Das Jahr 2000 rückt näher. Ich werde hier nicht diskutieren, ob das neue Jahrtausend nun in der Nacht zum 1. Januar 2000 beginnt oder erst in der Nacht zum 1. Januar 2001, wie es Mathematik und Chronologie nahelegen würden. Auf dem Gebiet der Symbolik sind Mathematik und Chronologie eine Frage der Meinung, und gewiss ist 2000 eine magische Zahl, deren Zauber man sich nicht leicht entziehen kann, nachdem so viele Romane des vergangenen Jahrhunderts die Wunder des Jahres 2000 angekündigt haben.
Andererseits haben wir gelernt, dass auch in chronologischer Hinsicht die Computer mit ihren Daten bereits am 1. Januar 2000 in die Krise geraten werden und nicht erst am 1. Januar 2001. Unsere Gefühle mögen schwer zu greifen und verwirrt sein, aber die Computer irren auch dann nicht, wenn sie irren: Wenn sie am 1. Januar 2000 irren, liegen sie richtig.
Für wen ist das Jahr 2000 ein magisches Jahr? Für die christliche Welt natürlich, besagt es doch, dass zweitausend Jahre seit der mutmaßlichen Geburt Christi vergangen sind (auch wenn wir wissen, dass Christus keineswegs im Jahre null unserer Zeitrechnung geboren wurde). Wir können nicht »für die westliche Welt« sagen, da die christliche Welt sich auch auf orientalische Kulturen erstreckt, während zur sogenannten »westlichen« Welt auch Israel gehört, das zwar unsere Zählung der Jahre als Common Era betrachtet, aber in seiner Kultur eine andere Zählung praktiziert.
Andererseits hatte im 17. Jahrhundert der Protestant Isaac de la Peyrère entdeckt, dass die chinesischen Chronologien noch viel älter als die jüdischen waren, und er hatte die Hypothese aufgestellt, dass die Erbsünde nur für die Nachkommen Adams gelte, nicht aber für andere, lange vorher geborene Rassen. Natürlich war er zum Häretiker erklärt worden, doch ob er nun aus theologischer Sicht im Unrecht war oder nicht, er reagierte auf eine Tatsache, die heute niemand mehr bezweifelt: Die verschiedenen Datierungsweisen, die in verschiedenen Kulturen gebräuchlich sind, reflektieren verschiedene Theogonien und Historiografien, und die christliche ist nur eine unter vielen. (Ich möchte auch zu bedenken geben, dass die Zählung ab Anno Domini nicht so alt ist, wie man gemeinhin glaubt: Noch im hohen Mittelalter zählte man die Jahre nicht seit der Geburt Christi, sondern seit der mutmaßlichen Erschaffung der Welt.)
Ich denke, man wird das Jahr 2000 auch in Singapur und in Peking feiern, einfach wegen der Dominanz des europäischen Modells. Alle werden vermutlich die Ankunft des neuen Jahrtausends feiern, aber für die Mehrheit der Völker dieser Erde wird sie eher eine kommerzielle Konvention als eine innere Überzeugung sein. Wenn in China lange vor unserem Jahr null eine Hochkultur blühte (und wir wissen ja, dass vor diesem Jahr auch im Mittelmeerraum andere Hochkulturen blühten, wir haben uns nur darauf geeinigt, die Jahre, in denen Platon und Aristoteles lebten, als »vor Christus« zu zählen), was bedeutet es dann, das Jahr 2000 zu feiern? Es bedeutet den Triumph des Modells, das ich nicht das christliche nennen will, denn auch die Atheisten werden das Jahr 2000 feiern, aber jedenfalls das europäische, das bekanntlich, nachdem Christoph Kolumbus Amerika »entdeckt« hat (die Indianer sagen, sie hätten damals uns entdeckt), auch das amerikanische Modell geworden ist.
Wenn wir das Jahr 2000 feiern, welches Jahr wird dann für die Muslime, die australischen Aborigines, die Chinesen sein? Gewiss braucht uns das nicht zu interessieren. Das Jahr 2000 ist unser Datum, es ist ein eurozentrisches Datum, es ist unsere Angelegenheit. Aber einmal abgesehen von der Tatsache, dass das eurozentrische Modell auch die amerikanische Kultur zu dominieren scheint — dabei gibt es auch amerikanische Bürger afrikanischer, orientalischer, indianischer Herkunft, die sich nicht mit diesem Modell identifizieren —, haben wir Europäer überhaupt noch das Recht, uns mit dem eurozentrischen Modell zu identifizieren?
Vor einigen Jahren, als in Paris die Académie Universelle des Cultures gegründet wurde, die Künstler und Wissenschaftler aus allen Ländern der Welt versammelt, ist für diese Akademie eine Charta aufgesetzt worden. Und eine der einleitenden Erklärungen dieser Charta, die auch die wissenschaftlichen und moralischen Aufgaben der neuen Akademie definieren sollte, sagt voraus, dass wir in Europa im nächsten Jahrtausend ein großes »Gemisch von Kulturen« haben werden.
Wenn sich die Entwicklung nicht plötzlich umkehrt (und alles ist möglich), müssen wir uns darauf gefasst machen, dass es in Europa im nächsten Jahrtausend wie in New York oder in einigen lateinamerikanischen Ländern sein wird. In New York erleben wir die Negation des Konzepts vom melting pot, verschiedene Kulturen existieren nebeneinander, Puerto Ricaner und Chinesen, Koreaner und Pakistani; einige Gruppen haben sich miteinander vermischt (wie Italiener und Iren, Juden und Polen), andere bleiben getrennt (in verschiedenen Vierteln, wo sie verschiedene Sprachen sprechen und verschiedene Traditionen pflegen), und alle treffen sich auf der Basis einiger allgemeingültiger Gesetze und einer allgemeingültigen Verkehrssprache, des Englischen, das jeder leidlich genug spricht, um sich verständigen zu können. Ich gebe zu bedenken, dass in New York, wo die sogenannte »weiße« Bevölkerung im Begriff ist, eine Minderheit zu werden, 42 Prozent dieser Weißen Juden sind und die verbleibenden 58 Prozent höchst unterschiedlicher Herkunft (darunter irische, italienische, hispano-amerikanische, polnische Katholiken), sodass die WASPs, die weißen angelsächsischen Protestanten, inzwischen in der Minderheit sind.
In Lateinamerika ist die Entwicklung von Land zu Land unterschiedlich verlaufen: Mal haben die spanischen Siedler sich mit den Indios vermischt, mal auch (wie in Brasilien) mit den Afrikanern, mal sind sogenannte »kreolische« Sprachen und Bevölkerungen entstanden. Es ist oft schwer zu sagen, auch wenn man in »rassischen Blutsbegriffen« argumentieren wollte, ob ein Mexikaner oder ein Peruaner europäischer oder indianischer Herkunft ist, um von einem Jamaikaner gar nicht zu reden.
Nun, so ungefähr wird es auch in Europa sein, und kein Rassist, kein reaktionärer Nostalgiker wird das verhindern können.
Ich denke, man sollte den Begriff »Immigration« von dem der »Migration« unterscheiden. Immigration liegt vor, wenn einige Individuen (es können auch viele sein, aber in statistisch unerheblicher Zahl verglichen mit dem ursprünglichen »Stamm«) sich aus einem Land in ein anderes begeben (wie die Italiener oder die Iren nach Amerika oder heute die Türken nach Deutschland). Immigrationsphänomene können politisch kontrolliert, begrenzt, gefördert, gelenkt oder hingenommen werden.
Nicht so die Migrationen. Gleich ob sie gewaltsam oder friedlich daherkommen, sie sind wie Naturphänomene. Sie treten ein, und niemand kann sie kontrollieren. Migration liegt vor, wenn ein ganzes Volk aus einem Gebiet in ein anderes zieht (wobei es nicht relevant ist, wie viele von ihm im Ursprungsland bleiben, sondern wie radikal es die Kultur des Landes, in das es eingewandert ist, verändert). Es hat in der Geschichte große Ost-West-Migrationen gegeben, in deren Verlauf die Völker des Kaukasus sowohl die Kultur wie das biologische Erbgut der vor Ort Geborenen gründlich verändert haben. Es hat die Migrationen der sogenannten »barbarischen« Völker gegeben, die das Römische Reich überflutet und neue Reiche mit neuen Kulturen hervorgebracht haben, hybride Kulturen, die dann eben »römisch-barbarisch« oder »römisch-germanisch« genannt worden sind. Es hat die europäische Durchdringung des amerikanischen Kontinents gegeben, einerseits von der Ostküste bis nach Kalifornien, andererseits von den karibischen Inseln und Mexiko bis nach Feuerland. Obwohl sie zum Teil politisch gelenkt war, spreche ich auch hier von Migration, weil die aus Europa gekommenen Weißen nicht die Sitten und die Kultur der Eingeborenen übernahmen, sondern eine neue Zivilisation gründeten, der sich die Eingeborenen (soweit sie überlebten) angepasst haben.
Es hat abgebrochene Migrationen gegeben, wie die der Völker arabischer Herkunft bis zur Iberischen Halbinsel. Es hat Formen von gelenkter und partieller, aber deshalb nicht minder einflussreicher Migration gegeben, wie die der Europäer nach Osten und Süden (aus der dann die sogenannten »postkolonialen« Nationen entstanden sind), bei denen die Einwanderer ebenfalls die Kultur der autochthonen Bevölkerung verändert haben. Soweit ich sehe, ist bisher noch keine Phänomenologie der verschiedenen Arten von Migration erstellt worden, aber sicher sind Migrationen etwas anderes als Immigrationen. Immigration haben wir nur, wenn die Immigranten (die aufgrund einer politischen Entscheidung aufgenommen worden sind) in großer Zahl die Lebensweise des Landes, in das sie einwandern, übernehmen. Migration dagegen haben wir, wenn die Ankommenden (die niemand an der Grenze aufhalten kann) die Kultur des Landes tiefgreifend verändern.
Heute, nach einem 19. Jahrhundert voller Wanderungen, stehen wir vor ungewissen Phänomenen. In einem Klima großer Mobilität ist es sehr schwer zu sagen, ob bestimmte Phänomene solche der Immigration oder der Migration sind. Zweifellos gibt es eine unaufhaltsame Bewegung von Süden nach Norden (aus Afrika und Nahost nach Europa), die Inder haben sich in Afrika und auf den pazifischen Inseln angesiedelt, die Chinesen sind überall, und die Japaner sind mit ihren industriellen und ökonomischen Organismen präsent, auch wenn sie nicht physisch in großen Massen herbeiströmen.
Ist es noch möglich, Immigration von Migration zu unterscheiden, wenn der ganze Planet zum Schauplatz sich überkreuzender Wanderbewegungen wird? Ich denke, ja: Immigrationen sind, wie ich schon sagte, politisch kontrollierbar, Migrationen nicht, sie sind wie Naturgewalten. Zynisch gesprochen: Solange man es mit Immigrationen zu tun hat, können die Völker hoffen, die Immigranten in einem Ghetto zu halten, damit sie sich nicht mit den Einheimischen vermischen. Ist es Migration, dann hilft kein Ghetto mehr, und die Vermischung wird unkontrollierbar.
Die Phänomene, die Europa heute noch als Fälle von Immigration zu behandeln versucht, sind indessen schon Fälle von Migration. Die »Dritte Welt« klopft an die Pforten Europas, und sie kommt herein, auch wenn Europa sie nicht hereinlassen will. Das Problem ist nicht mehr zu entscheiden (wie die Politiker zu glauben vorgeben), ob in Paris Schülerinnen mit dem Tschador herumlaufen dürfen oder wie viele Moscheen man in Rom errichten soll. Das Problem ist, dass Europa im nächsten Jahrtausend — da ich kein Prophet bin, kann ich das Datum nicht präziser angeben — ein multiethnischer oder, wenn man so lieber will, ein »bunter« Kontinent sein wird. Ob uns das passt oder nicht, spielt dabei keine Rolle: wenn es uns gefällt, umso besser; wenn nicht, wird es trotzdem so kommen.
Dieses Aufeinandertreffen (oder Zusammenstoßen) verschiedener Kulturen kann blutige Folgen haben, und ich bin überzeugt, dass es sie in gewissem Maße haben wird — sie werden unvermeidlich sein und lange anhalten. Doch die Rassisten müssten eigentlich (theoretisch) eine aussterbende Rasse sein. Hat es nicht ein römisches Patriziertum gegeben, das nicht ertragen konnte, dass auch die Gallier und die Sarmaten und Juden wie Paulus cives Romani werden durften und dass ein Afrikaner den Kaiserthron besteigen konnte, wie es schließlich geschah? Nun, dieses Patriziertum haben wir vergessen. Es ist von der Geschichte überrollt worden. Die römische Zivilisation war eine hybride Zivilisation. Rassisten werden sagen, eben deswegen sei sie zerfallen, aber selbst wenn, dann hat das immerhin fünfhundert Jahre gedauert — ein Zeitraum, der, wie mir scheint, auch uns noch erlaubt, Projekte für die Zukunft zu machen.