci kontrolliert, der eine propagandistische Kunst förderte (ich erinnere mich an Bilder mit Titeln wie »Beim Anhören einer Radioansprache des Duce« oder »Vom Faschismus geschaffene Geisteshaltungen«); der Premio Bergamo wurde von dem gebildeten und einigermaßen toleranten Faschisten Giuseppe Bottai finanziert, der sowohl die L’art-pour-l’art-Richtung schützte als auch die vielen Arten der Avantgardekunst, die in Deutschland als »entartet« und »kryptokommunistisch« galten, da allein der Germanenkitsch zugelassen war.
Der Nationaldichter war D’Annunzio, ein Dandy, der in Deutschland oder Russland vor ein Exekutionskommando gestellt worden wäre. Zum Vate Nazionale, zum »Seher« oder Barden des Regimes ernannt worden war er wegen seines Nationalismus und seiner kultischen Verherrlichung des Heroischen — die in Wahrheit eine starke Dosis französischer Fin-de-Siècle-Dekadenz enthielt.
Oder nehmen wir den Futurismus. Man sollte meinen, er wäre als ein Beispiel für »entartete Kunst« angesehen worden, so wie der Expressionismus, der Kubismus und der Surrealismus. Aber die ersten italienischen Futuristen waren Nationalisten, sie befürworteten aus ästhetischen Gründen den Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg, sie verherrlichten die Geschwindigkeit, die Gewalt und das Risiko, und irgendwie schien das alles dem faschistischen Jugendkult nahe. Während der Faschismus sich mit dem Römischen Reich identifizierte und die ländlichen Traditionen wiederentdeckte, wurde Marinetti (der erklärte, ein Auto sei schöner als die Nike von Samothrake, und der sogar den Mondschein niedermachen wollte) zum Mitglied der Italienischen Akademie ernannt, die den Mondschein sehr respektvoll behandelte.
Viele der künftigen Partisanen und künftigen KP-Intellektuellen wurden von den »Gruppi Universitari Fascisti« (GUF) erzogen, der faschistischen Studentenvereinigung, die eigentlich die Wiege der neuen faschistischen Kultur sein sollte. Diese Debattierklubs entwickelten sich zu einer Art intellektuellem Schmelztiegel, in dem neue Ideen ohne jegliche ideologische Kontrolle zirkulierten, nicht weil die Parteibosse so tolerant gewesen wären, sondern weil nur wenige von ihnen über die intellektuellen Mittel zu ihrer Kontrolle verfügten.
Während jener zwei Jahrzehnte war die Dichtung Montales und anderer Autoren, die zur Gruppe der sogenannten Hermetiker gerechnet wurden, eine Reaktion auf den pompösen Stil des Regimes, und doch war es diesen Dichtern erlaubt, ihren literarischen Protest im Innern dessen zu formulieren, was als ihr Elfenbeinturm angesehen wurde. Die Grundstimmung der Hermetiker war das genaue Gegenteil des faschistischen Optimismus- und Heroismuskults. Das Regime duldete diesen offenkundigen, wenn auch gesellschaftlich kaum wahrnehmbaren Dissens einfach deshalb, weil es einer so dunkel-geheimnisvollen Sprache nicht genügend Beachtung schenkte.
Das soll nicht heißen, dass der italienische Faschismus tolerant gewesen wäre. Gramsci wurde bis fast zu seinem Tod eingekerkert, Oppositionsführer wie Matteotti und die Brüder Rosselli wurden ermordet, die Pressefreiheit wurde abgeschafft, die Gewerkschaften wurden zerschlagen, politische Dissidenten auf entlegene Inseln verbannt. Die Legislative verkam zu einer bloßen Fiktion, und die Exekutive (die die Judikative ebenso kontrollierte wie die Massenmedien) erließ aus eigener Machtvollkommenheit neue Gesetze, darunter auch solche zum »Schutz der Rassereinheit« (die formale italienische Unterstützungsgeste für das, was später der Holocaust werden sollte).
Das widersprüchliche Bild, das ich hier beschreibe, war nicht das Ergebnis von Toleranz, sondern von politischer und ideologischer Verwirrung. Allerdings einer »geordneten Verwirrung«, einer strukturierten Konfusion. Der Faschismus hing zwar philosophisch in der Luft, aber emotional war er fest in einigen archetypischen Fundamenten verankert.
Damit kommen wir zum zweiten Punkt meiner These. Es gab nur einen Nazismus, und wir können Francos hyperkatholischen Falangismus nicht als Nazismus etikettieren, denn der Nazismus ist zutiefst heidnisch, polytheistisch und antichristlich, oder er ist kein Nazismus. Aber das faschistische Spiel lässt sich auf vielerlei Weise spielen, und der Name des Spiels bleibt der gleiche. Tatsächlich ähnelt der Begriff des Faschismus dem Begriff des Spiels bei Wittgenstein. Ein Spiel kann kompetitiv oder nicht-kompetitiv sein, es kann einen oder mehrere Spieler involvieren, es kann eine gewisse Geschicklichkeit erfordern oder nicht, es kann um Geld oder nicht um Geld gehen. Spiele sind unterschiedliche Aktivitäten, die lediglich eine gewisse »Familienähnlichkeit«, wie Wittgenstein es nannte, aufweisen. Betrachten wir die folgende Sequenz:
1 |
2 |
3 |
4 |
||||
abc |
bcd |
cde |
def |
Angenommen, es gibt eine Reihe politischer Gruppen, in der die erste durch die Merkmale abc charakterisiert ist, die zweite durch die Merkmale bcd und so weiter. Die zweite Gruppe ähnelt der ersten, insofern sie zwei Merkmale mit ihr gemeinsam hat; aus demselben Grund ähnelt die dritte Gruppe der zweiten. Man beachte, dass die Gruppe drei auch der ersten ähnelt (beide haben das Merkmal c gemeinsam). Den eigenartigsten Fall stellt die Gruppe vier dar, die offensichtlich den Gruppen drei und zwei ähnelt, aber kein Merkmal mit der Gruppe eins gemeinsam hat. Dennoch bleibt, infolge der ununterbrochenen Kette abnehmender Ähnlichkeit von eins bis vier, durch eine Art illusorischer Transitivität eine Familienähnlichkeit zwischen vier und eins bestehen.
Der Begriff Faschismus konnte deshalb zu einer Sammelbezeichnung werden, weil ein faschistisches Regime auch dann noch als faschistisch erkennbar bleibt, wenn man ein oder mehrere Merkmale abzieht. Ziehen wir den Imperialismus vom Faschismus ab, so haben wir immer noch Franco und Salazar. Ziehen wir den Kolonialismus ab, so haben wir noch den Balkanfaschismus der Ustascha. Fügen wir dem italienischen Faschismus einen radikalen Antikapitalismus hinzu (der Mussolini nie sehr interessiert hat), so haben wir Ezra Pound. Fügen wir einen Kult der keltischen Mythologie und die Gralsmystik hinzu (die dem offiziellen italienischen Faschismus völlig fremd waren), so haben wir einen der höchstgeachteten faschistischen Gurus: Julius Evola.
Trotz dieser Verschwommenheit halte ich es jedoch für möglich, eine Liste von Merkmalen aufzustellen, die typisch für das sind, was ich den ewigen oder Ur-Faschismus nennen möchte. Diese Merkmale lassen sich nicht in ein System ordnen — viele von ihnen widersprechen einander und sind auch charakteristisch für andere Arten von Despotismus oder Fanatismus. Doch es genügt, dass eines von ihnen präsent ist, damit der Faschismus einen Kristallisationspunkt hat, um den herum er sich bilden kann.
1. Das erste Merkmal des Ur-Faschismus ist ein Kult der Überlieferung. Natürlich ist der Traditionalismus viel älter als der Faschismus. Er war nicht nur typisch für das gegenrevolutionäre katholische Denken nach der Französischen Revolution, er war bereits in späthellenistischer Zeit als Reaktion auf den klassisch-griechischen Rationalismus entstanden.
Im ganzen Mittelmeerraum begannen damals Völker mit verschiedenen Religionen (deren Götter meistens bereitwillig in das römische Pantheon aufgenommen wurden) von einer in der Morgendämmerung der Menschheit empfangenen Offenbarung zu träumen. Diese Offenbarung war der überlieferten Mystik zufolge lange Zeit unter dem Schleier vergessener Sprachen verborgen geblieben — sie steckte in den ägyptischen Hieroglyphen, den keltischen Runen, den Schriftrollen wenig bekannter asiatischer Religionen. Daher musste die neue Kultur zwangsläufig synkretistisch sein. Synkretismus ist nicht nur, wie in den Wörterbüchern zu lesen steht, »die Vermischung verschiedener Religionen, Glaubens- oder Kultformen«; diese Vermischung muss auch Widersprüche ertragen können. Jede der ursprünglichen Botschaften enthält einen Splitter der Weisheit, und wenn sie Unterschiedliches oder Unvereinbares zu besagen scheinen, liegt es nur daran, dass sie allesamt allegorisch auf eine Ur-Wahrheit anspielen.
Infolgedessen kann es keinen Fortschritt des Wissens geben. Die Wahrheit ist ein für alle Mal offenbart worden, und wir können nur fortfahren, ihre dunkle Botschaft zu interpretieren. Man braucht nur einen Blick in den Kanon jeder faschistischen Bewegung zu werfen, um die wichtigsten traditionalistischen Denker zu finden. Die Nazi-Gnosis speiste sich aus traditionalistischen, synkretistischen und okkulten Elementen. Die wichtigste Quelle für die Theorien der neuen italienischen Rechten — die Schriften von Julius Evola — vermengen den Heiligen Gral mit den »Protokollen der Weisen von Zion« und die Alchemie mit dem Heiligen Römischen Reich. Gerade der Umstand, dass die italienische Rechte kürzlich, um ihre geistige Offenheit zu beweisen, ihren Kanon um Werke von De Maistre, Guénon und Gramsci erweitert hat, ist ein schlagender Beweis ihres Synkretismus.
Wenn man in den mit »New Age« etikettierten Regalen amerikanischer Buchhandlungen stöbert, kann man dort auch Augustinus finden, der meines Wissens kein Faschist war. Aber die Vermischung von Augustinus und Stonehenge — das ist ein Symptom des Ur-Faschismus.
2. Traditionalismus impliziert Ablehnung der Moderne. Sowohl die Faschisten wie die Nazis verehrten die Technik, während traditionalistische Denker sie gewöhnlich als Negation der überlieferten geistigen Werte ablehnen. Doch so stolz der Nazismus auch auf seine industriellen Leistungen war, sein Lob der Moderne war nur die Oberfläche einer auf »Blut und Boden« gegründeten Ideologie. Die Ablehnung der modernen Welt tarnte sich als Verurteilung der kapitalistischen Lebensweise, aber sie richtete sich in erster Linie gegen den Geist von 1789 (und natürlich von 1776). Die Aufklärung und das Zeitalter der Vernunft wurden als Beginn der modernen Verderbnis gesehen. In diesem Sinne lässt sich Ur-Faschismus als Irrationalismus definieren.
3. Irrationalismus hängt auch mit einem Kult der Aktion um der Aktion willen zusammen. Damit eine Aktion an sich schön ist, muss sie ohne jedes vorherige Nachdenken erfolgen. Denken ist eine Form der Kastration. Darum ist Kultur suspekt, sobald und soweit sie mit kritischen Haltungen identifiziert wird. Misstrauen gegenüber der intellektuellen Welt war stets ein Symptom des Ur-Faschismus, von der berühmten, Goebbels zugeschriebenen Erklärung »Wenn ich von Kultur reden höre, ziehe ich den Revolver« bis zum häufigen Gebrauch von Ausdrücken wie »degeneriertes Intellektuellenpack«, »Eierköpfe«, »radikale Snobs«, »Ratten und Schmeißfliegen«. Die offiziellen faschistischen Intellektuellen waren hauptsächlich damit beschäftigt, der modernen Kultur und der liberalen Intelligenz vorzuwerfen, sie hätten die überlieferten Werte verraten.
4. Kein synkretistischer Glaube kann Kritik hinnehmen. Der kritische Geist trifft Unterscheidungen, und zu unterscheiden ist ein Zeichen von Modernität. In der modernen Kultur preist die wissenschaftliche Gemeinschaft den Dissens als ein Mittel zur Vermehrung des Wissens. Für den Ur-Faschismus ist Dissens Verrat.
5. Außerdem ist Dissens immer auch ein Zeichen für Vielfalt. Der Ur-Faschismus wächst und sucht sich Konsens, indem er die natürliche Angst vor dem Andersartigen ausbeutet und vertieft. Der erste Appell einer faschistischen oder vorfaschistischen Bewegung richtet sich immer gegen die Eindringlinge. Daher ist der Ur-Faschismus per Definition rassistisch.
6. Der Ur-Faschismus entspringt individueller oder gesellschaftlicher Frustration. Darum war eines der typischen Merkmale der historischen Faschismen der Appell an die frustrierten Mittelklassen, die unter einer ökonomischen Krise und/oder einer politischen Demütigung litten und sich vor dem Druck subalterner gesellschaftlicher Gruppen fürchteten. Heute, da die einstigen »Proletarier« Kleinbürger werden (und die »Lumpenproletarier« sich vom politischen Leben selbst ausschließen), wird der Faschismus sein Publikum in dieser neuen Mehrheit finden.
7. Denen, die jeder gesellschaftlichen Identität beraubt sind, sagt der Ur-Faschismus, dass ihr einziges Privileg das allgemeinste von allen ist, nämlich im selben Lande geboren zu sein. Das ist der Ursprung des »Nationalismus«. Zudem sind die Einzigen, die der Nation eine Identität geben können, ihre Feinde. Daher liegt an der Wurzel der urfaschistischen Psychologie die Obsession einer Verschwörung, nach Möglichkeit einer internationalen. Die Anhänger müssen sich belagert fühlen. Am einfachsten lässt sich eine Verschwörung durch einen Appell an die Fremdenfeindlichkeit hervorzaubern. Allerdings muss die Verschwörung auch von innen kommen. Daher sind die Juden gewöhnlich das beste Ziel, da sie den Vorteil bieten, gleichzeitig innen und außen zu sein.
8. Die Anhänger müssen sich vom offen gezeigten Reichtum und von der Stärke ihrer Feinde gedemütigt fühlen. Als ich ein Junge war, lehrte man mich, die Engländer seien das »Volk der fünf Mahlzeiten«, weil sie öfter aßen als die armen, aber nüchternen Italiener. Die Juden gelten als reich und helfen einander — heißt es — durch ein geheimes Unterstützungsnetz. Die Anhänger müssen jedoch auch überzeugt sein, dass sie die Feinde besiegen können. So kommt es, dass die Feinde durch eine ständige Verlagerung des rhetorischen Brennpunkts gleichzeitig zu stark und zu schwach sind. Die Faschismen sind dazu verurteilt, ihre Kriege zu verlieren, weil sie konstitutionell unfähig sind, die Stärke des Feindes richtig einzuschätzen.
9. Für den Ur-Faschismus gibt es keinen Kampf ums Überleben, sondern vielmehr ein »Leben für den Kampf«. Daher ist Pazifismus Kollaboration mit dem Feind. Pazifismus ist schlecht, weil das Leben ein permanenter Krieg ist. Das erzeugt jedoch einen Armageddon-Komplex. Da die Feinde besiegt werden müssen und können, muss es einen Endkampf geben, nach dem die Bewegung die Weltherrschaft antreten wird. Eine solche »Endlösung« impliziert jedoch eine anschließende Zeit des Friedens, ein Goldenes Zeitalter, das im Widerspruch zum Prinzip des permanenten Krieges steht. Keinem faschistischen Führer ist es jemals gelungen, diesen Widerspruch aufzulösen.
10. Elitedenken ist ein typischer Aspekt jeder reaktionären Ideologie, insofern es seinem Wesen nach aristokratisch ist, und jedes aristokratische und militaristische Elitedenken impliziert die Verachtung der Schwachen. Der Ur-Faschismus kann nur ein »völkisches Elitedenken« predigen: Jeder Bürger gehört zum besten Volk der Welt, die Parteimitglieder sind die besten Bürger, und jeder Bürger kann (oder sollte) Parteimitglied werden. Doch keine Patrizier ohne Plebejer. Da der Führer weiß, dass er die Macht nicht demokratisch verliehen bekommen, sondern gewaltsam an sich gerissen hat, weiß er auch, dass seine Stärke auf der Schwäche der Massen beruht — sie sind so schwach, dass sie einen Herrscher brauchen und verdienen. Da die Bewegung hierarchisch organisiert ist (nach militärischem Vorbild), verachtet jeder Unterführer die eigenen Untergebenen, und jeder von diesen verachtet die unter ihm Stehenden. All dies stärkt das Gefühl einer Massenelite.
11. In dieser Perspektive werden alle zum Heldentum erzogen. In jeder Mythologie ist der Held ein Ausnahmewesen, aber in der Ideologie des Ur-Faschismus ist Heroismus die Norm. Dieser Kult des Heroismus ist eng mit dem Kult des Todes verbunden — nicht zufällig war das Motto der Falangisten »Viva la muerte!«. In nichtfaschistischen Gesellschaften wird den Leuten gesagt, der Tod sei etwas Unangenehmes, dem man jedoch mit Würde begegnen müsse; den Gläubigen wird gesagt, er sei der schmerzliche Weg zu einem übernatürlichen Glück. Der urfaschistische Held dagegen ersehnt den Heldentod, der ihm als die beste Belohnung eines heroischen Lebens gepredigt wird. Der urfaschistische Held wartet mit Ungeduld auf den Tod. In seiner Ungeduld gelingt es ihm dann nicht selten, andere in den Tod zu schicken.
12. Da sowohl permanenter Krieg als auch Heldentum schwierige Spiele sind, überträgt der Ur-Faschist seinen Willen zur Macht auf das sexuelle Gebiet. Dies ist der Ursprung des Machismo (der nicht nur Frauenverachtung bedeutet, sondern auch Ablehnung und Verurteilung aller nicht zum Standard gehörigen Sexualgewohnheiten, von der Keuschheit bis zur Homosexualität). Da aber auch Sexualität ein schwieriges Spiel ist, neigt der urfaschistische Held zum Spiel mit Waffen, die dann sein Phallusersatz werden.
13. Der Ur-Faschismus beruht auf einem selektiven oder qualitativen Populismus. In Demokratien haben die Bürger individuelle Rechte, aber politischen Einfluss können sie nur gemeinsam unter einem quantitativen Gesichtspunkt ausüben — die Mehrheit entscheidet. Für den Ur-Faschismus dagegen haben Individuen als Individuen keinerlei Rechte, während das »Volksganze« als eine Qualität begriffen wird, eine monolithische Entität, die den gemeinsamen Willen aller zum Ausdruck bringt. Da jedoch eine große Zahl von Menschen keinen gemeinsamen Willen haben kann, wirft sich der Führer zu ihrem Interpreten auf. Nachdem sie ihre Delegationsmacht verloren haben, handeln die Bürger nicht mehr. Sie werden nur noch von Zeit zu Zeit als Pars pro Toto zusammengerufen, um die Rolle des Volkes zu spielen. Das Volk ist also nur eine Theaterfiktion. Um ein gutes Beispiel für qualitativen Populismus zu haben, brauchen wir nicht mehr die Piazza Venezia in Rom (wo Mussolini seine Reden »ans Volk« hielt) oder das Nürnberger Reichsparteitagsgelände zu bemühen. In unserer Zukunft bietet sich ein TV- oder Internet-Populismus an, bei dem die emotionale Antwort einer Gruppe ausgewählter Bürger als »Stimme des Volkes« präsentiert und akzeptiert werden kann.
Aufgrund seines qualitativen Populismus muss sich der Ur-Faschismus gegen die »verrotteten« parlamentarischen Regime stellen. Einer der ersten Sätze, die Mussolini im italienischen Parlament sagte, war: »Ich hätte diesen trüben grauen Ort in einen Biwak für meine Manipel verwandeln können« — Manipel waren Unterabteilungen der römischen Legionen. Tatsächlich fand Mussolini gleich darauf bessere Unterkünfte für seine Manipel, aber das Parlament löste er dann trotzdem auf. Wann immer ein Politiker die Legitimität des Parlaments in Zweifel zieht, weil es nicht mehr die »Stimme des Volkes« repräsentiere, riecht es nach Ur-Faschismus.
14. Der Ur-Faschismus spricht Newspeak. Orwell hatte Newspeak in 1984 als offizielle Sprache des »Ingsoc« oder Englischen Sozialismus erfunden, aber Elemente des Ur-Faschismus sind verschiedenen Formen von Diktatur gemeinsam. Alle nazistischen oder faschistischen Schulbücher bedienten sich eines verarmten Vokabulars und einer versimpelten Syntax, um das Instrumentarium für komplexes und kritisches Denken zu begrenzen. Aber wir müssen uns bereithalten, auch andere Formen von Newspeak zu identifizieren, selbst wenn sie die unschuldige Form einer populären Talkshow annehmen.
Nachdem ich die möglichen Archetypen des Ur-Faschismus skizziert habe, sei es mir erlaubt, noch einmal auf meine Kindheit zurückzukommen. Am Morgen des 27. Juli 1943 hörten wir im Radio, dass der Faschismus zusammengebrochen und Mussolini verhaftet worden sei. Meine Mutter schickte mich zum Zeitung holen. Ich ging zum nächsten Kiosk und sah, dass die Zeitungen andere Namen hatten. Mehr noch, nach einem kurzen Blick auf die Schlagzeilen wurde mir bewusst, dass jede Zeitung etwas anderes sagte. Ich kaufte aufs Geratewohl eine und las auf der ersten Seite eine Erklärung, die von fünf oder sechs politischen Parteien unterzeichnet war, die Namen wie Democrazia Cristiana, Partito Comunista, Partito Socialista, Partito d’Azione und Partito Liberale trugen. Bis zu jenem Moment hatte ich geglaubt, dass es in jedem Land nur eine Partei gab und in Italien eben diejenige namens Partito Nazionale Fascista. Ich entdeckte, dass es in meinem Land mehrere verschiedene Parteien gleichzeitig geben konnte. Und da ich ein heller Junge war, sagte ich mir sofort, dass diese Parteien unmöglich über Nacht entstanden sein konnten. Ich begriff, dass sie bereits als Untergrundorganisationen existiert hatten.
Die Erklärung auf der Titelseite feierte das Ende der Diktatur und die Rückkehr der Freiheit: Freiheit der Rede, der Presse, der politischen Vereinigung. Diese Worte, »Freiheit«, »Diktatur« — mein Gott! — es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich sie las. Durch die Kraft dieser Worte wurde ich neu geboren als freier westlicher Mensch.
Wir müssen wachsam bleiben, damit der Sinn dieser Worte nicht wieder in Vergessenheit gerät. Der Ur-Faschismus ist immer noch um uns, manchmal in gutbürgerlich-ziviler Kleidung. Es wäre so bequem für uns, wenn jemand auf die Bühne der Welt träte und erklärte: »Ich will ein zweites Auschwitz, ich will, dass die Schwarzhemden wieder über Italiens Plätze marschieren!« Das Leben ist nicht so einfach. Der Ur-Faschismus kann in den unschuldigsten Gewändern daherkommen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven und mit dem Finger auf jede seiner neuen Formen zu zeigen — jeden Tag, überall in der Welt. Die Worte Franklin D.Roosevelts am 4. November 1938 sind es wert, in Erinnerung gerufen zu werden: »Ich wage zu behaupten: wenn die amerikanische Demokratie aufhört, als lebendige Kraft voranzuschreiten, um Tag und Nacht mit friedlichen Mitteln das Los unserer Bürger zu verbessern, wird der Faschismus in unserem Lande an Kraft gewinnen.«
Freiheit und Befreiung sind eine niemals endende Aufgabe. Unser Motto muss heißen: »Nicht vergessen.«
Lassen Sie mich mit einem Gedicht von Franco Fortini schließen:
Sulla spalletta del ponte
Le teste degli impiccati
Nell’acqua della fonte
La bava degli impiccati.
Sul lastrico del mercato
Le unghie dei fucilati
Sull’erba secca del prato
I denti dei fucilati.
Mordere l’aria mordere i sassi
La nostra carne non è più d’uomini
Mordere l’aria mordere i sassi
Il nostro cuore non è più d’uomini.
Ma noi s’è letto negli occhi dei morti
E sulla terra faremo libertà
Ma l’hanno stretta i pugni dei morti
La giustizia che si farà.
Zu deutsch etwa:
Auf dem Geländer der Brücke
Die Köpfe der Gehenkten
Im Wasser des Brunnens
Der Speichel der Gehenkten.
Auf dem Pflaster des Marktes
Die Nägel der Erschossenen
Im dürren Gras der Brache
Die Zähne der Erschossenen.
Zu beißen die Luft zu beißen die Steine
Unser Fleisch ist nicht mehr von Menschen
Zu beißen die Luft zu beißen die Steine
Unser Herz ist nicht mehr von Menschen.
Doch wir lasen in den Augen der Toten
Und werden Freiheit auf Erden schaffen
Umklammert halten die Fäuste der Toten
Die Gerechtigkeit, die dann herrscht.