ROD: Angefangen hat es eigentlich wie jedes andere Konzert auch. Wir hatten das alles akribisch einstudiert. Das Licht ging an, die Band kam auf die Bühne. Graham spielte das Intro zu »This Could Get Ugly«, und die Menge fing an zu kreischen.
BILLY: Camila stand seitlich am Bühnenrand. Sie ließ Julia bis spät aufbleiben. Die Zwillinge waren mit einer Babysitterin im Hotel. Ich weiß noch, wie ich zur Seite hinter den Vorhang schaute und Camila dort sah, mit Julia auf der Hüfte. Camilas Haare reichten ihr zu der Zeit praktisch bis zur Taille. Normalerweise waren sie braun, aber im Sommer wurden sie immer ein bisschen heller, da wirkten sie golden. Die beiden – Camila und Julia – hatten beide Ohrstöpsel in den Ohren. So knallorangefarbene Dinger, die ihnen links und rechts aus den Köpfen ragten. Ich lächelte die beiden an, und Camila lächelte zurück. Sie hatte so ein wunderschönes Lächeln. Ihre Schneidezähne waren ganz flach. Ist das nicht komisch? Normalerweise sind Schneidezähne ein bisschen geschwungen. Aber ihre waren irgendwie gerade. Und dadurch war ihr Lächeln so perfekt. Eine ganz gerade Linie. Ihr Lächeln hat mich immer beruhigt.
An dem Abend in Chicago, als sie mich vom Bühnenrand anlächelte … da dachte ich kurz, alles wird gut.
DAISY: Das hat mich fertiggemacht, ihn anzusehen, wie er sie angesehen hat. Mir fällt nichts ein, was einen so egozentrisch macht wie Drogensucht und Liebeskummer. Ich hatte ein selbstsüchtiges Herz. Außer meinem eigenen Schmerz waren mir alle anderen und alles andere egal. Mich interessierten nur meine eigenen Bedürfnisse. Meine eigene Sehnsucht. Ich hätte allen anderen wehgetan, wenn das meinen Schmerz gelindert hätte. So schlecht ging es mir.
BILLY: Wir haben alles gespielt, wie sonst auch. Wir spielten »Young Stars«, »Chasing the Night« und »Turn it Off«. Aber irgendwas stimmte nicht. Es fühlte sich an … als würden wir den Boden unter den Füß
en verlieren.
WARREN: Karen und Graham schienen sauer aufeinander zu sein. Pete wirkte abwesend. Eddie hatte sich über Billy beschwert – aber das war ja nichts Neues.
DAISY: Vorne hatte jemand ein Schild, auf dem »Honeycomb« stand.
BILLY: Auf der Tour wurde ständig »Honeycomb« verlangt. Normalerweise hab ich das ignoriert. Ich wollte es einfach nicht singen. Aber ich wusste, dass Daisy den Song mochte. Ich wusste, dass sie stolz darauf war. Und … ich weiß nicht, was über mich kam, aber ich fragte ins Mikro: »Wollt ihr ›Honeycomb‹ hören?«
GRAHAM: Ich hab das Konzert schlafwandelnd hinter mich gebracht. Ich war anwesend, aber irgendwie auch nicht.
KAREN: Ich wollte es einfach hinter mich bringen und wieder zurück ins Hotel. Ich wollte Ruhe. Ich wollte nicht … ich wollte nicht auf der Bühne stehen und mich von Graham beobachten lassen, spüren müssen, wie er mich verurteilte.
WARREN: Als Billy »Honeycomb« sagte, war der Jubel im Publikum ohrenbetäubend.
EDDIE: Wir sind ja alle nur dazu da zu spielen, was Billy spielen will, hab ich recht? Man muss uns nicht vorher sagen, dass wir vielleicht einen Song spielen werden, den wir ein ganzes Jahr lang nicht mehr gespielt hatten.
DAISY: Was sagt man zu einer johlenden Menge? Sagt man Nein? Natürlich nicht.
BILLY: Daisy meinte: »Na gut, lass uns das machen.« Ich hab sie ans Mikro geholt, und kaum stand sie da, tat es mir auch schon wieder leid. Ich merkte, dass sie mich nicht so nah bei sich
haben wollte, aber da konnte ich es schon nicht mehr rückgängig machen. Ich musste es so aussehen lassen, als wäre alles okay.
DAISY: Er roch nach Kiefernnadeln und Moschus. Seine Haare waren hinter den Ohren ungefähr einen Zentimeter zu lang. Seine Augen waren ganz klar und so grün wie eh und je.
Angeblich ist es schwer, wenn man weit entfernt ist von dem Menschen, den man liebt, aber für mich war es einfach richtig schwer, direkt neben ihm zu stehen.
BILLY: Ich kann schlecht sagen, was ich gewusst habe und wann ich es gewusst habe. In meiner Erinnerung … geht alles durcheinander. Ich kann das kaum genau trennen, was wann und warum passiert ist oder warum ich was getan habe. Rückschaufehler.
Aber ich erinnere mich ganz deutlich daran, dass Daisy ein weißes Kleid getragen und die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Dazu trug sie ihre großen Kreolen und natürlich ihre Armreife. Ich hab sie angesehen, kurz bevor wir gesungen haben, und ich glaube – das glaube ich wirklich – ich glaube, ich dachte, sie sei die schönste Frau, die ich in meinem Leben gesehen habe. Auf die Art, dass man etwas besser zu schätzen weiß … Ich meine … man weiß Menschen besser zu schätzen, wenn man weiß, dass man sie nicht mehr lange bei sich haben wird. Und ich glaube, ich wusste, dass sie bald fortgehen würde. Ich denke, ich wusste, dass sie wegwollte. Ich weiß nicht, woher. Aber ich habe das Gefühl, dass ich’s wusste. Wahrscheinlich wusste ich’s nicht. Und es kommt mir nur so vor.
Vermutlich will ich sagen, als wir anfingen, »Honeycomb« zu singen, wusste ich, dass ich sie verlieren würde oder auch nicht. Und ich wusste, dass ich sie liebe oder auch nicht. Und vielleicht hab ich erkannt, was sie alles bedeutete in dem Moment … oder vielleicht auch nicht.
DAISY: Ich fing an zu singen und sah ihn dabei an. Und er mich. Und weißt du was? Drei Minuten lang vergaß ich, dass wir vor
zwanzigtausend Menschen aufgetreten sind. Ich habe vergessen, dass seine Familie da war. Ich habe vergessen, dass wir in einer Band waren. Ich habe einfach nur existiert. Drei Minuten lang hab ich mit dem Mann, den ich liebte, zusammen gesungen.
BILLY: Der richtige Song, zur richtigen Zeit mit der richtigen Person …
DAISY: Kurz vor dem Ende des Songs schaute ich zum Bühnenrand und sah Camila dort stehen.
BILLY: Und ich … (hält inne). Oh Gott, ich war so fertig mit den Nerven.
DAISY: Ich wusste, dass er mir nicht gehört.
Er gehörte ihr.
Dann hab ich … Ich hab’s einfach getan. Ich hab den Song so gesungen, wie Billy ihn ursprünglich geschrieben hatte. Ohne die Fragen.
»The life we want will wait for us / we will live to see the lights coming off the bay / and you will hold me, you will hold me, you will hold me / until that day.«
Für mich war das die schwierigste Zeile, die ich je singen musste.
BILLY: Als ich gehört habe, dass sie die Zeilen so sang, wie ich sie zuerst geschrieben hatte, wie sie über die Zukunft sang, die Camila und ich haben würden … waren da so viele Zweifel in meinem Herzen. So viele Zweifel an mir selbst, dass ich weiter auf dem guten Weg bleiben konnte, auf dem ich mich befand. Und ich … (holt tief Luft). Dieser Text, diese kleine Geste. Einen Augenblick lang wies Daisy mich nicht darauf hin, dass ich vielleicht scheitern könnte, sondern sang den Song so, als wüsste sie, dass ich es schaffen würde. Das hat Daisy getan. Daisy. Ich hatte gar nicht gewusst, wie sehr ich das gebraucht hatte, bis sie
es mir gegeben hat. Eigentlich hätte es mir danach besser gehen müssen, aber es tat auch weh.
Weil ich, wenn ich der Mann wäre, der ich sein wollte – wenn ich Camila das Leben schenken könnte, das ich ihr versprochen hatte – na ja, ich meine … damit würde ich auch viel verlieren.
DAISY: Ich hatte mich in den Falschen verliebt, der genau der Richtige war. Und ich hatte immer und immer wieder Entscheidungen getroffen, die es immer noch schlimmer machten und niemals besser. Schließlich verlor ich den Verstand.
BILLY: Als wir von der Bühne gingen, drehte ich mich zu Daisy um, und mir fehlten die Worte. Sie lächelte mich an, aber es war so ein Lächeln, das eigentlich gar keins war. Und sie ging weg. Mir rutschte das Herz in die Magengrube.
Mir wurde in dem Moment ganz klar, dass ich mich an der Möglichkeit festgehalten hatte … an der Möglichkeit von Daisy.
Und plötzlich fiel es mir sehr schwer, davon abzulassen. Zu sagen: »Niemals.«
DAISY: Ich sah Billy Dunne von der Bühne gehen und traute mir nicht zu, auch nur ein einziges Wort zu ihm zu sagen. Ich konnte nicht in seiner Nähe sein, also winkte ich zum Abschied und ging.
KAREN: Als wir von der Bühne gegangen waren, stieß ich zufällig auf Graham und sagte: »’tschuldigung.« Er erwiderte: »Es gibt eine Million Dinge, für die du dich entschuldigen solltst.«
GRAHAM: Ich war wütend.
KAREN: Er schien zu denken, dass sein Schmerz der einzige war, auf den es ankam.
GRAHAM: Ich schrie sie an, und ich weiß, dass ich sie beschimpft
habe.
KAREN: Er hatte nicht durchmachen müssen, was ich durchgemacht hatte. Ich wusste, dass es ihm wehtat. Aber was hatte er für ein Recht, mich anzuschreien?
WARREN: Ich ging in die Garderobe, und da waren Karen und Graham, die sich anschrien.
EDDIE: Ich packte Karen an der Hand, bevor sie Graham eine reinhauen konnte.
ROD: Ich brachte Karen in einen der Räume hinter der Bühne. Die anderen hatten sich Graham geschnappt, wir hielten die beiden voneinander fern.
GRAHAM: Danach hab ich Billy gesucht, wollte mit ihm reden. Ich brauchte jemanden zum Reden. Als ich ihn nach dem Konzert in der Hotellobby fand, sagte ich: »Mann, ich brauche deine Hilfe.« Aber er fiel mir ins Wort und meinte, er hätte keine Zeit.
BILLY: Camila und Julia waren schon oben, aber ich war noch unten geblieben. Stand in der Hotellobby und wusste nicht, was ich tun sollte. Mir ging so vieles durch den Kopf. Und dann, bevor ich wusste, wie mir geschah (seufzt), war ich auf dem Weg in die Hotelbar. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, ging an die Bar, um mir einen Tequila zu holen. Genau das hab ich gemacht. Als Graham reinkam, war ich auf dem Weg zur Bar, um mir einen Drink zu holen.
GRAHAM: Er hat mich abgewürgt. Ich sagte: »Es ist wichtig. Bitte, ausnahmsweise. Ich muss mit dir reden.«
BILLY: Ich konnte nichts machen, außer die Kontrolle darüber zu behalten, was ich tue. Eine Stimme rief mir zu, ich solle mir einen Tequila holen, und genau das wollte ich. Ich konnte niemandem helfen. Ich konnte nichts für andere
tun.
GRAHAM: Ich stand in der Lobby, und ich weiß, dass man mir ansah, dass es mir nicht gut ging. Ich war kurz davor, loszuheulen. Aber ich heule nicht. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben nicht öfter als zweimal geheult. Einmal, als meine Mom 1994 gestorben ist, und dann … Auf jeden Fall brauchte ich meinen Bruder. Ich brauchte meinen Bruder.
BILLY: Er packte mich am Hemd und sagte: »Ich hab unser ganzes Leben lang so viel für dich getan, und jetzt hast du nicht mal fünf verdammte Minuten, um mit mir zu reden?« Ich nahm seine Hand, schlug sie weg und sagte ihm, er solle gehen. Und das hat er gemacht.
GRAHAM: Man sollte nicht so viel Zeit mit seinem Bruder verbringen. Wirklich nicht. Man sollte nicht mit Bandkolleginnen schlafen und nicht mit seinem Bruder arbeiten. Außerdem gab es noch eine ganze Menge anderen Mist, den ich, wenn ich alles noch mal machen müsste, anders machen würde.
KAREN: Ich ging wieder zurück ins Hotel, schlug die Tür zu, setzte mich aufs Bett und heulte.
WARREN: Eddie, Pete, Rod und ich rauchten nach dem Konzert einen Joint. Alle anderen waren nirgendwo in Sicht.
KAREN: Ich bin zu Graham ans Zimmer und hab an die Tür geklopft.
GRAHAM: Ich hab verstanden, warum wir das Baby nicht bekommen konnten. Wirklich. Aber ich hab mich so alleine gefühlt mit dem, was ich verloren hatte. Ich war ja der Einzige, der überhaupt das Gefühl hatte, dass wir etwas verloren hatten. Ich war der Einzige, der getrauert hat. Und deshalb war ich wütend auf
sie.
KAREN: Er machte die Tür auf, und ich dachte: Warum bin ich hergekommen? Ich hatte nichts zu sagen, das irgendwas wiedergutgemacht hätte.
GRAHAM: Wieso hatte sie nicht die Zukunft gesehen, die ich gesehen hatte?
KAREN: Ich sagte: »Du verstehst mich nicht. Du erwartest von mir, dass ich jemand bin, der ich nicht sein kann.«
Und Graham erwiderte: »Du hast mich nie so geliebt wie ich dich.«
Und beides stimmte.
GRAHAM: Was hätten wir tun sollen? Wie macht man nach so was weiter?
KAREN: Ich hab mich zu ihm vorgebeugt und meinen Körper an ihn gepresst, und zuerst wollte er mich nicht umarmen, wollte die Arme nicht um mich legen. Aber dann hat er es doch getan.
GRAHAM: Sie fühlte sich warm an in meinen Armen. Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich, dass sie kalte Hände hatte. Ich weiß nicht, wie lange wir so stehen blieben.
KAREN: Manchmal frage ich mich, ob ich an Grahams Stelle vielleicht auch ein Baby gewollt hätte. Wenn ich jemanden gekannt hätte, der es aufzieht, der seine Träume dafür aufgibt, der etwas opfert und alles zusammenhält, während ich losziehe und mache, was ich will, und an den Wochenenden wieder nach Hause komme … Vielleicht hätte ich dann auch ein Baby gewollt.
Obwohl, ich weiß es nicht. Ich bin trotzdem nicht sicher, ob ich das gewollt hätte.
Vermutlich will ich sagen, ich war nicht sauer auf Graham, weil er mich nicht verstanden hat. Und letztlich, denke ich, war er auch gar nicht sauer auf mich
.
GRAHAM: Wir hatten einander sehr wehgetan. Und das bedaure ich. Das bedaure ich am allermeisten. Weil ich sie wirklich von ganzem Herzen geliebt habe. Bis heute ist da immer noch ein Teil in mir, der sie liebt. Und auch ein Teil, der ihr niemals verzeihen wird.
KAREN: Wenn ich über ihn spreche, habe ich sogar jetzt noch das Gefühl, alte Wunden wieder aufzureißen.
GRAHAM: Als ich an dem Abend ins Bett ging, wusste ich, dass ich nicht mit Karen in einer Band sein konnte.
KAREN: Wir konnten auf keinen Fall täglich weiter miteinander zu tun haben. Stärkere Menschen hätten das vielleicht geschafft. Wir nicht.
BILLY: Ich saß an der Bar und bestellte einen Tequila pur. Und er kam. Ich saß da, nahm ihn, schwenkte ihn im Glas und roch dran. Dann kamen zwei Frauen zu mir und baten mich um ein Autogramm. Sie meinten, so was wie Daisy und mich hätten sie noch nie gesehen. Ich unterschrieb auf zwei Cocktailservietten, dann gingen sie wieder.
DAISY: Es war mitten in der Nacht, als ich ins Hotel kam. Ich kann mich nicht erinnern, was ich gemacht habe. Ich weiß nur noch, dass ich Billy aus dem Weg gegangen bin. Ich glaube, wahrscheinlich bin ich durch die Stadt gelaufen oder so.
Als ich wieder die Lobby betrat, war ich total high, hatte mich voll zugedröhnt. Ich bog nach rechts ab, ging direkt zur Bar. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass ich nicht mehr bei Bewusstsein sein wollte.
Aber anscheinend hab ich nicht geschnallt, wo es langging, weil ich dann irgendwie doch schnurstracks in den Fahrstuhl gestiegen bin. Ich dachte: Na schön, dann nehme ich meine Reds und geh halt ins Bett. Aber als ich vor meiner Zimmertür stand, bekam ich den Schlüssel nicht in die Tür. Ich versuchte
es immer wieder, aber er passte nicht. Und dabei hab ich wohl sehr viel Lärm gemacht.
Dann glaubte ich, die Stimme eines Kindes zu hören.
BILLY: Ich nahm das Glas – den Tequila, meine ich – nahm es und starrte es an. Ich hab mir überlegt, wie er wohl schmeckt. Ich war völlig in Gedanken versunken, als ein Typ neben mir sagte: »Hey, bist du nicht Billy Dunne?« Ich stellte das Glas wieder ab.
DAISY: Ich saß im Flur fest, kam nicht in mein Zimmer rein. Ich sank auf den Boden und fing an zu weinen.
BILLY: Ich sagte: »Ja, der bin ich.«
Und der Mann behauptete: »Meine Freundin steht voll auf dich.«
»Tut mir leid.«
»Was machst du denn alleine hier in der Bar? Hab dich für einen gehalten, der jede Frau der Welt haben kann.«
»Manchmal muss man alleine sein«, antwortete ich.
DAISY: Ich schaute den Flur entlang und merkte … na ja … Camila kam aus dem Zimmer, mit Julia auf dem Arm …
AUTORIN: Moment mal.
Anmerkung der Autorin: Obwohl ich mich bislang bewusst aus der Erzählung herausgenommen habe, möchte ich an dieser Stelle doch eine wortgetreue Mitschrift eines Gesprächs einfügen, das ich mit Daisy geführt habe, da ich tatsächlich die Einzige bin, die diesen wesentlichen Teil von Daisys Geschichte bestätigen kann.
AUTORIN: Du hattest ein weißes Kleid an
.
DAISY: Genau.
AUTORIN: Und du hast im Flur gesessen, weil du die Zimmertür nicht aufbekommen hast.
DAISY: Richtig.
AUTORIN: Und meine Mom …
DAISY: Deine Mom hat mir die Tür aufgeschlossen.
AUTORIN: Daran kann ich mich erinnern. Ich war dabei. Ich hatte schlecht geträumt und war aufgewacht.
DAISY: Du warst fünf oder so, glaube ich. Dann … Du hast ein gutes Gedächtnis.
AUTORIN: Ich meine, ich hab’s total vergessen, aber jetzt wo du’s sagst, fällt mir wieder ein, dass ich dabei war. Meine Mom hat es nie wieder erwähnt. Ich frage mich, warum sie nicht mit mir darüber gesprochen hat.
DAISY: Ich hatte immer den Eindruck, dass Camila dachte, wenn jemand die Geschichte erzählt, dann sollte ich das sein.
AUTORIN: Ah, okay. Und was ist dann passiert?
DAISY: Deine Mom … Also, Camila … und … soll ich weiter die Namen sagen? Du hast gesagt, ich soll lieber die Namen sagen.
AUTORIN: Ja, mach weiter, nenn mich Julia. Und meine Mom nennst du Camila. So wie bisher auch.
Ende der Mitschrift.
DAISY: Also, Camila kam in den Flur, hatte Julia auf dem Arm. Sie fragte, ob ich Hilfe brauche, und ich verstand nicht, warum sie so nett war
.
Ich sagte Ja, und sie nahm meinen Schlüssel, machte mir mein Zimmer auf. Und sie kam mit mir rein, setzte Julia aufs Bett und sagte mir, dass ich mich lieber hinsetzen sollte. Dann hat sie mir ein Glas Wasser gebracht, und ich meinte: »Du kannst gehen, ich komm schon klar.«
Sie sagte: »Nein, tust du nicht.«
Ich weiß noch, dass ich echt erleichtert war, weil sie mich durchschaut hatte und weil sie nicht gehen wollte. Sie setzte sich neben mich und nahm kein Blatt vor den Mund. Sie wusste genau, was los war. Ganz genau, was sie sagen wollte. Ich war … genervt. Ich war so durchgedreht, und Camila war so beherrscht.
Sie sagte: »Daisy, er liebt dich. Du weißt, dass er dich liebt. Ich weiß, dass er dich liebt. Aber er wird mich nicht verlassen.«
BILLY: Ich hab zu dem Typen gesagt: »Weißt du, manchmal muss man sich den Kopf frei machen.«
»Was kann ein Mann wie du für Probleme haben?«, wunderte er sich.
Er fragte mich, wie viel Geld ich hätte, und ich sagte es ihm, sagte ihm direkt, wie viel ich auf dem Konto hatte.
Er meinte: »Verzeih mir, wenn ich kein allzu großes Mitleid mit dir habe.«
Ich nickte. Das konnte ich verstehen. Ich nahm den Drink und setzte ihn an die Lippen.
DAISY: Camila sagte: »Ich möchte, dass du weißt, dass ich ihn nicht aufgeben werde. Ich werde nicht erlauben, dass er mich verlässt. Ich werde das mit ihm zusammen durchstehen. So wie wir alles andere durchgestanden haben. Wir sind größer als das. Wir sind größer als du.«
Julia kroch auf einer Seite des Betts unter die Decke, und ich sah sie an.
Camila sagte zu mir: »Ich wünschte, Billy würde keine andere lieben. Aber weißt du, was ich vor langer Zeit für mich entschieden habe? Dass ich keine perfekte Liebe brauche und auch keinen perfekten Ehemann, keine perfekten Kinder und kein
perfektes Leben. Ich will nur mein eigenes. Ich will meine Liebe, meinen Mann, meine Kinder, mein Leben.
Ich bin nicht perfekt. Ich werde nie perfekt sein. Und ich erwarte auch nicht, dass sonst irgendetwas perfekt ist. Aber etwas muss nicht perfekt sein, um stark zu sein. Solltest du warten, in der Hoffnung, dass Risse auftauchen oder jemand einknickt, dann muss ich … Ich muss dir sagen, das wird nicht passieren. Und ich werde nicht zulassen, dass es Billy passiert. Das heißt, dass nur du selbst daran kaputtgehen wirst.«
BILLY: Ich hab probiert. Nicht mal einen kleinen Schluck, nur genippt. Es hat mir alles abverlangt, den Drink nicht einfach runterzukippen, ihn mir nicht einfach in den Rachen zu schütten. Der Tequila schmeckte nach Trost und Freiheit. So geht man in die Falle … Das Zeug kommt einem vor wie das Gegenteil dessen, was es ist. Aber mein ganzer Körper wurde flau von dem Gefühl, es auf der Zungenspitze zu schmecken.
DAISY: Camila stand auf, schenkte mir noch ein Glas Wasser ein und hielt mir ein Taschentuch hin. Da merkte ich erst, dass ich am Schluchzen war. Sie sagte: »Daisy, ich kenne dich nicht sehr gut, aber ich weiß, dass du ein großes Herz hast und ein guter Mensch bist. Ich weiß, dass meine Tochter, wenn sie groß ist, so werden will wie du. Deshalb möchte ich nicht, dass dir wehgetan wird. Ich möchte nur das Beste für dich. Ich möchte, dass du glücklich wirst. Das meine ich ehrlich. Wahrscheinlich glaubst du mir das nicht, aber so ist es.« Sie sagte, sie wolle nur eins klarstellen: »Ich kann nicht hier sitzen und zusehen, wie ihr euch gegenseitig quält, Billy und du. Das möchte ich nicht für den Mann, den ich liebe. Nicht für den Vater meiner Kinder. Und für dich auch nicht.«
Ich sagte: »Ich will das auch nicht.«
BILLY: Der Mann neben mir, der mit der Freundin, hatte mich beobachtet. Er hatte ein volles Bierglas in der Hand und trank davon, wie man etwas trinkt, das einem gleichgültig ist
.
Ich sah ihn an, und dann … dann hab ich’s getan.
Ich hab getrunken.
Vielleicht einen halben Fingerbreit oder so. Danach hielt ich das Glas fest, als würde es mir jemand wegnehmen wollen.
Er sagte: »Vielleicht irre ich mich ja, und jemand wie du kann trotz allem aus irgendeinem Grund am Boden sein.« Ich sagte mir, stell das Glas hin. Stell es einfach hin.
DAISY: Camila sagte: »Daisy, du musst die Band verlassen.«
Zu dem Zeitpunkt schlief Julia schon. Camila fuhr fort: »Wenn ich mich irre und du schon dabei bist, weiterzuziehen und ihn zurückzulassen, dann hör nicht hin, was ich sage. Du hast mir gegenüber keine Verpflichtungen. Aber wenn ich recht habe, dann würdest du uns allen einen Gefallen tun, indem du aussteigst und einen Entzug machst, dir ein Leben fern von ihm aufbaust. Du würdest das für dich selbst tun, und ihm würdest du damit auch einen Dienst erweisen. Und darüber hinaus würdest du mir helfen, meine Kinder zu beschützen.«
BILLY: Ich konnte das Glas nicht abstellen. Meine Hand umklammerte es. Und ich dachte: Ich wünschte, dieser Mann würde es mir abnehmen, bevor ich es austrinke. Nimm es mir doch ab und wirf es durch den Raum.
DAISY: Ich schwieg eine Weile, versuchte zu verarbeiten, was Camila sagte, dann sprach sie weiter: »Ich denke, es ist Zeit, dass du gehst. Aber wie auch immer du dich entscheidest, Daisy, du weißt, ich drücke dir die Daumen. Ich will, dass du clean wirst, auf dich aufpasst. Dafür drücke ich dir die Daumen.«
Schließlich sagte ich: »Wieso ist dir so wichtig, was aus mir wird?«
Sie erwiderte: »Weil du mir etwas bedeutest, du bedeutest sehr vielen Menschen auf der Welt etwas.«
Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Die mögen mich, aber ich bedeute ihnen nichts.
«
»Nein, da irrst du dich«, widersprach Camila und schwieg dann einen Augenblick. »Willst du etwas wissen, das ich Billy nie verraten habe? ›A Hope Like You‹ ist mein Lieblingssong. Nicht nur mein Lieblingssong von The Six, sondern mein Lieblingssong überhaupt. Er erinnert mich an meine erste große Liebe. Er hieß Greg, aber vom ersten Moment, in dem ich ihn kennengelernt habe, wusste ich, dass er mich niemals so sehr lieben würde wie ich ihn. Trotzdem wollte ich ihn. Und obwohl ich es vorher schon wusste, hat er mir mein Herz millionenfach gebrochen. Als ich zum ersten Mal den Text des Songs gehört habe, musste ich sofort wieder daran denken. An meine erste große Liebe. Mit dem ganzen Liebeskummer, der Hoffnung und der Zärtlichkeit. Du hast mir das Gefühl gegeben, neu und wahrhaftig zu sein. Das warst du. Du hast einen wunderschönen Song darüber geschrieben, dass man etwas will, das man niemals haben kann, und dass man es trotzdem will. Du bedeutest mir etwas, weil ich eine großartige Songwriterin in dir sehe – die an ähnlichen Dingen leidet wie der Mann, den ich liebe. Ihr haltet euch beide für verlorene Seelen, dabei seid ihr das, wonach jeder sich sehnt.«
Ich ließ das alles sacken, hörte ihr wirklich zu. Dann sagte ich: »Der Song handelt nicht … Er handelt nicht von Billy, falls du das gedacht haben solltest. Es geht darum, eine Familie und Kinder haben zu wollen, obwohl man weiß, dass man ganz schlecht darin wäre. Er handelt von dem Gefühl, eine Versagerin zu sein und so etwas gar nicht verdient zu haben. Trotzdem wünscht man es sich. Und ich sehe dich und alles, was du bist, und ich weiß, dass ich das niemals sein kann.«
Camila sah mich einen Augenblick an, dann sagte sie etwas, das mein Leben verändert hat. Sie sagte: »Gib dich nicht schon so früh auf, Daisy. Du bist zu allem Möglichen fähig, das weißt du noch gar nicht.« Und das blieb hängen. Noch stand gar nicht fest, wer ich war. Es gab noch Hoffnung für mich, wenn eine Frau wie Camila Dunne fand … Wenn Camila Dunne fand, ich sei es wert, gerettet zu werden
.
BILLY: Der Mann schaute auf meine Hand, und mir kam es vor, als würde er meinen Ehering betrachten. Er fragte mich, ob ich verheiratet sei. Ich nickte. Da lachte er und meinte, seine Freundin wäre bestimmt am Boden zerstört, wenn sie das erfahren würde. Dann wollte er wissen, ob ich Kinder habe. Da horchte ich auf, mit der Frage hatte er mich überrumpelt. Ich nickte erneut, woraufhin er sagte: »Hast du Bilder?« Und ich dachte an die Fotos von Julia, Susana und Maria in meiner Brieftasche.
Dann stellte ich das Glas ab.
Das war nicht einfach. Ich musste um jeden Zentimeter ringen, die meine Hand wie durch feuchten Zement auf den Tresen sank. Aber ich schaffte es. Ich stellte das Glas ab.
DAISY: Irgendwann am frühen Morgen holte Camila Julia aus meinem Bett und nahm meine Hand. Ich drückte sie, und sie sagte: »Gute Nacht, Daisy.«
Ich sagte: »Gute Nacht.« Julia hatte den Kopf an Camilas Brust gelegt, sie schlief tief und fest, rutschte sich im Schlaf ein bisschen zurecht, schob ihren Hals an Camilas Hals, als wäre das der sicherste, weichste Ort, an dem sie je gewesen war.
BILLY: Ich zog meine Brieftasche heraus und zeigte dem Mann die Fotos, die ich von meinen Töchtern dabeihatte. Dabei nahm er mein Glas und stellte es weg von mir und auf die andere Seite neben sich auf den Tresen.
Er sagte: »Wunderhübsche Mädchen.«
»Danke.«
Und er ergänzte: »Das ist doch was, wofür es sich jeden Tag zu kämpfen lohnt, oder?«
Und ich sagte: »Allerdings.«
Er sah mich an, ich starrte auf das Glas und … fühlte mich stark genug. Um wegzugehen. Ich wusste nicht, wie lange ich mich noch so stark fühlen würde. Also legte ich einen Zwanzigdollarschein auf den Tresen und sagte: »Danke.«
Er meinte: »Nicht der Rede wert.« Und dann gab er mir meinen Zwanziger zurück und sagte: »Darf ich dich
einladen? Dann weiß ich wenigstens, dass ich auch mal was für jemanden gemacht habe.«
Ich steckte das Geld wieder ein, und er gab mir die Hand.
Dann ging ich.
DAISY: Ich machte ihr die Tür auf, sie glitt mit Julia hinaus in den hell erleuchteten Gang und sagte: »Nimm’s mir nicht übel, aber ich hoffe, wir sehen uns nie wieder.« Wenn ich ehrlich bin, hat das wehgetan. Aber ich verstand, was sie meinte. Als sie an ihre Tür kam, schaute Camila noch mal zu mir zurück, und da merkte ich, dass sie nervös war. Ihre Finger zitterten bei dem Versuch, den Schlüssel ins Schloss zu schieben.
Doch dann gelang es ihr, und sie glitt in ihr Zimmer. Und war weg.
BILLY: Ich ging rauf in mein Hotelzimmer, schloss die Tür hinter mir und sackte von innen dagegen. Camila und die Mädchen schliefen, ich hab sie einfach nur betrachtet. Dann bin ich weinend zusammengeklappt, direkt da auf dem Boden. Ich dachte: Das ist es. Das war’s. Es läuft darauf hinaus, dass ich mich zwischen dem Rock ’n’ Roll und meinem Leben entscheiden muss, und ich werde mich nicht für den Rock ’n’ Roll entscheiden.
DAISY: Ich nahm den ersten Flug am Morgen.
ROD: Am nächsten Morgen merkte ich, dass Daisy weg war. Sie hatte eine Nachricht hinterlassen, sie würde die Band verlassen und nicht mehr zurückkommen.
WARREN: Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht, und Daisy war weg. Graham und Karen wollten sich nicht mehr in ein und demselben Raum aufhalten. Dann stieg Billy zu uns in den weißen Bus und teilte uns mit, dass er erst mal nicht mehr touren wollte. Rod musste die restlichen Termine alle absagen.
ROD: Ohne Billy und Daisy gibt es keine Tour
.
WARREN: Eddie ist ausgeflippt – total hochgegangen.
EDDIE: Man kann sich sein Leben nur soundso lange von jemand anders vorschreiben lassen, verstehst du? Mir ist egal, wie viel Geld ich dabei verdiene, ich bin kein Lakai von niemandem. Kein abhängiger Diener. Ich bin ein Mensch. Und ich habe ein Mitspracherecht an meiner eigenen Karriere verdient.
WARREN: Pete sagte, er wolle unabhängig von den Ereignissen sowieso auch aussteigen.
GRAHAM: Es ging einfach alles in die Brüche.
ROD: Daisy war verschwunden. Billy wollte einpacken. Pete war raus. Eddie weigerte sich, weiter mit Billy zu arbeiten. Graham und Karen sprachen nicht mehr miteinander. Ich ging zu Graham und sagte: »Rede mit Billy, bring ihn zur Vernunft.«
Und Graham meinte nur, er würde »einen Scheiß« zu Billy sagen.
Ich dachte: Wenn nicht mal mehr das geht, was kommt als Nächstes? Ich überlegte, andere Bands unter Vertrag zu nehmen und noch mal von vorne anzufangen, ein paar andere abgefuckte Typen groß rauszubringen, aber ich … Ich weiß nicht.
WARREN: Anscheinend war ich der Einzige, der sich nicht aus irgendeinem Grund ins Hemd gemacht hat.
Aber wir hatten eine gute Zeit. Und wenn sie vorbei war … Dann konnte ich’s auch nicht ändern, oder? Also, sei’s drum.
BILLY: Ich hab nie erfahren, warum Daisy genau ausgestiegen war. Was an dem Abend los gewesen war, bei dem Konzert, was der Auslöser für ihre Abreise war. Ich für meinen Teil hab das so gesehen: Ich wusste nicht, wie ich ohne Teddy noch mal ein gutes Album machen sollte. Und ich wusste nicht, wie ich ein Hitalbum ohne Daisy schreiben sollte. Weder mit ihr noch mit Teddy war eine weitere Zusammenarbeit möglich, und
ich war auch nicht bereit, noch mehr dafür zu bezahlen, als ich sowieso schon bezahlt hatte.
Ich wandte mich an alle im Bus und erklärte: »Es ist vorbei. Alles. Es ist vorbei.«
Und niemand aus der Band – weder Graham noch Karen, Eddie oder Pete, und noch nicht mal Warren oder Rod – hat versucht, mich umzustimmen.
KAREN: Als Daisy weg war … Das war, als hätte jemand das Riesenrad angehalten und wir konnten alle aussteigen.
DAISY: Ich hab die Band verlassen, weil Camila Dunne mich darum gebeten hat. Und das war das Beste, was ich je getan habe. Das hat mich gerettet. Deine Mutter hat mich vor mir selbst beschützt.
Mag sein, dass ich deine Mutter nicht gut gekannt habe.
Aber ich schwöre dir, ich habe sie sehr geliebt.
Und es tat mir sehr leid zu erfahren, dass sie gestorben ist.
Anmerkung der Autorin: Meine Mutter, Camila Dunne, starb vor der Beendigung der Arbeit an diesem Buch.
Im Zuge meiner Recherchen führte ich mehrere Gespräche mit ihr, aber ich konnte sie nicht mehr nach ihrer Sichtweise der Ereignisse in Chicago am 12. und 13. Juli fragen, da ich erst nach ihrem Tod erfahren habe, was sich zugetragen hatte.
Sie erlag am 1. Dezember 2012 im Alter von dreiundsechzig Jahren einem Herzversagen, bedingt durch ihre Lupus-Erkrankung. Es ist mir ein großer Trost, berichten zu können, dass sie im Kreis unserer Familie starb, mein Vater Billy Dunne war an ihrer Seite.