Als zu Beginn der achtziger Jahre einige afrikanische Beobachter nach Frankreich eingeladen wurden, um uns zu sagen, wie die französische Gesellschaft in ihren Augen aussah, und als diese Initiative 1988 mit einer Einladung afrikanischer und chinesischer Beobachter nach Bologna wiederholt wurde, erinnerten diese Experimente stark an das, was Montesquieu einst in seinen Persischen Briefen schilderte, nur dass Montesquieu sich dabei in die Lage eines fiktiven Persers versetzt hatte, während es sich bei den beiden Expeditionen nach Europa um echte »Perser« handelte.
Die Kulturen haben sich schon immer gegenseitig beobachtet, aber in der Regel kannten wir Europäer nur die Beobachtungen, die wir selbst über die anderen anstellten. Die griechischen Historiker hatten die Sitten und Bräuche der Perser beschrieben, die römischen die der Germanen und Gallier. Manchmal wurden diese »Andersartigen« als Barbaren beschrieben oder in hellenistischer Zeit und im Mittelalter als Bewohner legendärer Orte, die von Monsterwesen nur so wimmelten. Oft wurden die »Andersartigen« auch idealisiert als die Erben einer verlorenen Weisheit, und so entstand der Mythos von den Ägyptern als eine Erfindung griechischer Philosophen, ähnlich wie es im Mittelalter zur Legende vom Priester Johannes kam und in der Renaissance zur Wiederentdeckung der chaldäischen Weisheit. Dann folgte die Zeit der Neugier, des Wunsches nach Beschreibung und Entzifferung unbekannter Gebräuche und fremden Wissens, von Marco Polo bis zu den jesuitischen Erforschern Asiens.
Schließlich hat die moderne Kulturanthropologie bzw. Ethnologie versucht, die erworbenen Kenntnisse besser zu dokumentieren, die Systeme andersartiger Kulturen von innen heraus zu rekonstruieren — und dies nicht nur, um exotische Völker zu verstehen, sondern auch, um unsere eigenen Darstellungsweisen der Welt durch Konfrontation mit anderen Denkarten infrage zu stellen.
Doch in diesem Bemühen um Perfektionierung der eigenen Methoden, in diesem ambivalenten Spiel eines falschen Bewusstseins, in dem sich ein ehrlicher Wunsch zu verstehen mit dem Missionsgefühl des zivilisationsbringenden weißen Mannes und dem Schuldgefühl der Kolonisierung mischten, hat die moderne Kulturanthropologie eine Kaste westlicher Beobachter hervorgebracht, die sich für fähig hielten, die anderen zu verstehen, aber wenig darauf achteten, wie die anderen uns verstanden — was auch daran lag, dass die anderen von uns nur das wahrnahmen, was wir in ihre jeweiligen Länder exportierten.
Mit Verspätung haben wir Westler daher bemerkt, dass auch die anderen uns betrachteten. Erst kürzlich haben wir die Texte wiederentdeckt, in denen die Indianer der Neuen Welt beschrieben, wie sie die ersten Europäer sahen, und es ist noch nicht lange her, dass wir die Erlebnisse der Kreuzfahrer aus muslimischer Sicht zu lesen bekamen.
Das Projekt von Transcultura*2 hatte anfangs das Ziel, ein Netzwerk alternativer Blicke oder Sichtweisen zu knüpfen. Natürlich bestand dieses Ziel nicht darin, einen »guten Wilden« nach Europa zu bringen, der keinerlei Informationen über die Welt besaß, in die er kommen würde. Abgesehen davon, dass es diesen »guten Wilden« in einer globalen Zivilisation nicht mehr gibt — selbst wenn sich irgendwo in einer entlegenen Savanne noch einer fände, den man nach Europa holen könnte, wäre er nicht imstande, uns die für ihn andersartige Kultur ohne Mittelsperson zu beschreiben, denn seine Sicht würde uns nur durch den Filter der Interpretation eines westlichen Ethnologen erreichen. Doch wie auch immer, in jedem Fall waren die nichteuropäischen Forscher, die wir nach Bologna eingeladen hatten, kultivierte Leute.
Einige von ihnen waren hochrangige Universitätsdozenten, aber auch Diawné Diamanka, der in traditionellem Gewand erschien und praktisch nur seine eigene Sprache sprach, spielte als Erzähler, »Journalist« und »Historiker« seines Volkes eine gesellschaftlich und intellektuell bedeutende Rolle.
Einerseits waren sie kultivierte Leute, die sich zum ersten Mal in Europa befanden und daher die Frische und psychische Unvoreingenommenheit derer besaßen, die ein noch unbekanntes Land erkunden; andererseits waren sie aber auch imstande, ihre eigenen Reaktionen auf das Gastland zu beobachten und in Worte zu fassen, sodass wir an ihrer Erfahrung teilhaben konnten. Und schließlich waren sie als Bürger einer Welt, der weder Presse noch Film und Fernsehen unbekannt sind, auch über die Realitäten der westlichen Länder im Bilde, so wie jeder von uns, der zum ersten Mal in ein Land wie Mali reist, gewöhnlich schon einigermaßen weiß, was er zu erwarten hat, weil er darüber gelesen und Filmberichte gesehen hat. Wenn wir herausfinden wollen, was es in uns an Eigenheiten gibt, an charakteristisch Eigenem jenseits dessen, was uns mit der ganzen Menschheit verbindet, dann hilft uns nicht die unermessliche Distanz eines »fernen Blicks«, sondern eher eine vernünftige Nähe zu unserem Beobachtungsgegenstand. Der antike Reisende, der auf Menschen mit monströser Gestalt und seltsamen Bräuchen stieß, entdeckte nicht deren Andersartigkeit, sondern deren Fremdheit. Die Fremdheit fasziniert uns, sie macht uns keine Angst. Niemand, jedenfalls in Europa, empfindet Ekel vor den australischen Ureinwohnern. Niemand hat jemals rassistisch auf die Begegnung mit Eskimos reagiert. Der Rassismus, der die pathologische Form einer natürlichen Reaktion auf Andersartigkeit ist, entsteht aus Nähe, aus enger Nachbarschaft zu jemandem, der uns, von ein paar Details abgesehen, beinahe gleicht. Rassismus entsteht aus einem »beinahe« und speist sich aus ihm.
Doch in gleicher Weise entsteht und speist sich aus diesem »beinahe« auch die Fähigkeit, Diversität zu erkennen, zu beschreiben und zu rechtfertigen. Niemand von uns wäre imstande, die Welt der australischen Ureinwohner genau zu beschreiben, selbst wenn er sich die Mühe gemacht hätte, viele Monate lang unter ihnen zu leben. Doch wir brauchen uns bloß fünfzig Kilometer von unserem Heimatort zu entfernen, und schon bemerken wir plötzlich die Unterschiede, die uns von unseren Nachbarn trennen, von ihrer Art zu reden, aufzutreten und sich zu benehmen, bis hin zu ihren charakteristischen Physiognomien und Verhaltensweisen. Die Versuchung ist groß, diese Unterschiede als Mängel, als Fehler und charakterliche Deformationen zu interpretieren. Doch in jedem Fall sind wir imstande zu sagen, in welchem Sinne sich diese Menschen von uns unterscheiden.
Die Tatsache, dass es Kulturen gibt, in denen Spaghetti mit Stäbchen gegessen werden, stört uns nicht nur nicht, sondern regt uns sogar auf unterhaltsame Weise zur Nachahmung an. Doch wenn ein Deutscher die Spaghetti zwar wie ein Italiener mit der Gabel isst, diese aber auf eine Weise hält, die Italienern ganz ungehörig erscheint (und womöglich sogar noch ein Messer zu Hilfe nimmt), werden die Italiener das stets unerträglich skandalös finden.
So haben die beiden ersten Phasen dieses Experiments in alternativer Ethnologie einerseits kuriose Resultate erbracht, die wie erfunden klangen, aber absolut echt waren — etwa als der afrikanische Erzähler voller Verblüffung entdeckte, dass französische Frauen ihre Hunde beim Gassigehen auf der Straße an der Leine führen, oder als er fassungslos sah, wie Europäer sich nackt am Strand tummelten, was für Bewohner des »schwarzen Kontinents« einen totalen Mangel an Würde offenbart. Andererseits haben sie aber auch maliziöse und gewollt polemische Resultate erbracht — wie etwa die Interpretation der italienischen Manieren durch den Chinesen Wang Bin, der diese, obwohl er dieselben Bücher wie wir gelesen hat, gerade bestärkt durch diese Nähe erschreckend anders beurteilt und unverzeihlich findet.
Aber es wäre ein leichtes Spiel, diese Experimente noch weiter zu treiben — etwa derart, dass nun, nachdem man die Regeln des Spiels verstanden hat, auch ein Europäer seine eigene Welt so beschreiben könnte, wie ein Chinese sie sieht, und sich dann womöglich darüber empört, dass wir keine Hunde essen, so wie sich die Engländer darüber empören, dass die Franzosen Frösche verspeisen.
Von hier an haben die Initiativen von Transcultura jene Form angenommen, die ich als reziproke Ethnologie definiert habe. Nicht mehr nur die einen (die Aktiven) beobachten die anderen (die Passiven), sondern die einen wie die anderen tun es als Vertreter verschiedener Kulturen, die sich gegenseitig analysieren oder einander zeigen, wie unterschiedlich man auf gleiche Erfahrungen reagieren kann.
In diesem Geist kam es 1993 zur ersten Reise nach China und sieben Jahre später zu der nach Mali. Es handelte sich um Wanderseminare, séminaires itinérants, wie wir sie nannten, bei denen in den verschiedenen Etappen der Reise die verschiedenen Sichtweisen der Teilnehmer einander gegenübergestellt wurden, was manchmal zu Situationen einer »reziproken Ethnologie hoch zwei« führte, da nicht nur zum Beispiel die Chinesen uns Europäern erklärten, wie sie die Welt sahen, sondern wir Europäer selbst auch den Chinesen erzählten, wie wir sie wahrnahmen und umgekehrt.
Im gleichen Maß wie dieses Experiment sich entwickelte, hat Transcultura dann versucht, sich in eine Art Transkultur-Enzyklopädie zu verwandeln.
Am Anfang stand die Idee, mit vereinten Kräften ein Werk zu produzieren, das die gemeinsamen Werte und Prinzipien der verschiedenen Kulturen zu identifizieren suchte, indem es von Schlüsselbegriffen wie Friede, Krieg, das Schöne oder das Imperium ausging. Aber sehr bald schon wurde uns klar, dass, um die gemeinsamen Elemente zu finden, jede Kultur sich einer extremen Entschlackungskur unterziehen müsste, bei der alle Unterschiede abgeräumt würden, um einen gemeinsamen Kern herauszuschälen, bis schließlich die innersten Kräfte der ursprünglichen Konzepte auf null reduziert wären — als hätte ein Imam in Timbuktu exakt dieselben Welt- und Wertvorstellungen wie ein Ingenieur in Lille. Das Problem bestand im Gegenteil eher darin zu zeigen, wie unterschiedlich gewisse Begriffe sein können, die uns auf den ersten Blick, ausgehend von einer Rohübersetzung, als gleichbedeutend erscheinen. So zum Beispiel, nur um eine Ahnung von den Zielen dieser zweiten Phase unseres Projekts zu bekommen, die abgrundtiefen Unterschiede, die den chinesischen Begriff des »Reiches« vom mittelalterlich-europäischen Reichsbegriff trennen.
Einander als Angehörige verschiedener Kulturen zu verstehen heißt nicht zu evaluieren, was es jeden kostet, den jeweils anderen gleich zu werden, sondern wechselseitig zu verstehen, was uns trennt, und die jeweilige Andersartigkeit zu akzeptieren.
Rassismus zu eliminieren heißt nicht zu beweisen und sich zu überzeugen, dass die Anderen nicht anders als wir sind, sondern ihre Andersartigkeit zu verstehen und zu akzeptieren.
In diesem Sinne sollten die Begegnungen von Transcultura, einschließlich der künftigen, auch erlauben, geeignete pädagogische Mittel zu entwickeln, um die Mentalitäten bereit zur Akzeptanz des Anderen zu machen.
Um mit einer alten chinesischen Weisheit zu schließen, an die Zhao Tingyang erinnerte: Wer echte Harmonie zwischen den Völkern erreichen will, muss wissen, dass Harmonie nicht Gleichförmigkeit heißt. »Jedes Ding wird verkümmern, wenn es genauso wird wie die anderen. Harmonie lässt die Dinge gedeihen, Gleichförmigkeit lässt sie verkümmern.«