Kapitel 3
Die Macht zu überzeugen
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Macht in diesem engeren Sinn bedeutet Priorität der Leistung (output) gegenüber der Empfänglichkeit (intake), bedeutet die Möglichkeit, zu reden anstatt zuzuhören. Macht hat in gewissem Sinne derjenige, der es sich leisten kann, nichts lernen zu müssen.

– Karl Deutsch, Politische Kybernetik, 19632

Wir werden von Personen regiert, deren Namen wir noch nie gehört haben. Sie beeinflussen unsere Meinungen, unseren Geschmack, unsere Gedanken.

— Edward Bernays, Propaganda, 19283

Die Richtung des Fortschritts und folglich die Entscheidung darüber, wer gewinnt und wer verliert, hängt von den Visionen ab, an denen sich eine Gesellschaft orientiert. So war Ferdinand de Lesseps‹ Vision – in Verbindung mit einer gehörigen Portion Vermessenheit – ursächlich für das Debakel, in dem der Bau des Panamakanals endete. Wie ist es dann zu erklären, dass sich seine Vision allgemein durchsetzte? Warum hat sie Menschen dazu gebracht, trotz verschwindend geringer Erfolgsaussichten ihr Geld und ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Die Antwort lautet: durch Lesseps‹ soziale Macht und insbesondere seine Macht, Tausende von Kleininvestoren zu überzeugen.

Seine gesellschaftliche Stellung, seine politischen Verbindungen und sein spektakulärer Erfolg bei der Realisierung des Suezkanalprojekts verschafften Lesseps eine außerordentlich hohe Glaubwürdigkeit. Er hatte Charisma, das von einem fesselnden Narrativ gestützt wurde. Er überzeugte die französische Öffentlichkeit und französische Investoren sowie Personen mit politischer Macht davon, dass der Bau eines Kanals in Panama dem Land Wohlstand und weitere Vorteile bringen würde. Seine Vision wirkte auch deshalb glaubwürdig, weil sie sich auf die bestmögliche bautechnische Expertise zu stützen schien. In vollkommenem Einvernehmen mit seinen Geldgebern stellte Lesseps zudem klar, wessen Interessen wirklich zählten: Es ging ihm vor allem um französische Belange und Prestigegewinn sowie um finanzielle Erträge für seine europäischen Investoren.

Mit einem Wort, Lesseps besaß Überzeugungskraft. Sein Erfolg hatte ihn berühmt gemacht, man schenkte ihm Gehör, er hatte das Selbstbewusstsein, offensiv für seine Ansichten zu werben, und er konnte Themen auf die Tagesordnung setzen.

Macht ist die Fähigkeit eines Einzelnen oder einer Gruppe, ausdrücklich benannte oder unausgesprochene Ziele zu verwirklichen. Wenn zwei Menschen denselben Laib Brot wollen, entscheidet Macht darüber, wer ihn bekommt. Doch das fragliche Ziel muss nicht materieller Natur sein. Manchmal geht es auch darum, wessen technologische Zukunftsvision sich durchsetzen wird.

Vielleicht meinen Sie, Macht sei ihrem Wesen nach letztlich die Fähigkeit, Zwang auszuüben. Das ist so nicht richtig. Zwar haben fortwährende Reibungen zwischen und innerhalb von Gesellschaften, die in Invasionen und Unterwerfungen gipfelten, Gewalt zu einem Phänomen gemacht, das sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurchzieht. Selbst in Friedenszeiten schwebt das Damoklesschwert von Krieg und Gewalt ständig über den Köpfen der Menschen. Wenn man von gegnerischen Horden überrannt wird, hat man keine große Chance, seinen Wunsch nach einem Laib Brot erfüllt zu bekommen oder seine Meinung frei äußern zu können.

Dennoch setzt die moderne Gesellschaft auf Überzeugungskraft. Nicht viele Präsidenten, Generäle oder Häuptlinge sind so mächtig, dass sie ihre Soldaten dazu zwingen können, in die Schlacht zu ziehen. Wenige politische Führer können eine Gesetzesänderung einfach anordnen. Man hört auf sie, weil Institutionen, Normen und Überzeugungen ihnen hohes Ansehen und Prestige verleihen. Die Menschen folgen ihnen, weil sie dazu überredet worden sind, ihnen zu folgen.

Im Verlauf der ersten Dekade nach Beginn der Französischen Revolution im Jahr 1789 wurde in Frankreich eine Reihe republikanischer politischer Institutionen gegründet. Aber es herrschte auch eine Menge Chaos und Unordnung, einschließlich mehrerer Staatsstreiche und regelrechter Hinrichtungswellen. Als Napoleon Bonaparte im Jahr 1799 an die Macht kam, hielt man ihn für jemanden, der die Grundprinzipien der Revolution wie die Gleichheit vor dem Gesetz, das Bekenntnis zur Wissenschaft und die Abschaffung aristokratischer Vorrechte bewahren und zugleich mehr Stabilität bringen würde.

Nach einer Reihe militärischer Triumphe krönte sich Napoleon im Jahr 1804 selbst zum Kaiser. Von da an war er sowohl ein treuer Sohn der Revolution (vielleicht) als auch oberster Herrscher (auf jeden Fall), dessen unumschränkte politische Herrschaftsgewalt sich auf sein enormes Ansehen in der Bevölkerung stützte. Hunderttausende französische Rekruten und Freiwillige folgten Napoleon nach Italien, quer durch Europa und tief nach Russland hinein. Dies lag nicht daran, dass er ihnen besondere wirtschaftliche Anreize geboten hätte. Und es lag auch nicht bloß daran, dass er der Kaiser war oder dass die französische Armee unter seinem Befehl über ein eindrucksvolles Arsenal an Geschützen verfügte.

Bei seiner Rückkehr nach Frankreich zeigte sich deutlich, wie stark Napoleons Überzeugungskraft war. Nach einer Reihe von Niederlagen war er abgesetzt und nach Elba verbannt worden. Anfang des Jahres 1815 gelang ihm die Flucht von der Insel und er landete mit einer kleinen Schar von Getreuen an der französischen Mittelmeerküste. Auf seinem Zug nach Norden wurde er in der Nähe von Grenoble von Soldaten des 5. Linienregiments abgefangen. Zu diesem Zeitpunkt verfügte Napoleon über keine formelle politische Macht, keine finanziellen Mittel und keine nennenswerte Zwangsgewalt.

Aber er verfügte nach wie vor über sein persönliches Charisma. Er stieg von seinem Pferd und schritt auf die Soldaten zu, die ihn festnehmen sollten. Als er in Schussweite war, sagte er mit fester Stimme: »Soldaten des 5. Regiments, erschießt mich, wenn ihr den Schneid dazu habt! Ich bin es, euer Kaiser, erkennt ihr mich denn nicht? Bin ich nicht euer alter General?«4 Die Soldaten stürmten unter »Vive l’Empereur«-Rufen auf ihn zu. Napoleon selbst urteilte später so über diese Episode: »Vor Grenoble war ich ein Abenteurer; in Grenoble wurde ich zum Herrscher.« Innerhalb von nur acht Wochen gelang es dem Kaiser, der sich selbst wiedereingesetzt hatte, eine 280 000 Soldaten starke Armee aufzubringen und gegen seine europäischen Feinde ins Feld zu führen.

Durch seine Überzeugungskraft besaß Napoleon bezwingenden Einfluss und große politische Macht. Im Verlauf der nächsten zweihundert Jahre nahmen Macht und Bedeutung der Überredungskunst noch weiter zu, wie der US-Finanzsektor eindringlich vor Augen führt.

Wie soziale Macht und politische Macht stützt sich auch wirtschaftliche Macht auf die Fähigkeit, andere mit mehr oder weniger Zwang zu überzeugen. Heute ist sie allgegenwärtig, insbesondere in den Vereinigten Staaten. Eine kleine Gruppe von Leuten ist sagenhaft reich, und dieser Reichtum verschafft ihnen eine herausgehobene gesellschaftliche Stellung und erhebliche politische und soziale Mitspracherechte. Eine der sichtbarsten Ballungen wirtschaftlicher Macht ist die Wall Street – das Netzwerk aus den größten US-Banken und den Bankmanagern an ihrer Spitze.

Woher kommt die Macht der Wall Street? Die Ereignisse im Vorfeld und während der Weltfinanzkrise von 2007–2008 liefern uns eine klare Antwort.

Der US-Bankensektor war lange Zeit fragmentiert; es gab viele kleine Finanzinstitute und einige mächtige nationale Akteure. Nach einer Deregulierungswelle in den siebziger Jahren begannen einige der größeren Banken wie Citigroup zu expandieren, und sie schlossen sich mit anderen Instituten zu Konglomeraten zusammen, die so gut wie alle Arten von Finanzgeschäften anboten. Offiziell, aber auch inoffiziell lautete die Devise damals »groß ist effizienter«, und entsprechend glaubte man, sehr große Banken könnten bessere Leistungen bei geringeren Kosten erbringen.

Auch der internationale Wettbewerb spielte eine Rolle. Mit zunehmender Integration des europäischen Wirtschaftsraums wurden die hier ansässigen Finanzdienstleistungsunternehmen immer größer, und sie waren immer besser in der Lage, ihre Geschäfte über nationale Grenzen hinweg zu tätigen. Die Chefs großer US-Banken forderten, genauso uneingeschränkt wie ihre europäischen Pendants weltweit agieren zu können, um so von den gleichen, mit zunehmender Größe und globaler Präsenz verbundenen Vorteilen zu profitieren. Journalisten, Finanzminister und die Leiter internationaler Finanzmarktregulierungsbehörden nahmen ihnen dieses Narrativ bereitwillig ab.

Am Vorabend der Weltfinanzkrise von 2008 waren einige dieser Banken hohe Risiken eingegangen, indem sie Wetten auf weiter steigende Immobilienpreise abgeschlossen hatten. Aufgrund dieser übermäßigen Risikobereitschaft und der hohen Kreditaufnahme erwirtschafteten sie künstlich aufgeblähte Gewinne, die ihren Führungskräften und Tradern enorme Boni einbrachten. Verglichen mit dem in diesen Instituten investierten Kapital waren die Erträge sehr hoch – aber nur so lange, wie alles gut lief. Komplexe Finanzinstrumente, sogenannte Derivate, wurden ebenfalls zu einer sprudelnden Ertragsquelle für die Branche. Der Handel mit Optionen, Swaps und anderen Instrumenten trieb während der Boom-Jahre die ausgewiesenen Gewinne in die Höhe. In der ersten Hälfte der Nullerjahre steuerte allein der Bankensektor über 40 Prozent zur Gesamtsumme der Unternehmensgewinne in den USA bei. Aber schon bald wurde auf schmerzhafte Weise deutlich, dass die gleiche Finanzstruktur zu einer erheblichen Ausweitung der Verluste führte, die einige Investmenthäuser aufgrund sinkender Immobilien- und sonstiger Vermögenspreise verzeichneten. Auf beiden Seiten des Atlantiks rieten Entscheidungsträger in Finanzministerien und Zentralbanken eindringlich, Banken und Banker vor finanziellen Verlusten zu schützen, selbst wenn deren Führungskräfte in zutiefst fragwürdige und potenziell illegale Aktivitäten verstrickt waren, wie etwa die Irreführung von Kreditnehmern oder die Täuschung der Märkte und Aufsichtsbehörden über bestehende Risiken. Nach Aussage hochrangiger Vertreter des US-Justizministeriums war es schwierig, die dafür Verantwortlichen strafrechtlich zu belangen, sodass diese Banken aufgrund ihrer Größe de facto »immun gegen Strafverfolgung« waren.6 Diese faktische strafrechtliche Immunität und der spätere Zugang zu staatlichen Finanzhilfen in beispielloser Höhe hatte nichts damit zu tun, dass Bankmanager in der Lage gewesen wären, Gewalt anzuwenden.

Aber diese Banken waren nicht nur »zu groß, um sie strafrechtlich zu belangen«, sie waren auch »zu groß, um sie pleitegehen zu lassen«. Großzügige Rettungspakete wurden geschnürt, weil die Banken und andere Finanzkonzerne politische Entscheidungsträger davon überzeugten, dass das, was gut für diese Unternehmen und ihre Führungskräfte sei, auch gut für die Wirtschaft insgesamt sei. Nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 setzte sich die Auffassung durch, dass weitere Insolvenzen führender Finanzunternehmen zu systemischen Problemen mit schädlichen Folgen für die gesamte Volkswirtschaft führen würden.

Daher galt es, die Großbanken und andere große Finanzunternehmen – ihre Aktionäre, Gläubiger, Führungskräfte und Trader – so weit wie möglich zu schützen und die staatlichen Hilfspakete mit nur wenigen Auflagen zu versehen. Dieses Narrativ war so wirkmächtig, weil es sich überzeugend anhörte. Und es war überzeugend, weil politische Entscheidungsträger es als gesamtwirtschaftlich sinnvoll und nicht bloß als einen großzügigen Insiderdeal für Banker ansahen. So gut wie jeder, auf den es ankam, einschließlich Finanzjournalisten und Ökonomen, begann sich diese Sichtweise in Bezug auf die erforderlichen Maßnahmen zu eigen zu machen. Noch lange nach diesen Beschlüssen rühmten sich führende Entscheidungsträger, sie hätten die amerikanische Wirtschaft, aber auch die Weltwirtschaft dadurch gerettet, dass sie den Großbanken aus der Patsche halfen.

Zunächst mag Überzeugungskraft als etwas erscheinen, was schwer fassbar ist. Politische Macht basiert auf politischen Institutionen (den Spielregeln für die Gesetzgebung und die Entscheidung darüber, wer exekutive Befugnisse erhält) und auf der Fähigkeit verschiedener Personen und Gruppen, erfolgreiche politische Koalitionen zu bilden. Wirtschaftliche Macht basiert auf der Herrschaft über wirtschaftliche Ressourcen und ihre möglichen Nutzungsweisen. Die Fähigkeit zur Zwangsausübung beruht auf der Verfügungsmacht über Gewaltmittel. Aber worauf beruht Überzeugungskraft?

Die Rettung der Großbanken, ihrer Führungskräfte und Gläubiger verdeutlicht, dass sich Überzeugungskraft aus zwei Quellen speist: der Macht von Ideen und der Fähigkeit, Schwerpunktthemen auf die Tagesordnung zu setzen (Agenda-Setting).

Einige Ideen besitzen insbesondere dann, wenn sie im richtigen Kontext und mit Nachdruck zum Ausdruck gebracht werden, eine große Überzeugungskraft. Ideen verbreiten sich und werden einflussreich, wenn sie sich von selbst reproduzieren, das heißt, wenn sie viele Menschen überzeugen, die diese Konzepte dann ihrerseits übernehmen und weiterverbreiten. Eine Idee, die aufgegriffen wird, ist eine starke Idee.

Ob eine Idee anerkannt, übernommen und verbreitet wird, hängt von vielen Faktoren ab – einige davon sind institutioneller Natur, andere hängen zusammen mit sozialem Status und den Netzwerken, die sie verbreiten, und wieder andere beziehen sich auf Eigenschaften der Personen, die sie propagieren, wie etwa ihr Charisma. Unter ansonsten gleichen Bedingungen verbreitet sich eine Idee eher, wenn sie einfach ist, in ein ansprechendes Narrativ eingebettet wird und sich wahr anhört. Es hilft auch, wenn sich Personen mit dem richtigen sozialen Status für sie einsetzen – zum Beispiel solche, die ihre Führungskompetenz unter Beweis gestellt haben und die von angesehenen Autoritäten wie dem Institut de France im Fall Napoleons oder von Professoren für Finanzwirtschaft und Rechtswissenschaft im Fall der Wall Street unterstützt werden.

Ideen trugen mit dazu bei, dass die Wall Street in der Lage war, die Politik und die Regulierungsmaßnahmen zu beeinflussen. Die Manager, die diese Finanzkonglomerate aufbauten, waren der Ansicht, eine moderne Volkswirtschaft sei auf das reibungslose Funktionieren einiger weniger Finanzkonzerne angewiesen und der Staat solle sich mit regulatorischen Eingriffen zurückhalten. Die Vorstellung, große Finanzkonzerne seien gesamtwirtschaftlich wünschenswert, gewann dadurch an Glaubwürdigkeit, dass die Bedeutung der Finanzbranche innerhalb der Wirtschaft wuchs und ebenso ihr Ansehen. Die üppigen Gehälter, die man hier verdienen konnte, und der luxuriöse Lebensstil, den diese erlaubten, wurden in Kinofilmen und Zeitungsartikeln genüsslich ausgebreitet.

Die große Resonanz, auf die Michael Lewis‹ Bestseller über Anleihenhändler, Wall Street Poker, bei seiner Veröffentlichung im Jahr 1989 stieß, verdeutlicht das Prestige und die Gier, die mit einem Job in dieser Branche einhergingen.7 Für sein Buch griff Lewis auf seine eigenen Erfahrungen als Anleihenhändler zurück; es war zum Teil eine Kritik an den Geschäftspraktiken, Werten und der Arroganz der großen Finanzkonzerne. Lewis hatte gehofft, so sagt er, das Buch würde Leute davon abhalten, für solche Finanzunternehmen zu arbeiten. Doch zum Zeitpunkt seines Erscheinens war die Anziehungskraft der Wall Street so groß geworden, dass ehrgeizige Studenten, die das Buch lasen, sich von den skrupellosen Charakteren und der herzlosen Kultur des Finanzsektors nicht abschrecken ließen. Einige schrieben an Lewis und fragten ihn, ob er ihnen noch weitere Karriereratschläge geben könne. Nach Lewis‹ eigener Einschätzung wurde das Buch in der Wall Street zu einem Instrument für die Anwerbung neuer Mitarbeiter.

Woher kommen überzeugende Ideen? Was entscheidet darüber, ob ein Einzelner oder eine Gruppe das Charisma oder die Ressourcen besitzt, um erfolgreich für solche Ideen zu werben? Man kann mit Sicherheit sagen, dass dieser Prozess in einem nicht geringen Ausmaß zufallsabhängig ist. Kreativität und Talent sind natürlich wichtig, und Gesellschaften und ihre Regeln beeinflussen in erheblichem Umfang, wer über einen hohen sozialen Status und Charisma verfügt und wer seine Talente und seine Kreativität entwickeln kann.

In vielen Gesellschaften werden Minderheiten, Frauen und Gruppen, die keine wirtschaftlichen oder politischen Mitwirkungsrechte besitzen, nicht nur davon abgehalten, ihre Ideen zum Ausdruck zu bringen, sondern auch bereits davon, überhaupt originelle Ideen zu entwickeln. Ein extremes, aber vielsagendes Beispiel liefert in dieser Hinsicht Britisch-Westindien, wo es auf dem Höhepunkt der Plantagenwirtschaft verboten war, versklavten Menschen Lesen beizubringen. Auch blieb während des größten Teils der Geschichte Frauen der Zugang zu Führungsposition in Wissenschaft und Wirtschaft verwehrt.

Sogar Charisma hängt von Institutionen und Bedingungen ab. Es ist nicht einfach etwas Angeborenes; es beruht auf Selbstvertrauen und sozialen Netzwerken. Die Macht der Großbanken zum Beispiel stützte sich nicht nur auf Ideen und Narrative. Bankenvorstände und -aufsichtsräte gehörten sozialen Netzwerken an, die immense wirtschaftliche Macht besaßen und diese Ideen und Narrative propagierten. Die Idee, große Finanzkonzerne seien gesamtwirtschaftlich nützlich, wurde von Ökonomen und Abgeordneten übernommen, die nur allzu bereitwillig theoretische und empirische Belege für die Richtigkeit dieser Ideen beibrachten.

Noch so viel Kreativität, Charisma und Fleiß bieten keine Gewähr dafür, dass ein Akademiker oder ein Unternehmer eine Idee hat, die auf große Resonanz stoßen wird. Vorherrschende Anschauungen und die Einstellungen mächtiger Personen und Organisationen bestimmen, welche Ideen als schlechterdings überzeugend angesehen werden und nicht als abwegig oder ihrer Zeit so weit voraus, dass man sie geflissentlich ignorieren kann. Man kann sich unglaublich glücklich schätzen, wenn man genau zum richtigen Zeitpunkt die richtige Idee hat, die von vielen als ansprechend wahrgenommen wird.

Wenn Sozialwissenschaftler über die Frage nachdenken, welche Ideen sich schlussendlich durchsetzen, vergleichen sie dies gelegentlich mit dem Geschehen auf einem Markt. An dieser Analogie ist etwas dran: Ideen konkurrieren um Aufmerksamkeit und Akzeptanz, und bessere Ideen haben selbstverständlich einen Vorteil. Praktisch niemand glaubt heute noch, dass sich die Sonne um die Erde bewegt, auch wenn diese Idee früher einmal unwiderstehlich zu sein schien und über tausend Jahre lang ein Dogma sowohl des Islam als auch des Christentums war. Das heliozentrische Weltbild, das die Sonne ins Zentrum des Sonnensystems stellt, wurde erstmals bereits im 3. vorchristlichen Jahrhundert vertreten, aber es unterlag den geozentrischen Theorien von Aristoteles und Claudius Ptolemäus. Aristoteles galt im vorneuzeitlichen Europa als die führende Autorität in allen naturwissenschaftlichen Fragen, und Ptolemäus‹ Arbeit erwies sich in der Praxis als nützlich – zum Beispiel beim Gebrauch von Himmelskarten.

Langfristig können sich zutreffendere Ideen durchsetzen, insbesondere dann, wenn sie sich auf eine kohärente wissenschaftliche Methodik stützen. Hilfreich ist es auch, wenn sich daraus Vorhersagen ableiten lassen, die von anderen überprüft werden können. Aber dies kann eine Weile dauern. Das Ptolemäische Weltbild wurde ungefähr ab dem Jahr 1000 von muslimischen Gelehrten kritisch betrachtet, aber sie gaben die Überzeugung, dass die Erde sich im Zentrum des Universums befinde, nie zur Gänze auf. Das heliozentrische Weltbild in seiner modernen Form wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Nikolaus Kopernikus entwickelt; entscheidend verbessert wurde es dann von Johannes Kepler zu Beginn des 17. Jahrhunderts und von Galileo Galilei wenig später. Es dauert Jahrzehnte, bis sich diese Ideen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen in europäischen Wissenschaftskreisen verbreiteten. Newtons Werk Principia, das auf Ideen von Galilei und Kepler aufbaute und diese weiterentwickelte, erschien im Jahr 1687. Im Jahr 1822 erkannte endlich sogar die katholische Kirche an, dass sich die Erde um die Sonne bewegt.

Allerdings ist »Marktplatz für Ideen« eine schlechte Metapher für die technologischen Richtungsentscheidungen, die im Zentrum dieses Buchs stehen. Viele Menschen verbinden mit dem Wort Markt die Vorstellung fairer Wettbewerbsbedingungen, die dafür sorgen sollen, dass verschiedene Ideen sich hauptsächlich auf Basis ihrer Vorteile gegenseitig auszustechen versuchen. Aber so läuft es meistens nicht.

Wie der Evolutionsbiologe Richard Dawkins hervorhob, sind schlechte, aber eingängige Ideen manchmal spektakulär erfolgreich – man denke nur an Verschwörungstheorien oder verrückte Trends, denen Investoren nachlaufen.8 Ideen unterliegen auch einem natürlichen Phänomen der »Selbstverstärkung«: Je öfter eine Idee wiederholt wird und je häufiger man sie aus verschiedenen Quellen hört, umso plausibler und überzeugender kommt sie einem vor.

Noch problematischer für das Konzept vom »Marktplatz der Ideen« ist die Tatsache, dass die Geltungskraft einer Idee von der jeweiligen Machtverteilung in einer Gesellschaft abhängt. Nicht nur ihr Selbstbewusstsein und ihre sozialen Netzwerke helfen Mächtigen, ihre Ideen zu verbreiten. Wichtig ist auch, ob bestehende Organisationen und Institutionen die Stimme eines Ideengebers oder einer Ideengeberin verstärken und ob er oder sie die Macht hat, Einwänden entgegenzutreten. Vielleicht haben Sie eine Idee in Bezug auf die Entwicklung einer bestimmten Technologie oder Sie hegen wohlbegründete Sorgen im Hinblick auf unbeabsichtigte Folgen einer neuen Technologie, denen wir mehr Aufmerksamkeit schenken sollten. Aber wenn Sie nicht die sozialen Möglichkeiten haben, um darzulegen, warum dies eine bessere Technologie sein soll, und nicht den sozialen Status, um sich bei anderen Gehör zu verschaffen, werden Sie mit Ihrer Idee nicht weit kommen. Diese Tatsache bilden wir in der zweiten Dimension der Überzeugungskraft ab: der Fähigkeit zum Agenda-Setting.

Wer die Fragen stellt, die Prioritäten festlegt und Handlungsoptionen ins Spiel bringt oder ausschließt, verfügt über sehr mächtige Werkzeuge, um die öffentliche Diskussion in eine bestimmte Richtung zu lenken und andere zu überzeugen. Wir Menschen haben eine eindrucksvolle Fähigkeit, uns kollektives Wissen zunutze zu machen, und aus diesem Grund sind Technologien für die Gesellschaft so wichtig. Aber unsere Fähigkeit zur Vernunft und die Leistungsfähigkeit unserer Gehirne sind begrenzt. Wenn wir nachdenken, wenden wir unscharfe Kategorien an, und wir nehmen manchmal falsche Generalisierungen vor. Wir verlassen uns bei der Entscheidungsfindung oft auf Faustregeln und einfache Heuristiken. Unsere Denkprozesse unterliegen zahllosen Verzerrungen; so neigen wir dazu, nach Hinweisen zu suchen, die unsere Meinung bestätigen (»Bestätigungsfehler«), und wir überschätzen die Häufigkeit seltener Ereignisse.

Für unsere Diskussion besonders wichtig ist die Tatsache, dass wir bei schwierigen Entscheidungen dazu neigen, nur einige wenige Optionen in Betracht zu ziehen. Das ist nur natürlich, denn wir können unmöglich alle praktikablen Alternativen erwägen und all denjenigen, die eine eigene Meinung haben, die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Unser Gehirn verbraucht auch so schon 20 Prozent der Energie, die wir mit der Nahrung aufnehmen, und es hätte im Lauf der Evolution wohl kaum viel komplexer und leistungsfähiger werden können.9 Selbst bei der Entscheidung, welche Cracker und welchen Käse wir kaufen wollen, müssten wir mehr als eine Million Optionen (mehr als 1000 mal 1000, da man sich leicht jeweils über tausend Cracker- und Käsesorten und deren diverse Varianten besorgen kann) in Betracht ziehen. Wir müssen aber in der Regel nicht so viele Alternativen erwägen, weil wir auf Faustregeln und bewährte Heuristiken zurückgreifen können, um halbwegs gute Entscheidungen zu treffen.

Eine der effektivsten Heuristiken ist das Lernen von anderen. Wir beobachten und ahmen nach. Tatsächlich ist dieser soziale Aspekt von Intelligenz dem Aufbau kollektiven Wissens überaus förderlich, weil er effizientes Lernen und effiziente Entscheidungsfindung ermöglicht. Aber er erzeugt auch diverse Vulnerabilitäten und Schwächen, die die Mächtigen ausnutzen können. Das, was wir lernen, nützt uns selbst manchmal nichts – es ist lediglich das, was uns andere in ihrem Interesse weismachen wollen.

Tatsächlich neigen wir dazu, von angesehenen Personen in unserer Gesellschaft zu lernen und ihnen Gehör zu schenken. Auch dies ist verständlich: Realistischerweise sind wir nicht dazu in der Lage, den Erfahrungen und Ratschlägen Tausender Menschen Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist eine sinnvolle Heuristik, sich auf diejenigen zu konzentrieren, die eine klare Erfolgsbilanz vorzuweisen haben, die also kompetent zu sein scheinen.

Aber wer ist kompetent? Es liegt nahe, zu sagen: diejenigen, die eine anstehende Aufgabe erfolgreich erledigen. Aber oft haben wir keinen Überblick darüber, wer eine bestimmte Aufgabe gut erledigt hat. Eine sinnvolle Heuristik besteht dann darin, Personen mit hohem Prestige größere Aufmerksamkeit zu schenken. Tatsächlich glauben wir geradezu instinktiv, dass die Ideen und Empfehlungen von Personen mit hohem sozialem Status unsere Aufmerksamkeit mehr verdienen.

Die Tendenz, uns an sozialem Status und Prestige zu orientieren und erfolgreiche Personen nachzuahmen, ist so tief in uns verwurzelt, dass sie genetisch verankert zu sein scheint. Man kann sie sogar schon am Nachahmungsverhalten von dreijährigen Kindern erkennen.

Psychologen erforschen seit Langem, wie Kinder das Verhalten von Erwachsenen nachahmen, ja sogar »übernachahmen«.10 In einem Experiment führte ein Erwachsener vor, wie man aus einer Plastikbox mit zwei verriegelbaren Klappen, eine auf der Ober- und eine auf der Vorderseite, ein Spielzeug herausholt. Der Experimentator öffnete zunächst die Oberseite, dann die Vorderseite und griff schließlich von vorne nach dem Spielzeug. Die erste Aktion war also völlig unnötig. Als die Kinder aufgefordert wurden, die Aufgabe selbst zu lösen, wiederholten sie trotzdem treu und brav den unnötigen ersten Schritt. Verstanden sie vielleicht nicht, dass dieser überflüssig war? Nein, keineswegs. Als sie zum Abschluss des Experiments gefragt wurden, wussten sie sehr wohl, dass das Entriegeln der Oberseite »dumm und unnötig« war. Aber sie ahmten es trotzdem nach. Warum?

Dies dürfte mit dem sozialen Status zusammenhängen. Der Erwachsene ist der Experte und besitzt den Status, den ihm diese Position verleiht. Daher neigen Kinder dazu, ihre Zweifel zu unterdrücken und das nachzuahmen, was er oder sie tut. Wenn der Erwachsene es tut, muss es einen Grund dafür geben, auch wenn es unnötig und dumm erscheint. Tatsächlich zeigen ältere Kinder häufiger diese Art von Überimitation, weil sie besser als jüngere Kinder in der Lage sind, soziale Hinweisreize und Beziehungen zu verstehen, und das bedeutet, dass sie besser darin werden, den sozialen Status zu erkennen und sich nach dem zu richten, was sie als Expertise wahrnehmen.11

In ähnlichen Experimenten übersprangen Schimpansen den ersten Schritt und öffneten direkt die Klappe auf der Vorderseite. Dies liegt nicht daran, dass Schimpansen intelligenter wären, sondern vermutlich daran, dass sie nicht in der gleichen Weise wie Menschen dazu neigen, die (scheinbare) Expertise eines menschlichen Vorbilds zu respektieren, zu akzeptieren und nachzuahmen.12

Durch ein weiteres ausgeklügeltes Experiment wurde diese Art von Verhalten etwas eingehender erforscht. Die Forscher zeigten Kindern im Vorschulalter Videos, in denen verschiedene Personen den gleichen Gegenstand auf eine von zwei unterschiedlichen Weisen verwendeten. Die Kinder sahen auch, dass von wissenschaftlichen Hilfskräften gespielte »Zuschauer« die »Modellpersonen« ebenfalls beobachteten. Es zeigte sich, dass die Vorschulkinder ihre Aufmerksamkeit viel häufiger auf diejenigen »Vorbilder« richteten, die von den »Zuschauern« beobachtet wurden. Als sie später eine Wahl treffen sollten, ahmten sie viel häufiger die Person nach, die stärkere Beobachtung gefunden hatte.13

Die Vorschulkinder imitierten nicht nur, um zu lernen, welchen Gegenstand man auf welche Weise gebrauchen sollte, sie folgten auch den anderen Lernenden. Dies interpretierten die Autoren der Studie als Prestige-Hinweis: als einen Anhaltspunkt dafür, wer Prestige besitzt und wer als kompetent wahrgenommen wird. Es hat den Anschein, als würden wir uns instinktiv an den Ansichten und Verhaltensweisen von Menschen orientieren, die wir für erfolgreich halten; noch interessanter ist der Befund, dass wir diejenigen für erfolgreich halten, die unserer Wahrnehmung nach anderen als Vorbild dienen – womit wir wieder beim sozialen Status wären!

Es ist, evolutionsgeschichtlich gesehen, durchaus sinnvoll, dem sozialen Status Beachtung zu schenken und erfolgreiche Menschen nachzuahmen, denn diese haben es aller Wahrscheinlichkeit nach deshalb zu etwas gebracht, weil sie die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Aber der Haken daran ist ebenfalls unverkennbar. Unsere Tendenz, Personen mit hohem Status und Prestige mehr Aufmerksamkeit zu schenken, erzeugt starke Rückkopplungseffekte: Auch diejenigen, deren soziale Macht sich aus anderen Quellen speist, besitzen einen hohen Status, und wir neigen dazu, ihnen ebenso mehr Gehör zu schenken, was ihnen ebenfalls eine größere Überzeugungskraft verleiht.

Mit anderen Worten, unser Nachahmungsdrang ist so stark, dass es uns schwerfällt, Informationen, die in die Ideen und Visionen, denen wir begegnen und die oft von mächtigen Agenda-Settern vertreten werden, eingebettet sind, nicht aufzunehmen. Experimente bestätigen diese Schlussfolgerung; sie zeigen, dass es Menschen auch dann schwerfällt, irrelevante Informationen nicht ernst zu nehmen, wenn diese ausdrücklich als nicht vertrauenswürdig gekennzeichnet werden. Genau das haben die Forscher in dem Plastikbox-Experiment herausgefunden: Als den Kindern gesagt wurde, dass das Öffnen des Schlosses auf der Oberseite unnötig sei, blieben sie trotzdem bei ihrem Nachahmungsverhalten. Ein ähnliches Phänomen wurde auf Social-Media-Webseiten für Nachrichten, die Falschinformationen enthalten, festgestellt. Viele Teilnehmer konnten Falschinformationen auch dann nicht ignorieren, wenn sie eindeutig als nicht vertrauenswürdig gekennzeichnet waren, und ihre Sichtweisen wurden folglich trotzdem von dem beeinflusst, was sie dort lasen.

Diesen Instinkt macht sich Agenda-Setting zunutze: Wenn man die Agenda festlegen kann, dann hat man zweifellos einen hohen Status verdient und man kann sich Gehör verschaffen.

Im Vorfeld der Weltfinanzkrise von 2007–2008 hatten die CEOs globaler Großbanken eine Menge Agenda-Setting-Macht. In einer Kultur wie der US-amerikanischen, die materiellem Reichtum einen hohen Stellenwert beimisst, galten sie als äußerst erfolgreich. In dem Maße, wie die Risikobereitschaft und die Gewinnmargen in der Branche stiegen, verdiente die Führungsriege in der Finanzbranche immer mehr, was ihr Prestige weiter anwachsen ließ.

Als die Geschäfte dann schlecht liefen, erlitten dieselben Unternehmen Verluste, die so hoch waren, dass ihnen die Insolvenz drohte. In diesem Moment spielten sie die Karte der »Systemrelevanz« aus (»too big to fail«: aufgrund ihrer Größe so wichtig für die Systemstabilität, dass der Staat sie nicht einfach bankrottgehen lassen kann). Politische Entscheidungsträger, die bislang fest davon überzeugt gewesen waren, dass Größe und ein hoher Kredithebel im Finanzsektor positiv zu bewerten seien, waren sich jetzt sicher, dass es ein noch größeres wirtschaftliches Desaster verursachen würde, wenn man diese gigantischen Unternehmen einfach bankrottgehen ließe.

Als Willie Sutton, ein berüchtigter Verbrecher zur Zeit der Großen Depression, von einem Journalisten gefragt wurde, warum er Banken ausraube, soll er schlicht geantwortet haben: »Weil dort das Geld liegt.« Heutzutage sind es Finanzmagnaten, die sich eifrig Überzeugungskraft verschaffen, weil das Geld in der Finanzbranche liegt.

Während der Finanzkrise 2007–2008 galten die Chefs der Großbanken als ausgesprochene Experten, weil sie einen wichtigen Wirtschaftszweig kontrollierten und Medien und Politiker sie als hochkarätige Spitzenkräfte hofierten, die wegen ihrer besonderen Fachkenntnisse zu Recht reichlich entlohnt würden. Dieser Status und die daraus erwachsende Überzeugungskraft hatten zur Folge, dass knapp über ein Dutzend Banker die Art und Weise maßgeblich beeinflussten, wie die Alternative, vor der die US-Wirtschaft angeblich stand, dargestellt wurde: Entweder der Staat rettete die Banken und entschädigte ihre Aktionäre, Gläubiger und Führungskräfte großzügig, oder er ließ diese Unternehmen zusammenbrechen, mit ruinösen Folgen für die gesamte Wirtschaft.

Dieses Framing ließ andere realistische Optionen außer Betracht, wie etwa die Banken als vollständige juristische Personen fortzuführen, indem man ihnen Finanzhilfen gewährte, während man es zugleich nicht zuließ, dass Aktionäre und Führungskräfte profitierten. Das Framing schloss auch die Möglichkeit aus, Banker, die das Gesetz gebrochen hatten – zum Beispiel dadurch, dass sie Kunden getäuscht oder zu dem Debakel auf den Finanzmärkten beigetragen hatten –, zu entlassen oder strafrechtlich zu belangen. Es blendete naheliegende politische Maßnahmen aus, die Hausbesitzern in finanzieller Bedrängnis mehr Unterstützung gewährt hätten – weil ihre Insolvenz nach vorherrschender Auffassung keine systemweiten Risiken verursachen würde und weil es für Banken schlecht wäre, wenn Kreditnehmer ihre Hypothekenzahlungen kürzen könnten!15 Es überging sogar die Option, die üppigen Boni der Wertpapierhändler und Manager in den Instituten, die die Krise ausgelöst hatten und vom Staat gerettet wurden, einzubehalten.16 Der Versicherungskonzern AIG wurde im Herbst 2008 mit einem staatlichen Hilfspaket in Höhe von 182 Milliarden Dollar gerettet. Trotzdem durfte AIG fast eine halbe Milliarde Dollar an Boni auszahlen, auch an Mitarbeiter, die mitgeholfen hatten, das Unternehmen zugrunde zu richten. Inmitten der tiefsten Rezession seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts zahlten neun Finanzunternehmen, die zu den größten Empfängern von Stützungskrediten gehörten, 5000 Angestellten Boni in Höhe von über 1 Million Dollar pro Person – angeblich, weil dies notwendig war, um »Talente« zu halten.

Ein ausgedehntes soziales Netzwerk half der Wall Street beim Agenda-Setting, weil es viele der übrigen Personen umfasste, die ein Mitspracherecht bezüglich dessen hatten, was auf die Tagesordnung gesetzt werden sollte. Die »Drehtür« zwischen dem Finanzsektor und der Politik spielte ebenfalls eine Rolle. Wenn Freunde und ehemalige Kollegen Sie bitten, Dinge auf eine bestimmte Weise zu sehen, dann hören Sie ihnen zu.

Selbstverständlich ist Agenda-Setting eng mit Ideen verflochten. Wenn Sie eine überzeugende Idee haben, können Sie mit höherer Wahrscheinlichkeit Themen auf die (politische) Tagesordnung setzen, und je erfolgreicher Sie Themen auf die Tagesordnung setzen, umso glaubwürdiger und einflussreicher wird Ihre Idee. Der Slogan »Finanzkonzerne sind gut für die Wirtschaft« wurde deshalb so wirkmächtig, weil die Banker und diejenigen, die mit ihnen übereinstimmten, die Botschaft formulierten, die Fragen stellten und die empirischen Daten interpretierten.

Die Machenschaften der Wall Street im Vorfeld und während der Finanzkrise von 2007–2008 erwecken vielleicht den Eindruck, die Macht zum Agenda-Setting sei deshalb von Belang, weil sie einer Gruppe oder Einzelpersonen erlaube, ihre eigennützigen Interessen zu schützen. Selbstverständlich fördern Ideen oftmals die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Mächtigen, die sie propagieren. Aber der Einfluss des Agenda-Settings geht weit über egoistische Interessen hinaus. Wenn Sie nämlich anderen sagen, sie sollten etwas tun, was offensichtlich Ihnen nützt, werden diese sich sträuben, weil sie darin einen dreisten Versuch Ihrerseits sehen, das zu bekommen, was Sie wollen. Damit eine Idee erfolgreich ist, müssen Sie einen übergeordneten Standpunkt vertreten, der über Ihre eigenen Interessen hinausweist oder zumindest den Anschein erweckt, dies zu tun.

Einflussreiche Ideen sind noch aus einem weiteren Grund oftmals nicht unverhohlen egoistisch. Sie können auf viel effektivere Weise für eine Idee werben, wenn Sie leidenschaftlich daran glauben, und dies wird eher der Fall sein, wenn Sie sich selbst davon überzeugen können, dass die Idee nicht bloß ein eigennütziges Anliegen ist, sondern dem Fortschritt dient. Es war daher für den Erfolg dieser Idee oder Vision viel wichtiger, dass Bürokraten, politische Entscheidungsträger und Journalisten, bei denen viel weniger direkte materielle Interessen im Spiel waren, die Botschaft »Finanzkonzerne nützen der Wirtschaft« nachdrücklich propagierten.

Diese Dynamik bedeutet jedoch auch, dass Ideen und Interessen divergieren können. Wenn man einen Bezugsrahmen von Ideen hat, dann prägt ein solches Konzept die Art und Weise, wie man Fakten betrachtet und verschiedene Güterabwägungen vornimmt. So fängt man an, sich unabhängig von den eigenen Interessen an Ideen zu orientieren. Leidenschaftlich vertretene Standpunkte werden oft vorherrschend, ja sogar »ansteckend«.

Nicht ökonomische Interessen waren es, die Lesseps dazu veranlassten, auf eine bestimmte Ausführung des Panamakanals zu drängen, dass er etwa auf Meeresspiegelhöhe verlaufen sollte, was einschloss, dass die am Bau beteiligten Arbeiter höchstwahrscheinlich unter äußerst harten Bedingungen schuften müssten. Auch sein beinahe magischer Glaube daran, dass sich »geniale Männer« technische Lösungen einfallen lassen würden, wurzelte nicht in egoistischen Überlegungen. Lesseps war wirklich davon überzeugt, dies wäre die richtige Weise, die vorhandenen wissenschaftlichen Kenntnisse und technischen Möglichkeiten zum Wohle aller einzusetzen. Andere konnte er überzeugen, weil er in der Vergangenheit überaus erfolgreich gewesen war und bei vielen Menschen in Frankreich ein offenes Ohr gefunden hatte.

In ähnlicher Weise drückten nicht bloß die Interessen der Topmanager der Großbanken (auch wenn diesen gut gedient wurde, danke dafür) der Weltfinanzkrise ihren Stempel auf – ebenso tat dies eine Vision, von der diese prominenten Banker selbst ganz und gar überzeugt waren (hatten sie es selbst etwa nicht zu fabelhaftem Reichtum gebracht?). So erklärte Lloyd Blankfein, der Chef der Investmentbank Goldman Sachs, im Jahr 2009, er und seine Kollegen würden »Gottes Werk« verrichten.17 Diese Verknüpfung von früheren Erfolgen mit einem Narrativ des Arbeitens für das Gemeinwohl war für Journalisten, Abgeordnete und die Öffentlichkeit schlechterdings überzeugend. Jedem, der diese Sichtweise in Frage stellte, schlug vermeintlich gerechte Empörung entgegen.

Wir haben erklärt, wie sich Ideen ausbreiten und tonangebend werden können; außerdem sind wir auf die Bedeutung des Agenda-Settings eingegangen, das denjenigen, die einen bestimmenden Einfluss auf die Debatte nehmen können, eine Sonderstellung verleiht.

Wer kann dies tun? Die Antwort lautet: diejenigen mit einem hohen sozialen Status. Weil diejenigen, die soziale Macht besitzen, weit eher in der Lage sind, die Agenda festzulegen, bildet sich ein Kreislauf, der zu einem Teufelskreis werden kann: Je mehr Macht und Status jemand hat, umso leichter ist es für ihn oder sie, die Agenda festzulegen, und wenn er oder sie die Agenda festlegt, nehmen sein/ihr Status und seine/ihre Macht noch weiter zu. Dennoch haben auch die Spielregeln eine große Bedeutung, und sie können das Ausmaß der Ungleichheit in der Überzeugungskraft entweder verstärken oder begrenzen.

Die Nachwirkungen des Amerikanischen Bürgerkriegs verdeutlichen die zentrale Rolle der Macht des Agenda-Settings, die in der Fähigkeit einiger Gruppen wurzelt, mit am Tisch zu sitzen. Damals vertrat ein Teil der Abolitionisten in den Nordstaaten sehr engagiert die Meinung, der Krieg solle das politische, wirtschaftliche und soziale Leben in den Südstaaten von Grund auf erneuern, weil dies für eine echte Befreiung notwendig sei. So äußerte einer der führenden Abolitionisten, Samuel Gridley Howe, im Vorfeld des Bürgerkriegs: »Wir haben einen Kampf begonnen, dem es nicht erlaubt sein sollte, zu enden, bis die Macht der Sklavenhalter vollständig bezwungen und die Emanzipation sichergestellt ist.«18

Die Emanzipationsproklamation schlug an Silvester 1863 ein neues Kapitel der amerikanischen Geschichte auf. Der 13. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, der die Sklaverei abschaffte, folgte wenig später und trat Ende 1865 in Kraft. Der 14. Zusatzartikel, der im Jahr 1868 ratifiziert wurde, gewährte allen ehemaligen Sklaven die Staatsbürgerschaft und den gleichen Schutz durch die Gesetze. Da man einsah, dass dieser Wandel nicht mit einem Federstrich bewerkstelligt werden konnte, wurden Bundestruppen im Süden stationiert, um diese Veränderungen durchzusetzen. Der 15. Zusatzartikel folgte im Jahr 1870; er stärkte die politische Teilhabe der schwarzen Amerikaner, indem er ihnen das volle Wahlrecht gewährte. Fortan war es ein Verbrechen, jemandem aufgrund »der Rassenzugehörigkeit, der Hautfarbe oder des vormaligen Dienstbarkeitsverhältnisses« das Wahlrecht zu versagen.

Zunächst erschien dies wie die Einlösung des Ideals der gleichen Rechte für alle, auch im politischen Raum. Dies war die Ära der Reconstruction in den Südstaaten, in der sich die wirtschaftliche und politische Lage schwarzer Amerikanerinnen und Amerikaner deutlich verbesserte. Sie mussten sich nicht mehr mit niedrigen Löhnen und täglicher Gewalt auf den Plantagen abfinden, sie konnten Betriebe gründen, ohne massive Einschüchterungen befürchten zu müssen, und man konnte ihnen nicht länger verbieten, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Schwarze Amerikaner ergriffen die Chance auf mehr wirtschaftliche Teilhabe und politisches Engagement. Vor dem Bürgerkrieg war es Sklaven in fast allen Südstaaten verboten gewesen, die Schule zu besuchen, und im Jahr 1860 waren über 90 Prozent der erwachsenen Schwarzen in der Region Analphabeten.19 Dies änderte sich nach 1865.

Im Zuge dieses umfassenderen Strebens nach einer Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse brachten schwarze Amerikaner bis 1870 über eine Million Dollar auf, die sie für Bildung ausgaben. Schwarze Farmer wollten ihr eigenes Land und selbst darüber entscheiden, was sie anpflanzten und wie sie lebten. Man bemühte sich um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne, und schwarze Amerikaner begannen, Streiks zu organisieren und Sammelpetitionen, die bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne forderten, zu unterzeichnen. Selbst in ländlichen Regionen begann sich der Arbeitsmarkt für Schwarze zu wandeln; es wurden erstmals Kollektivverhandlungen über Vertragsbedingungen und Tariftabellen geführt.

Diese Verbesserung der wirtschaftlichen Lage wurde durch politische Repräsentation unterstützt.20 Zwischen 1869 und 1891 hatte die Virginia General Assembly in jeder Legislaturperiode mindestens ein schwarzes Mitglied. Das Abgeordnetenhaus von North Carolina hatte 52 afroamerikanische Mitglieder und das von South Carolina 47. Noch aufschlussreicher ist die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten auf Bundesebene ihre ersten beiden schwarzen Senatoren (beide gewählt in Mississippi) und fünfzehn schwarze Abgeordnete (aus South Carolina, North Carolina, Louisiana, Mississippi, Georgia und Alabama) hatten.

Aber all dies stürzte krachend zusammen. Schon in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurden die politischen und wirtschaftlichen Rechte der schwarzen Amerikaner beschnitten. In den Worten des Historikers Vann Woodward: »Der extreme Rassismus in den Südstaaten war weniger auf einen Einstellungswandel als auf ein Erschlaffen des Widerstandes zurückzuführen.«21 Und der Widerstand ließ erheblich nach, nachdem die umstrittene Präsidentschaftswahl von 1876 zum Hayes-Tilden-Kompromiss führte, der den Republikaner Rutherford Hayes in Weiße Haus brachte, aber nur, weil er sich bereit erklärte, die Reconstruction zu beenden und die verbliebenen Bundestruppen aus dem Süden abzuziehen.

Bald darauf wich die Reconstruction der Redemption genannten Ära, in der die führenden Vertreter der Weißen in den Südstaaten versprachen, den Süden von Einmischungen des Bundes und der Emanzipation der Schwarzen zu »befreien«. Der weißen Elite gelang es, die Uhr zurückzudrehen, und der Süden befand sich in einem »andauernden Belagerungszustand, der das schwarze Volk noch immer einschüchtert«, wie einer der einflussreichsten schwarzen Intellektuellen des frühen 20. Jahrhunderts, W. E. B. Du Bois, treffend schrieb.22

Dieser andauernde Belagerungszustand diente natürlich dazu, gegen schwarze Amerikaner in den Südstaaten Zwangsmittel anzuwenden; dazu gehörten auch Lynchmorde und andere Tötungsdelikte und der Einsatz der örtlichen Strafverfolgungsbehörden zur Repression. Aber diese Macht, Gewalt auszuüben, wurzelte darin, dass es den Südstaaten-Rassisten gelang, den Rest der Nation davon zu überzeugen, dass man Schwarze ohne Weiteres systematisch benachteiligen, diskriminieren und gewaltsam unterdrücken dürfe. Die Überzeugungskraft der Weißen in den Südstaaten hatte maßgeblichen Anteil daran, dass der Rest des Landes die Rassentrennung und die systematische Diskriminierung von Schwarzen akzeptierte, die später unter der Bezeichnung »Jim-Crow-Gesetze« bekannt wurde.

Wie konnte alles so gründlich schieflaufen? Auf diese Frage gibt es selbstverständlich viele Antworten. Aber am wichtigsten war, dass es an ausreichender sozialer und Agenda-Setting-Macht fehlte, um Ideen vollständiger wirtschaftlicher und sozialer Gleichstellung erfolgreich zu propagieren.

Es war nicht gerade hilfreich, dass schwarzen Amerikanern keine uneingeschränkte wirtschaftliche Teilhabe gewährt wurde. Als ein führender abolitionistischer Politiker dieser Zeit bemerkte der Kongressabgeordnete George Washington Julian im März 1864, als er eine Bodenreform für die Südstaaten vorschlug: »Was würde ein vom Kongress verabschiedetes Gesetz, das die Sklaverei vollständig abschaffte, oder ein Zusatzartikel zur Verfassung, der sie für immer verböte, nützen, wenn die alte landwirtschaftliche Grundlage aristokratischer Macht bestehen bleibt? Wahre Freiheit muss immer außerhalb der Gesetze sein, wenn nur einer von dreihundert oder fünfhundert Menschen ein Eigentümer des Bodens ist.«23 Leider blieb diese alte landwirtschaftliche Machtbasis faktisch unangetastet.

Präsident Lincoln hatte verstanden, dass der Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen von entscheidender Bedeutung für die Förderung der Freiheit schwarzer Amerikaner war, und unterstützte die Entscheidung von General William Sherman, an einige befreite Sklaven »vierzig Morgen und ein Maultier« zu verteilen. Aber nach Lincolns Ermordung widerrief sein Nachfolger, Andrew Johnson, ein Befürworter der Sklaverei, die Befehle Shermans, und befreite Sklaven erhielten nie die Ressourcen, die sie benötigt hätten, um wirtschaftlich auch nur annähernd auf eigenen Füßen zu stehen. Selbst auf dem Höhepunkt der Reconstruction blieben schwarze Amerikaner von wirtschaftlichen Entscheidungen abhängig, die weiße Eliten trafen. Schlimmer noch, das Plantagensystem, das sich bis dahin auf Sklavenarbeit gestützt hatte, wurde nicht beseitigt. Viele Plantagenbesitzer behielten ihre großen Ländereien und stützten sich weiterhin auf Afroamerikaner, die noch immer in schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen feststeckten, in denen sie Gewalt ausgesetzt waren.24

Genauso wichtig für das Scheitern der Reconstruction war die Tatsache, dass schwarze Amerikaner nie echte politische Repräsentation erlangten. Sie konnten ihre Anliegen niemals uneingeschränkt vertreten. Selbst wenn es in Washington schwarze Politiker gab, waren sie weit entfernt vom wahren Machtzentrum, wie etwa den wichtigen Kongressausschüssen und den Hinterzimmern, wo Absprachen getroffen wurden. Daher konnten sie nicht die Agenda bestimmen und den Schlüsseldebatten nicht ihren Stempel aufprägen.

Die Zeit, in der sie ein nationales Amt bekleideten, neigte sich sowieso schon bald ihrem Ende zu, da die Reconstruction an Schwung verlor und allmählich rückabgewickelt wurde.

Schwarze Amerikaner kämpften und starben im Bürgerkrieg, und sie waren die Leidtragenden der Sklaverei und der Jim-Crow-Politik. Weil die Schlüsselentscheidungen, die über ihre Lebensumstände und ihre politische Zukunft bestimmten, jedoch von anderen getroffen wurden, konnte man ihnen das, was man ihnen gab, auch wieder wegnehmen, wenn sich politische Kalküle oder Koalitionen änderten – und das geschah auch, zum Beispiel, als Andrew Johnson Präsident wurde, oder im Gefolge des Hayes-Tilden-Kompromisses.

Schwarze Amerikaner wussten, was sie wollten und wie sie es erreichen konnten, wie sie während der Frühphase der Reconstruction gezeigt hatten. Da sie jedoch über keine nennenswerte politische Repräsentation verfügten und nicht in der Lage waren, die Agenda zu beeinflussen, konnten sie das Narrativ der Nation nicht entscheidend prägen. Als sich der politische Wind drehte und sich die Prioritäten auf den Korridoren der nationalen Macht verschoben, hatten sie keine Möglichkeit, die negativen Auswirkungen, die dies für ihre Zukunft bedeutete, abzuschwächen.

Als die Vereinigten Staaten gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge ihrer imperialen Expansion nach den Philippinen, Puerto Rico, Kuba und Panama griffen, lebte rassistisches Denken im gesamten Land wieder auf. Der Oberste Gerichtshof der USA traf in dem Fall Plessy vs. Ferguson im Jahr 1896 eine Grundsatzentscheidung, in der er zu dem Schluss kam, dass »Gesetze machtlos sind, wenn es darum geht, rassische Instinkte auszumerzen«, und er erklärte die Praxis »getrennter, aber gleicher« öffentlicher Einrichtungen in den Südstaaten, die Jim-Crow-Gesetze erlassen hatten, für verfassungsmäßig. Dies war nur die Spitze eines noch viel unschöneren Eisbergs. Im Oktober 1901 fassten die Herausgeber des Atlantic Monthly (einer Publikation, die die Gleichberechtigung befürwortete) diesen Stimmungswandel bei den Menschen in den Nordstaaten zusammen:

Was immer uns der Erwerb fremder Gebiete in Zukunft an Vorteilen bringen mag, hat sich bereits gezeigt, dass er einen verderblichen Einfluss auf die Gleichberechtigung in den Vereinigten Staaten hat. Er hat die Feinde des Fortschritts der Schwarzen gestärkt, und er hat die Verwirklichung der vollkommenen Gleichheit politischer Rechte weiter in die Zukunft verschoben als je zuvor. Wenn die stärkere und klügere race »neu eroberten, missmutigen Völkern« auf der anderen Seite des Globus nach Belieben ihren Willen auferlegen darf, warum dann nicht auch in South Carolina und Mississippi?25

In der gleichen Ausgabe des Magazins schrieb einer der einflussreichsten Historiker seiner Zeit, William A. Dunning. Dunning, geboren in New Jersey, hatte an der Columbia University studiert und sein gesamtes Berufsleben an dieser Hochschule verbracht. Dennoch sahen er und viele seiner Studenten die Reconstruction sehr kritisch. Sie behaupteten, diese habe »Carpetbaggers« (Glücksrittern aus den Nordstaaten) ermöglicht, mit tatkräftiger Unterstützung von »Scalawags« (»Lumpen«, weißen Südstaatlern) die Stimmen befreiter Sklaven zu kontrollieren. Die sogenannte Dunning School war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Norden ebenso wie im Süden der Vereinigten Staaten eine tragende Säule der herrschenden Meinung.26 Sie wirkte sich auf Darstellungen der amerikanischen Geschichte sowohl in Büchern als auch in Filmen aus, wie etwa auf Die Geburt einer Nation von D. W. Griffith aus dem Jahr 1915. Dieser wurde einer der einflussreichsten Filme aller Zeiten, und er hat mit seiner negativen Darstellung schwarzer Amerikaner und seiner Rechtfertigung von Rassismus und der Gewaltakte des Ku-Klux-Klans gesellschaftliche und politische Anschauungen nachhaltig beeinflusst.

Wie können Sie sich vor einem solchen Rassismus schützen, wenn die Mehrheit Ihrer Meinung kein Gehör schenken will? Und die Mehrheit wird Ihnen nur dann zuhören, wenn Sie die Agenda – jedenfalls in einem gewissen Ausmaß – beeinflussen können.

Um zu verstehen, wieso es für die schwarzen Amerikaner nach der Reconstruction so schlecht lief, muss man sich vor Augen führen, welche Rolle wirtschaftliche und politische Macht und die diesen zugrunde liegenden wirtschaftlichen und politischen Institutionen spielten.27

Wirtschaftliche und politische Institutionen bestimmen, wer die besten Gelegenheiten hat, andere zu überzeugen. Die Regeln des politischen Systems bestimmen, wer umfassend repräsentiert ist und wer die politische Macht hat und folglich, wer am Tisch sitzen wird. Als König oder Präsident hat man in vielen politischen Systemen weitreichenden Einfluss auf die Agenda – manchmal kann man diese sogar direkt diktieren. In ähnlicher Weise beeinflussen wirtschaftliche Institutionen, wer über die Ressourcen und die wirtschaftlichen Netzwerke verfügt, um Unterstützung für seine Anliegen zu mobilisieren und, wenn nötig, Politiker und Journalisten zu bezahlen.

Überzeugungskraft ist wirkungsvoller, wenn man für eine verlockende Idee wirbt. Aber wie wir gesehen haben, hängt auch dies teilweise von Institutionen ab. Wenn Sie, zum Beispiel, reich sind oder politische Macht besitzen, dann verfügen Sie über einen hohen sozialen Status, der Sie wiederum überzeugender macht. Die Zuerkennung von sozialem Status erfolgt in Abhängigkeit von den Normen und Institutionen einer Gesellschaft. Zählen finanzieller Erfolg oder gute Taten? Beeindrucken uns diejenigen, die Familienvermögen geerbt haben, oder jene, die es aus eigener Kraft zu Reichtum schafften? Diejenigen, die behaupten, zu den Göttern und in ihrem Namen zu sprechen? Sind wir der Meinung, Banker sollten geachtet und auf einen Sockel gehoben werden oder dass sie als gewöhnliche Geschäftsleute behandelt werden sollten, wie es in den USA in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Fall war?

Der soziale Status verstärkt auch Machtungleichheiten: Je höher der Status einer Person, umso mehr kann sie diesen dazu nutzen, wirtschaftliche Vorteile zu erlangen, sich politisch mehr Gehör und Einfluss zu verschaffen und in einigen Gesellschaften auch dazu, sich Menschen durch Ausübung von Zwang gefügig zu machen.

Institutionen und Ideen entwickeln sich in Wechselbeziehung zueinander. Heute schätzen viele Menschen weltweit die Demokratie, weil sich die Idee der Demokratie verbreitet hat und wir darin eine gute Regierungsform sehen. Empirische Belege sprechen auch dafür, dass sie zu guten wirtschaftlichen Ergebnissen und einer faireren Chancenverteilung führt. Wenn das Vertrauen in demokratische Institutionen zusammenbräche, würden schon bald demokratische Systeme weltweit folgen. Tatsächlich zeigen Studien, dass die Unterstützung für ein demokratisches System deutlich zunimmt, wenn Demokratien in Bezug auf Wirtschaftswachstum, öffentliche Dienstleistungen und Stabilität besser abschneiden als nichtdemokratische Staaten. Menschen erwarten mehr von demokratischen Regierungen, und wenn die Demokratie die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt, dann erfreut sie sich eines hohen Zuspruchs. Aber wenn ein demokratisches System diese Erwartungen nicht erfüllt, verliert es an Attraktivität.

Noch stärker ist der Einfluss politischer Institutionen auf Ideen. Bessere Ideen und Ideen, die von der Wissenschaft oder von erwiesenen Tatsachen gestützt werden, haben einen Vorteil. Aber oft liegen die Dinge nicht so eindeutig, und dann sind jene Ideen im Vorteil, die die Agenda monopolisieren oder die – was noch schädlicher ist – Gegenargumente entkräften können. Politische und wirtschaftliche Macht sind deshalb so wichtig, weil sie darüber entscheiden, wer eine Stimme hat und wer die Agenda festlegen kann, und weil sie Menschen mit unterschiedlichen Visionen in den Entscheidungsprozess einbeziehen. Sobald jemand Zugang zu allen Foren hat, die ein hohes Ansehen genießen, wächst seine oder ihre Überzeugungskraft und er oder sie kann sich daranmachen, die politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen umzubauen.

Auch die Geschichte spielt eine wichtige Rolle: Sobald man mit am Tisch sitzt, wichtige Angelegenheiten diskutiert und die Agenda beeinflusst, neigt man in der Regel dazu, seinen Platz dort zu behalten.

Wie die Folgezeit des Amerikanischen Bürgerkriegs sattsam verdeutlicht, werden diese Strukturen gleichwohl oftmals neu gestaltet, insbesondere in kritischen Momenten, wenn sich das Machtgleichgewicht verschiebt und neue Konzepte und Optionen plötzlich als machbar oder auch als unvermeidlich angesehen werden.

Die Geschichte nimmt keinen schicksalhaften Verlauf. Menschen besitzen »Handlungsmacht« – sie können soziale, politische und wirtschaftliche Entscheidungen treffen, die historische Teufelskreise durchbrechen. Die Macht, andere zu überzeugen, ist genauso wenig vorherbestimmt wie die Geschichte, und es ist auch nicht in Stein gemeißelt, wessen Meinungen geschätzt werden, wer Gehör findet und die Agenda festsetzt.

Selbst wenn sich wahrscheinlich zu guter Letzt die Vision der Mächtigen durchsetzt, stellt sich die Frage, ob wir wenigstens hoffen können, dass ihre Vision hinreichend inklusiv und offen sein wird, vor allem weil sie ihre Pläne oftmals unter Berufung auf das Gemeinwohl rechtfertigen. Vielleicht handeln sie verantwortungsvoll, sodass wir nicht unter den Folgen egozentrischer Visionen leiden, die ungeachtet der Kosten, die sie vielen anderen auferlegen, mit großem Eifer umgesetzt werden. Dies ist jedoch wahrscheinlich Wunschdenken. Der britische Historiker und Politiker Lord Acton äußerte bekanntlich im Jahr 1887:

Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut. Große Männer sind fast immer schlechte Menschen, auch wenn sie Einfluss und nicht etwa Herrschaftsgewalt ausüben: umso mehr, wenn man bedenkt, dass Herrschaftsgewalt mit hoher Wahrscheinlichkeit oder Gewissheit korrumpiert. Es gibt keine schlimmere Irrlehre als die Auffassung, das Amt heilige den Amtsinhaber.28

Lord Acton diskutierte mit einem prominenten Bischof über Könige und Päpste, und es fehlt nicht an älteren und neueren Beispielen von Herrschern mit absoluter Macht, die sich absolut danebenbenommen haben.

Aber dieser Aphorismus trifft auch hundertprozentig auf die Überzeugungskraft zu, einschließlich der Fähigkeit, sich selbst zu überreden. Einfach gesagt, reden sich viele Personen, die über hohe soziale Macht verfügen, ein, nur ihre Ideen (und oft auch ihre Interessen) zählten, und sie finden Wege, um vor sich selbst zu rechtfertigen, dass sie alles andere außer Betracht lassen. Man erkennt dies in Lesseps‹ Fähigkeit, den gegen Arbeiter in Ägypten ausgeübten Zwang mit Vernunftgründen zu rechtfertigen und die Informationen darüber, dass Malaria und Gelbfieber Tausende von Arbeitern in Panama dahinrafften, zu ignorieren. Der Sozialpsychologe Dacher Keltner hat diese Form der Selbstkorrumpierung wohl am gründlichsten erforscht. Bei Experimenten, die Keltner und seine Mitarbeiter im Laufe der letzten zwanzig Jahre durchführten, haben sie eine riesige Menge an Daten zusammengetragen, die belegen, dass Menschen umso eher egoistisch handeln und die Folgen ihrer Handlungen für andere ignorieren, je mehr Macht sie besitzen.

In einer Reihe von Studien haben Keltner und seine Mitarbeiter untersucht, wie sich Fahrer teurer Autos im Vergleich zu Fahrern billiger Autos im Straßenverkehr verhalten. Sie beobachteten, dass die Fahrer teurer Autos in über 30 Prozent der Fälle über eine Kreuzung fuhren, bevor sie an der Reihe waren, und so anderen Fahrzeugen die Vorfahrt nahmen. Dagegen war dies nur bei etwa 5 Prozent der Fahrer billiger Autos der Fall. Der Unterschied zeigte sich noch deutlicher beim Verhalten gegenüber Fußgängern, die versuchten, eine Straße auf einem Zebrastreifen zu queren (in diesem Fall waren die Fußgänger Teil der Forschergruppe, die sich auf den Zebrastreifen zubewegten, als sich das Auto näherte). Die Fahrer der teuren Autos nahmen den Fußgängern in über 45 Prozent der Fälle die Vorfahrt, während die Fahrer der billigsten Wagen dies beinahe nie taten.

In Laborexperimenten fanden Keltner und sein Team außerdem heraus, dass vermögende Personen von höherem sozialem Status eher schwindelten, indem sie sich unfairerweise etwas nahmen, was ihnen nicht zustand, oder etwas behaupteten, was nicht stimmte. Die Reichen wiesen auch eine stärkere Neigung zu Habgier auf. Dies zeigte sich nicht nur in ihren Selbsteinschätzungen, sondern auch in Experimenten, in denen Forscher nachvollziehen konnten, ob Probanden schummelten oder andere unethische Verhaltensweisen zeigten.

Was noch bemerkenswerter war: Die Forscher entdeckten, dass Probanden in Laborsituationen einfach dadurch dazu veranlasst werden konnten, zu schummeln, dass man ihnen das Gefühl vermittelte, einen höheren Status zu haben – zum Beispiel dadurch, dass man sie ermunterte, sich mit Menschen, die weniger Geld hatten als sie, zu vergleichen.29

Wie ist es zu erklären, dass Menschen sich so egoistisch und unmoralisch verhalten? Keltners Studien deuten darauf hin, dass die Antwort darauf mit Selbstüberredung zusammenhängt – in Bezug darauf, was akzeptabel ist und was dem Gemeinwohl dient. Die Reichen und die Prominenten reden sich selbst ein, dass sie sich nur das nehmen, was ihnen zusteht, oder auch, dass es akzeptabel sei, habgierig zu sein. Wie der skrupellose Banker Gordon Gekko in dem Film Wall Street aus dem Jahr 1987 sagte: »Gier ist gut.« Interessanterweise stellten Keltner und seine Mitarbeiter auch fest, dass nicht-reiche Probanden dazu gebracht werden konnten, sich wie Reiche zu verhalten, wenn ihnen Aussagen vorgelegt wurden, die positive Einstellungen zu Gier zum Ausdruck brachten.

Wir haben weiter oben behauptet, dass in der modernen Welt Überzeugungskraft die wichtigste Quelle sozialer Macht ist. Aber mit der gleichen Überredungskunst überzeugen wir uns auch selbst, dass wir recht haben, und wir werden unempfindlicher für die Wünsche, Interessen und Nöte anderer.

Soziale Macht ist in jedem Aspekt unseres Lebens von Belang. Sie beeinflusst insbesondere die Richtung des Fortschritts. Selbst wenn so getan wird, als dienten neue Technologien dem Gemeinwohl, haben nicht alle automatisch etwas davon. Oft sind es diejenigen, deren Vision die Richtung der technologischen Innovation vorgibt, die am meisten profitieren.

Wir haben Vision definiert als eine Art kognitiven Rahmen, innerhalb dessen Menschen darüber nachdenken, wie Wissen in neue Technologien, die auf die Lösung konkreter Probleme abzielen, überführt werden kann. Wie schon in den Kapiteln 1 und 2 bedeutet »Technologie« hier mehr als nur die Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, um neue Produkte oder Produktionsverfahren zu entwickeln. Sich darüber klar werden, wofür man Dampfkraft nutzen will, und entscheiden, welchen Typ von Kanal man bauen will, sind technologische Entscheidungen. Und das Gleiche gilt für die Frage, wie man die Landwirtschaft organisieren und auf wen man dabei Druck ausüben will. Technologische Visionen durchdringen folglich fast sämtliche Aspekte unseres Wirtschafts- und Gesellschaftslebens.

Was für soziale Macht im Allgemeinen gilt, gilt in besonderer Weise für technologische Visionen. Wenn man ein Narrativ hat, das auf überzeugende Weise darlegt, wie wir die Herrschaft unserer Spezies über die Natur stärken können, fällt es leicht, andere Menschen zu ignorieren. Über diejenigen, die diese Sichtweise nicht teilen, und diejenigen, die die Leidtragenden sind, kann man sich leicht hinwegsetzen. Man erkennt ihr Leid zwar an, bekennt sich aber bloß rhetorisch dazu, diesem abzuhelfen. Wenn eine Vision allzu selbstsicher vertreten wird, vergrößern sich diese Probleme. Jetzt werden diejenigen, die im Weg stehen oder die behaupten, dass es womöglich Alternativen gäbe, als nicht von Belang oder realitätsfremd, wenn nicht gar als völlig falschliegend hingestellt. Man kann sich einfach über sie hinwegsetzen. Die Vision rechtfertigt alles.

Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass es keine Möglichkeit gäbe, Selbstsucht und vermessene Visionen einzudämmen. Aber es bedeutet ganz klar, dass wir nicht erwarten können, dass diese Art von verantwortungsvollem Handeln automatisch entsteht. Lord Acton wies zu Recht darauf hin, dass wir nicht damit rechnen können, dass Personen, die über eine große Machtfülle gebieten, sozial verantwortlich handeln. Bei denjenigen, die kraftvolle Visionen und Träume über die Gestaltung der Zukunft besitzen, können wir sogar noch weniger damit rechnen. Verantwortungsbewusstsein hat auch deshalb schlechte Karten, weil Überzeugungskraft korrumpiert und zur Folge hat, dass die Mächtigen sich weniger für das Leid anderer Menschen interessieren.

Wir müssen die Zukunft neu gestalten, indem wir Gegenkräfte erzeugen, vor allem dadurch, dass wir der vorherrschenden Vision eine vielfältige Palette von Stimmen, Interessen und Perspektiven entgegensetzen. Indem wir Institutionen aufbauen, die einem breiteren Spektrum von Menschen Zugang gewähren, und Strukturen schaffen, die sicherstellen, dass vielfältige Ideen die Agenda beeinflussen, können wir das Monopol über das Agenda-Setting aufbrechen, das andernfalls einige wenige Personen besitzen würden.

Genauso wichtig sind (soziale) Normen, die definieren, was in einer Gesellschaft als akzeptabel gilt, was sie nicht in Betracht ziehen will und worauf sie mit Ablehnung reagiert. Es geht um den Druck, den gewöhnliche Menschen auf Eliten und Visionäre ausüben können, und um ihre Bereitschaft, sich eine eigene Meinung zu bilden, statt sich von den vorherrschenden Visionen verleiten zu lassen.

Wir müssen Wege finden, um eigennützige Visionen, die Ausdruck von Selbstüberschätzung sind, einzudämmen, und auch dabei geht es um Institutionen und Normen. Vermessenheit besitzt viel weniger Macht, wenn sie nicht die einzige Stimme am Tisch ist. Sie wird geschwächt, wenn ihr mit starken Argumenten begegnet wird, die nicht einfach beiseitegeschoben werden können. Sie beginnt (hoffentlich) zu verschwinden, sobald sie erkannt und verspottet wird.

Auch wenn es keinen todsicheren Weg gibt, um diese Ziele zu erreichen, sind demokratische Institutionen von zentraler Bedeutung. Debatten über die Vor- und Nachteile der demokratischen Regierungsform reichen mindestens bis Platon und Aristoteles zurück; keiner von beiden war von dieser politischen Ordnung sonderlich angetan, beide befürchteten, dass sie eine Kakophonie hervorbringen könnte. Ungeachtet dieser Befürchtungen und der heute in der Boulevardpresse und anderen Medien allzu oft geäußerten Zweifel an der Widerstandskraft der Demokratie sprechen die empirischen Befunde eine eindeutige Sprache: Demokratie ist gut für das Wirtschaftswachstum, für die effiziente Erbringung öffentlicher Dienstleistungen und für die Verringerung von Ungleichheiten im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie bei den Verwirklichungschancen. So zeigen Studien zum Beispiel, dass Länder, die sich demokratisiert haben, ihr Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung in den zwanzig Jahren, die auf die Demokratisierung folgten, um 20 bis 30 Prozent steigern konnten.31 Und dies ging oft mit höheren Investitionen ins Bildungs- und Gesundheitswesen einher.

Warum sind Demokratien Diktaturen oder absoluten Monarchien überlegen? Es ist nicht weiter verwunderlich, dass es darauf nicht die eine Antwort gibt. Einige Diktaturen werden wirklich schlecht regiert, und die meisten nicht-demokratischen Regime begünstigen oftmals Unternehmen und Personen, die politisch gut vernetzt sind. Sie gewähren diesen häufig Monopole, und sie erlauben die Enteignung von Ressourcen zugunsten von Eliten. Demokratien neigen nicht nur dazu, Oligarchien zu zerschlagen, sondern auch dazu, Herrschern Schranken zu setzen und gesetzestreues Verhalten zu vermitteln. Sie erzeugen mehr Chancen für die weniger wohlhabenden Teile der Bevölkerung und fördern eine gleichmäßigere Verteilung sozialer Macht. Es gelingt ihnen oft gut, innere Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln beizulegen. (Es stimmt, dass demokratische Institutionen in den USA und vielen anderen Ländern weltweit zuletzt kein sonderlich gutes Bild abgegeben haben, und wir werden in Kapitel 10 auf mögliche Gründe dafür zurückkommen.)

Demokratien sind auch noch aus einem weiteren Grund erfolgreich: Die disharmonische Vielstimmigkeit ist vielleicht die größte Stärke der Demokratie. Wenn die politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen nicht von einem einheitlichen Standpunkt her bestimmt werden, existieren eher einander widerstreitende Kräfte und Perspektiven, die der Bevölkerung auferlegte eigennützige Visionen untergraben, unabhängig davon, ob sie diese will oder von ihnen profitiert.

Diese Überlegenheit der Demokratie hängt mit einem Konzept zusammen, das ein französischer Philosoph, der Marquis de Condorcet, vor über zweihundert Jahren formulierte. Condorcet warb mit dem »Jury-Theorem«, wie er es nannte, für die Demokratie. Diesem Theorem zufolge gelangt eine Jury – die, zum Beispiel, aus zwölf Personen mit unterschiedlichen Standpunkten besteht – eher zu einer guten Entscheidung als eine Einzelperson. Jeder bringt seine eigene Sichtweise und seine Vorurteile mit, die sich von Problem zu Problem unterscheiden mögen. Wenn wir eine oder einen von ihnen zum Entscheider oder Herrscher ernennen, trifft diese Person vielleicht schlechte Entscheidungen. Versammeln wir dagegen mehrere Personen mit unterschiedlichen Sichtweisen in dem Raum und führt die endgültige Entscheidung all ihre verschiedenen Standpunkte zusammen, dann werden unter plausiblen Bedingungen die Resultate wahrscheinlich besser ausfallen. Eine gut funktionierende Demokratie arbeitet wie eine sehr große Jury.32

Unser Argument für die demokratische Regierungsform ist etwas anders, aber ähnlich. Die Überlegenheit der Demokratie mag nicht nur darin bestehen, dass sie verschiedene Ansichten zusammenführt, sondern auch darin, dass sie unterschiedliche Perspektiven dazu ermuntert, miteinander zu interagieren und sich gegenseitig auszubalancieren. Die Stärke eines demokratischen Systems besteht somit darin, dass es unterschiedlichste Standpunkte zu Wort kommen lässt und den offenen Meinungsstreit fördert. Wie in Kapitel 1 dargelegt, ist daher eine wichtige Konsequenz unseres Ansatzes, dass Diversität nicht bloß eine »nette Sache« ist, auf die man aber auch verzichten könnte, vielmehr ist sie notwendig, um den anmaßenden Visionen der Eliten entgegenzuwirken und sie einzudämmen. Diese Diversität ist auch das, was die Stärke der Demokratie in ihrem Kern ausmacht.33

Dieses Argument ist einer unter politischen Eliten in vielen westlichen Demokratien weit verbreiteten Auffassung, die auf der Idee der »Delegierung an Technokraten« beruht, beinahe diametral entgegengesetzt. Nach dieser Sichtweise, die in den letzten Jahrzehnten erheblich an Zuspruch gewonnen hat, sollten wichtige politische Entscheidungen, etwa in Bezug auf Geldpolitik, Besteuerung, staatliche Unterstützung angeschlagener Unternehmen, Verringerung der Folgen des Klimawandels und Regulierung der KI, von technokratischen Experten getroffen werden. Es sei für die Masse der Bevölkerung besser, sich nicht allzu sehr in die Details solcher Regierungsangelegenheiten zu vertiefen.

Aber genau dieses technokratische Paradigma führte zu den Maßnahmen, die Wall-Street-Banken zunächst in ihrem Geschäftsgebaren ermutigten und sie dann, während der Finanzkrisen – zu unglaublich großzügigen Bedingungen – vor dem Zusammenbruch bewahrten und sie von jeglicher Verantwortung freisprachen. Bezeichnenderweise wurden die meisten der Schlüsselentscheidungen vor, während und nach der Krise hinter verschlossenen Türen getroffen. So gesehen kann die technokratische Demokratiekonzeption leicht von einer spezifischen Vision vereinnahmt werden, wie etwa der Auffassung, Finanzkonzerne seien gesamtwirtschaftlich nützlich, die sich die meisten politischen Entscheidungsträger zu Beginn der Nullerjahre zu eigen machten.

Unserer Meinung nach beruht die tatsächliche Überlegenheit eines demokratischen Systems größtenteils darauf, dass es uns davor bewahrt, zu Sklaven von Visionen zu werden, die allzu einseitig bzw. beschränkt sind. Um dies zu erreichen, sollten wir die Vielfalt der Stimmen in einer Demokratie wertschätzen und stärken. Gewöhnliche Bürger, deren Belange im Rahmen der technokratischen Konsensbildung übergangen werden, scheinen dies zu verstehen. In Meinungsumfragen zeigt sich, dass die Unterstützung für die Demokratie mit einer Geringschätzung anmaßender Experten einhergeht und dass diejenigen, die an die Demokratie glauben, auf ihre politischen Mitspracherechte nicht zugunsten von Experten und deren Prioritäten verzichten wollen.34

Diese Diversität wird von Experten oft schlechtgeredet; sie behaupten, einfache Bürger könnten keine wertvollen Beiträge zu hochkomplexen fachlichen Problemstellungn leisten. Wir plädieren nicht dafür, dass eine Gruppe von Bürgern aus sämtlichen sozialen Milieus über die Gesetze der Thermodynamik oder die beste Methode, Spracherkennungsalgorithmen zu entwerfen, entscheiden sollte. Vielmehr ist es so, dass verschiedene technologische Entscheidungen – zum Beispiel über Algorithmen, Finanzprodukte und die Art und Weise, wie wir uns physikalische Gesetze zunutze machen – jeweils unterschiedliche soziale und wirtschaftliche Konsequenzen haben, und jede und jeder sollte in der Frage, ob wir diese Folgen wünschenswert oder auch nur akzeptabel finden, ein Mitspracherecht haben.

Wenn ein Unternehmen beschließt, eine Gesichtserkennungstechnologie zu entwickeln, um Personen in einer Menschenmenge zu identifizieren und ihre Bewegung zu verfolgen, und zwar in der Absicht, Produkte besser an sie zu vermarkten oder zu verhindern, dass sie sich an Protesten beteiligen, dann sind seine Ingenieure am besten dafür qualifiziert, zu entscheiden, wie die Software entworfen werden sollte. Aber die Gesellschaft als Ganze sollte mit darüber entscheiden, ob eine solche Software entwickelt und eingesetzt werden sollte. Um vielfältigen Stimmen Gehör zu verschaffen, ist es erforderlich, diese Folgen klar und deutlich zu benennen und Nichtexperten die Möglichkeit zu geben, ihre Erwartungen und Wünsche zu äußern.

Mit einem Wort: Die Demokratie ist eine der tragenden Säulen dessen, was wir als die institutionellen Grundlagen einer inklusiven Vision betrachten. Dies hängt zum Teil mit der gleichmäßigeren Verteilung sozialer Macht und den qualitativ besseren Gesetzen zusammen, die demokratische Staaten in der Regel vorweisen können. Aber ebenso sehr geht es darum, einen Rahmen bereitzustellen, der Bürgern dabei hilft, sich zu informieren und politisch aktiv zu werden, und der durch Normen und sozialen Druck dafür sorgt, dass vielfältige Perspektiven und Meinungen einbezogen werden, die Monopolisierung des Agenda-Settings verhindert wird und kontroverse Diskussionen gefördert werden.

Der Fortschritt lässt oft viele Menschen zurück, sofern er nicht gezielt in eine inklusivere Richtung gelenkt wird. Weil diese Richtung darüber bestimmt, wer gewinnt und wer verliert, wird oft darum gestritten, und soziale Macht entscheidet, wessen bevorzugte Richtung sich durchsetzt. Wir haben in diesem Kapitel die Auffassung vertreten, dass in modernen Gesellschaften bei diesen Entscheidungen die Macht, andere zu überzeugen – mehr noch als wirtschaftliche, politische und Erzwingungsmacht – ausschlaggebend ist. Die soziale Macht von Lesseps rührte nicht von Panzern oder Kanonen her. Und er war auch nicht besonders reich oder bekleidete ein politisches Amt. Vielmehr besaß Lesseps Überzeugungskraft.

Überzeugungskraft ist besonders wichtig, wenn es um technologische Entscheidungen geht, und die technologischen Visionen derjenigen, die andere überzeugen können, werden sich eher durchsetzen.

Wir sind auch der Frage nachgegangen, worauf Überzeugungskraft beruht. Selbstverständlich spielen Ideen und Charisma eine Rolle. Aber Überzeugungskraft wird auch von eher systemischen Kräften getragen. Diejenigen, die die Agenda festlegen können, in der Regel also Personen von hohem Status mit Zugang zu den Korridoren der Macht, besitzen eine höhere Überzeugungskraft. Sozialer Status und Zugang werden von den Institutionen und Normen einer Gesellschaft geprägt; sie bestimmen, ob am Tisch Platz für diverse Stimmen und Interessen ist, wenn die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden.35

Wir sind der Auffassung, dass Diversität deshalb so wichtig ist, weil sie der sicherste Weg ist, um Gegenmächte aufzubauen und übertrieben selbstsichere und egoistische Visionen einzudämmen. All dies sind allgemeine Betrachtungen, aber im Kontext der technologischen Innovation werden sie besonders wichtig.

Wir sahen außerdem, wie Überzeugungskraft eine starke, sich selbst verstärkende Dynamik hervorbringt: Je mehr Menschen einem Gehör schenken, umso höher ist der Status, den man gewinnt, und umso erfolgreicher wird man in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht. Auf diese Weise kann man seine Ideen mit größerem Nachdruck propagieren, seine Überzeugungskraft stärken und seine wirtschaftlichen und politischen Ressourcen weiter vergrößern.

Diese Rückkopplung spielt bei technologischen Entscheidungen sogar eine noch wichtigere Rolle. Die technologische Landschaft bestimmt nicht nur, wem es gut geht und wer darbt, sie beeinflusst auch maßgeblich, wer soziale Macht besitzt. Diejenigen, die durch neue Technologien zu Reichtum gelangen oder deren Prestige und Einfluss zunimmt, werden mächtiger. Technologische Entscheidungen werden ihrerseits von vorherrschenden Visionen beeinflusst und steigern tendenziell die Macht und den Status derjenigen, deren Vision die Richtung der technologischen Innovation bestimmt.

Diese sich selbst verstärkende Dynamik ist eine Art Teufelskreis. Historiker und Ökonomen haben diese Dynamik erforscht und dokumentiert, auf welchen Wegen die Reichen an politischem Einfluss gewinnen und wie dieser Zugewinn an politischer Macht sie befähigt, noch mehr Reichtum anzuhäufen. Das Gleiche gilt für die neue Visionsoligarchie, die mittlerweile den weiteren Verlauf der technologischen Innovation bestimmt.

Vielleicht meinen Sie, es sei doch viel besser, von Überzeugungskraft als von Unterdrückungsmacht kontrolliert zu werden. In vielerlei Hinsicht ist das richtig. Aber es gibt zwei Punkte, wo Überzeugungskraft im modernen Kontext genauso schädlich sein kann. Zum einen überreden Menschen mit Überzeugungskraft auch sich selbst dazu, die Leidtragenden dieser Entscheidungen und die Kollateralschäden, die sie mit sich bringen, zu ignorieren (weil die Überreder auf der richtigen Seite der Geschichte ständen und für das Gemeinwohl tätig seien). Außerdem sind einseitig begünstigende Entscheidungen, die mit Überzeugungskraft propagiert werden, weniger offenkundig als jene, die durch Anwendung von Zwang zustande kommen, sodass sie womöglich leichter übersehen und potenziell schwerer korrigiert werden können.

Dies ist eine regelrechte »Visionsfalle«. Sobald sich eine Vision durchgesetzt hat, kann man sich nur noch schwer von ihren Fesseln befreien, weil die Menschen ihren Lehren in der Regel Glauben schenken. Und selbstverständlich wird es noch viel schlimmer, wenn sich eine Vision jeglicher Kontrolle entzieht, Selbstüberschätzung fördert und alle verblendet.36

Menschen außerhalb des Technologiesektors und fern der zeitgenössischen Korridore der Macht empfinden verständlicherweise Frustration, aber tatsächlich sind sie dieser Visionsfalle nicht hilflos ausgeliefert. Sie können alternative Narrative unterstützen, inklusivere Institutionen aufbauen und andere Quellen sozialer Macht stärken, die die Auswirkungen dieser Falle abschwächen.

Weil Technologien in hohem Maße anwendungsoffen sind, gibt es keinen Mangel an überzeugenden Narrativen, die alternative Entwicklungspfade für Technologien unterstützen können. Es gibt für Technologien immer zahlreiche mögliche Verwendungen, mit sehr unterschiedlichen Konsequenzen, und wenn wir uns in eine bestimmte Idee oder eine beschränkte Vision verrennen, dann geschieht dies oft nicht aus einem Mangel an Optionen. Sondern weil diejenigen, die die Agenda festlegen und über soziale Macht verfügen, uns diese auferlegt haben. Um diese Situation zu korrigieren, ist es notwendig, das Narrativ zu verändern: Hierfür muss man die maßgebliche Vision genau analysieren, die Kosten des gegenwärtigen Pfads offenlegen und alternativen zukünftigen Nutzungsweisen der jeweiligen Technologie Aufmerksamkeit schenken und sie öffentlich diskutieren.

Gewöhnliche Bürger können sich auch am Aufbau demokratischer Institutionen beteiligen und so die Machtbasis für das Agenda-Setting verbreitern. Wenn verschiedene Gruppen berechtigt sind, mit am Tisch zu sitzen, wenn wirtschaftliche Ungleichheiten und damit soziale Statusunterschiede begrenzt sind und wenn Diversität und Inklusion in Gesetzen und Regeln verankert sind, wird es für einige wenige Personen schwieriger, mit ihren Sichtweisen die zukünftige Nutzung einer Technologie allein zu bestimmen.

Tatsächlich werden wir in späteren Kapiteln sehen, dass institutioneller und gesellschaftlicher Druck Visionen und den Fortschritt zumindest manchmal in eine inklusivere Richtung drängten. Das, was wir vorschlagen, ist bereits getan worden und kann wieder getan werden.

Bevor wir beginnen, diese Ideen im aktuellen Kontext anzuwenden, werden wir in den nächsten drei Kapiteln die komplexe Rolle des technologischen Wandels – der manchmal auch zu einer Verarmung führt – zunächst in der vorindustriellen Landwirtschaft und dann in den frühen Phasen der Industrialisierung diskutieren. In beiden Fällen werden wir sehen, dass im Namen des Gemeinwohls verengte Visionen Innovationen und die Anwendung neuer Technologien antrieben. Die Erträge flossen denjenigen zu, die die Technologie kontrollierten, welche dem Gros der Bevölkerung oft mehr schadete als nutzte. Nur wenn sich robuste Gegenkräfte entwickelten, schlug der technologische Fortschritt eine andere Richtung ein, die geteiltem Wohlstand förderlicher war.