In den Jahren 1678 und 1679 trafen sich in Nimwegen Delegierte aus Dutzenden europäischer Länder und Stadtstaaten, um eine Reihe von Kriegen zu beenden, die unseren Kontinent verwüstet hatten. Mit den Friedensverträgen von Nimwegen endeten mehrere zusammenhängende Kriege zwischen Frankreich, den Vereinigten Niederlanden, Spanien, Brandenburg-Preußen, Schweden, Dänemark, dem Fürstbistum Münster und dem Heiligen Römischen Reich. So wurde diese Stadt zu einem Ort der Begegnung für die Vermittler aus ganz Europa, die hier zusammenkamen, um den Kriegen ein Ende zu setzen, die unseren Kontinent im 17. Jahrhundert verheert hatten. Auch wenn diese Verträge später vernachlässigt wurden, waren sie doch (nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges) das erste Beispiel für ein Bemühen, Frieden durch Dialog und Verhandlung zu erreichen. Daher könnte man dieses Ereignis auch als eines der ersten Beispiele für europäische Kooperation und Übereinkunft sehen und als ein Schlüsselereignis der europäischen Geschichte betrachten.
Mehr als zweihundertfünfzig Jahre sind zwischen jenen Verträgen und dem Jahr 1945 vergangen, aber wir können sagen, dass die in Nimwegen geborene Utopie am Ende des Zweiten Weltkriegs verwirklicht wurde.
Für Angehörige meiner Generation ist es ein Anlass zu immerwährender Freude, sich bewusst zu machen (während unsere Kinder und Kindeskinder es als eine Selbstverständlichkeit betrachten), dass es heutzutage unvorstellbar — wenn nicht lächerlich — wäre, an einen möglichen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland, Italien und Großbritannien oder Spanien und den Niederlanden zu denken. Für einen jungen Menschen von heute ist es unbegreiflich (wenn er oder sie nicht gerade Geschichte studiert), dass diese Art von Konflikten in den letzten zwei Jahrtausenden die Norm war. Oft sind auch die Älteren nicht in der Lage, sich das noch wirklich bewusst zu machen, außer vielleicht, wenn sie eine leichte Erregung beim Überqueren binneneuropäischer Grenzen verspüren, weil sie keinen Pass vorzeigen und kein Geld wechseln müssen — während nicht nur unsere Großeltern, sondern auch noch unsere Väter gewohnt waren, dieselben Grenzen mit einer Waffe in der Hand zu passieren.
Seit 1945 hat so gut wie jeder Europäer, fast ohne es zu merken, begonnen, sich als Bewohner nicht nur desselben Kontinents, sondern auch als Angehöriger derselben Kulturgemeinschaft zu fühlen, trotz der vielen unvermeidlichen sprachlichen und kulturellen Unterschiede.
Ich bin kein blauäugiger Idealist und weiß sehr wohl, dass es unter den Europäern, auch wenn sie nicht mehr aufeinander schießen, noch viele Formen von kaum minder gewaltsamen Rivalitäten gibt, die unsere Länder oft trennen — und die gegenwärtige Wirtschaftskrise erzeugt kein neues Gefühl von Bruderschaft, sondern eher eine Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens. Vielleicht hat das Gefühl einer europäischen Identität nicht für alle Bürger der verschiedenen Nationen dasselbe Format und dieselbe Evidenz, aber zumindest unter den eher verantwortlich Denkenden und besonders den gut ausgebildeten Jüngeren (zum Beispiel in der neuen Gemeinschaft von Studierenden, die dank des Erasmusprogramms mit Kommilitonen aus anderen Ländern zusammenleben und oft untereinander heiraten, womit sie einer zweisprachigen Generation den Weg bereiten) hat die Vorstellung, Europäer zu sein, immer mehr um sich gegriffen.
Vielleicht fühlen wir uns noch nicht genügend als Europäer, wenn wir in Europa umherreisen und uns noch an den diversen Gewohnheiten unserer Nachbarn stoßen, aber wir brauchen nur einen anderen Kontinent zu besuchen, um uns bewusst zu machen, dass wir, auch wenn wir diese fernen Länder mögen, sobald wir dort einem anderen Europäer begegnen, plötzlich das Gefühl haben, gleichsam nach Hause zu kommen und mit jemandem zu sprechen, den wir besser verstehen als unsere Gastgeber. Wir spüren plötzlich etwas Familiäres, und so kann es sein, dass ein Italiener sich mit einem Norweger besser versteht als mit einem Amerikaner.
Zahllos sind die Gründe, aus denen ein Franzose anders denken kann als ein Deutscher, aber beide sind geprägt von einer Reihe gemeinsamer Erfahrungen, von einem Wohlstand, der eher durch Arbeitskämpfe erreicht worden ist als durch eine individualistische Erfolgsethik, bis zum einst stolzen und dann gescheiterten Kolonialismus — zu schweigen von der Erfahrung schrecklicher Diktaturen (die wir so genau kennengelernt haben, dass wir nun auch imstande sind, ihre Vorzeichen zu erkennen). Wir sind geimpft durch die Erfahrung vieler Kriege in unseren Ländern; ich denke manchmal, wenn zwei Flugzeuge in die Türme von Notre-Dame oder den Big Ben gerast wären, hätte uns sicher tiefste Bestürzung gepackt, aber ohne das Gefühl unerklärlicher Überraschtheit, verzweifelter Ungläubigkeit und krankhafter Depression, das die Amerikaner ergriff, als sie zum ersten Mal in der Geschichte von einem Feind auf eigenem Grund und Boden angegriffen worden waren. Unsere Tragödien haben uns weise und abgebrüht gemacht, und so sind wir besser darauf vorbereitet, dem Horror zu begegnen. Wir suchen den Frieden, weil wir zu viele Kriege erlebt haben.
Doch wir müssen realistisch sein und zugeben, dass es in Europa trotz allem immer noch Kriege, Hass und Intoleranz innerhalb der eigenen Grenzen gibt. Wir müssen uns bewusst machen, dass uns neue Konfliktformen drohen, auch wenn wir sie noch nicht in ihrer vollen Größe und Bedeutung erkennen.
Wir sind sogar innerhalb unserer Grenzen noch in eine Form von (manchmal unterirdischem) Krieg mit Menschen verwickelt, die zwar in Europa leben, aber die wir — oder jedenfalls viele unserer Landsleute — nicht als Europäer betrachten beziehungsweise, wie man in einigen Ländern sagt, als »Extra-Communitäre«, nicht zur europäischen Gemeinschaft Gehörige, bezeichnen.
[…]
Das Problem, das ein friedliches Europa heute lösen muss, um optimistisch den Sieg des Geistes der Verträge von Nimwegen feiern zu können, ist, fähig zu werden, einen neuen virtuellen Vertrag gegen Intoleranz zu unterzeichnen.
Der Kampf gegen unsere Intoleranz betrifft nicht nur die sogenannten Extra-Communitären: Es ist eine Illusion, die neuen Fälle von Antisemitismus als eine marginale Krankheit zu betrachten, die nur einen verirrten Rand der Gesellschaft betrifft. Jüngst vorgefallene Ereignisse lehren uns, dass das Gespenst dieser tausendjährigen Obsession noch immer unter uns umgeht.
Heute in Nimwegen, wo wir die erste Utopie eines europäischen Friedens feiern, müssen wir dem Rassismus den Krieg erklären. Wenn wir nicht imstande sind, diesen ewigen Feind zu besiegen, werden wir uns immer im Krieg befinden, auch wenn wir unsere Waffen auf den Dachboden verbannt haben — schließlich sind immer noch viele Waffen in Umlauf, wie kürzlich auf der Insel Utøya zu sehen war oder auch bei dem Terroranschlag auf die jüdische Schule in Toulouse.
[…]
Allerdings hat der Kampf gegen Intoleranz seine Grenzen. Unsere Intoleranz zu bekämpfen heißt nicht, dass wir jede Sicht der Welt hinnehmen und den ethischen Relativismus zur neuen europäischen Religion machen müssen. Während wir unsere Mitbürger und besonders unsere Kinder zu einer weltoffenen Toleranz erziehen, müssen wir gleichzeitig zugeben, dass es Gewohnheiten, Vorstellungen und Verhaltensweisen gibt, die für uns inakzeptabel sind und bleiben müssen. Manche Werte, die typisch für die europäische Sicht der Welt sind, repräsentieren ein Erbe, auf das wir nicht verzichten können. Zu entscheiden und anzuerkennen, was innerhalb einer toleranten Weltsicht für uns intolerabel wäre, ist die Art von Grenzlinie, die wir Europäer jeden Tag neu ziehen müssen, mit Sinn für Gerechtigkeit und ständiger Ausübung jener Tugend, welche die Philosophen seit Aristoteles Klugheit nennen.
Klugheit in diesem philosophischen Sinn heißt nicht Risikoscheu, und sie fällt auch nicht mit Feigheit zusammen. Im klassischen Sinne von phronesis ist Klugheit die Fähigkeit, sich zu beherrschen und durch Gebrauch der Vernunft zu disziplinieren, und als solche ist sie zu einer der vier Kardinaltugenden erhoben und oft mit Weisheit und Einsicht assoziiert worden, das heißt mit der Fähigkeit, zwischen tugend- und lasterhaftem Handeln zu unterscheiden, nicht nur im allgemeinen Sinne, sondern im Hinblick auf richtiges Handeln zur gegebenen Zeit am gegebenen Ort.
Im Verlauf unseres gemeinsamen Krieges gegen die Intoleranz muss es möglich sein, jederzeit zwischen Tolerablem und Intolerablem zu unterscheiden. Es muss möglich sein zu entscheiden, wie wir eine neue Pluralität von Werten und Gewohnheiten akzeptieren können, ohne dabei auf das Beste unseres europäischen Erbes zu verzichten. Ich bin heute nicht hier, um Lösungen für das fundamentale Problem eines neuen europäischen Friedens vorzuschlagen, sondern um zu betonen, dass wir nur dann, wenn wir uns der Herausforderung dieses allgegenwärtigen Krieges stellen, eine wahrhaft friedliche Zukunft haben werden.
Wir müssen heute einen neuen Vertrag von Nimwegen unterzeichnen.