5. Kapitel
Fürsorglich setzte die Frau dem Mädchen eine Mütze mit Bommel auf und zog ein Paar Kinderhandschuhe aus ihrer Tasche. Finja verfiel vom Joggen in einen leichten Laufschritt. Endlich bekam sie die Gelegenheit, mit einer Bewohnerin des Barnsteenhus’ zu sprechen. Vielleicht war alles am Ende doch gar nicht so schwer, wie sie gedacht hatte. Zielstrebig ging sie auf die Frau und das Mädchen zu. Noch hatten sie sie nicht bemerkt.
Energisch schüttelte das Mädchen seine Fäuste. »Ich will nicht!«, protestierte die Kleine, als die Frau versuchte, ihr die Handschuhe anzuziehen.
»Jetzt sei lieb, Anna. Du bekommst doch sonst ganz kalte Hände«, redete die Frau in eindringlichem Ton auf sie ein und unternahm einen neuen Versuch.
»Nein!« Das Mädchen stampfte mit einem Fuß auf und warf im nächsten Augenblick einen Handschuh im hohen Bogen auf den Gehsteig.
»Anna!« Die Frau hob mahnend einen Zeigefinger.
Nur noch ein paar Schritte, gleich war Finja bei ihnen. »Guten Tag«, sprach sie die beiden ein wenig atemlos an. Ihre Wangen waren ganz heiß geworden.
Die Frau ließ von dem Mädchen ab und betrachtete Finja mit argwöhnischem Blick.
»Guten Tag?«
Finja hob beschwichtigend die Hände. »Entschuldigung, dass ich Sie einfach so anspreche. Ich habe rein zufällig gesehen, dass sie gerade aus dem Haus gekommen sind.« Sie zeigte zum Barnsteenhus. »Sind Sie vielleicht die Eigentümerin?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Die Eigentümerin?« Die Frau zog die Augenbrauen zusammen und griff nach einer Hand des Mädchens. »Nein, bin ich nicht. Wir wohnen nur vorübergehend hier. Jetzt müssen wir aber wirklich weiter.« Ihr Tonfall klang ein wenig abweisend. Die Handschuhe ließ sie in einer Jackentasche verschwinden.
»Ja, natürlich.« Finja nickte. Also doch eine Ferienimmobilie. »Danke für die Auskunft und noch einen schönen Tag.«
Ohne ein weiteres Wort setzte sich die Frau in Bewegung und zog die Kleine hinter sich her.
Finja schaute ihnen kopfschüttelnd nach. Was war das denn gewesen? Sie hatte doch bloß höflich eine Frage gestellt und der Frau überhaupt keinen Anlass für ein derart reserviertes Verhalten geboten. Na ja, wer konnte schon wissen, welche Laus ihr an diesem Tag über die Leber gelaufen war? Geduldig war sie mit dem Kind nicht umgegangen.
Viel mehr als die Schmallippigkeit der Frau ärgerte Finja ihre anfängliche Euphorie und dass sie Sonja gleich Fotos vom Barnsteenhus geschickt hatte. Das war dumm und voreilig gewesen. Wahrscheinlich war das Reetdachhaus eine gutgehende Ferienimmobilie, und der Eigentümer dachte gar nicht ans Verkaufen. Die Entdeckung der Düne im Garten hatte sie leichtsinnig werden lassen.
Im ersten Moment hatte sie es als Wink des Schicksals gedeutet, als die ultimative Lösung ihrer finanziellen Probleme. Im Endeffekt war sie keinen Schritt weitergekommen. Wie hatte sie nur so arglos sein können? Betrübt dachte sie an ihre Praxis und an ihre schöne Wohnung. Beides wollte sie unter keinen Umständen aufgeben. Ihr kleines Heim war ihr Refugium, ihr ganz persönlicher Rückzugsort, und die Arbeit mit ihren Patienten ihr Lebensinhalt.
Was bliebe ihr, wenn sie beides verlieren würde? Wie sollte sie ohne die Provision von Testeges Auftrag die finanziellen Belastungen bestreiten?
Ratlos blickte sie in die Richtung, in der die Frau mit dem Kind hinter einer Straßenecke verschwunden war. Langsam drehte sie sich um und betrachtete erneut das Barnsteenhus. Sie liebte Reetdächer. Besonders die alten, die schon etlichen Stürmen standgehalten hatten und manche Geschichte erzählen konnten. Kein anderes Dachmaterial verbreitete so viel Charme und Behaglichkeit wie getrocknetes Schilfrohr.
Die Backsteinfassade des Hauses und dazu die himmelblauen Fensterläden harmonierten einfach zauberhaft. Und noch ein Detail entdeckte sie erst jetzt, die rechte Hausseite musste ursprünglich mal als Stall genutzt worden sein. Später hatte man dort zwei deckenhohe Sprossenfenster eingesetzt. Die ehemaligen Stalltüren waren ebenfalls himmelblau gestrichen und konnten bei Bedarf vor den Fenstern geschlossen werden.
Ein warmes, heimeliges Gefühl überkam sie und breitete sich in ihrem Herzen aus. Am liebsten wäre sie sofort in das Häuschen gegangen, um durch die großen Sprossenfenster nach draußen zu schauen und in den Stuben auf Entdeckungstour zu gehen. Wie schön musste es sein, in diesem zauberhaften Friesenhäuschen zu leben?
Finja seufzte und schüttelte kurz darauf energisch den Kopf. Damit befreite sie sich endgültig aus der kleinen Schockstarre ihrer wehmütigen Gedanken. Trübsal blasen brachte sie keinen Meter weiter. Noch war schließlich nichts verloren. Sie musste bloß ein wenig umdisponieren und endlich herausfinden, wer der Besitzer des Hauses war. Vorher konnte sie nicht beurteilen, wie die Chancen für einen möglichen Verkauf standen.
Allerdings führte kein Weg an einem Plan B vorbei. Sie musste nach weiteren passenden Immobilien in St. Peter-Ording Ausschau halten, für den Fall, dass es mit dem Barnsteenhus nichts wurde. Vielleicht kannte ihre Gastgeberin Häuser, die eine Privatdüne im Garten hatten. Wo eine Düne war, waren doch bestimmt noch mehr.
Entschlossenen Schrittes spazierte Finja zurück zum Wilhelmshof und stieg dort in ihr Auto. Sie hatte ihr kleines emotionales Tief überwunden und verspürte wieder frischen Tatendrang. Es wäre doch gelacht, wenn sie für Testege nicht eine Traumimmobilie an Land ziehen würde.
Über die Eiderstedter Straße fuhr sie in den Ortsteil Bad. Dort ging es lebendiger zu als im beschaulichen St. Peter-Dorf, was ihr bei ihrer Recherche vielleicht half.
Finja steuerte den ihr bekannten Parkplatz vor der Dünen-Therme an. Neben dem Nationalpark-Haus entdeckte sie eine Tourist-Info-Stelle. Durch die Fensterscheibe sah sie eine Frau, die Monopoly-Spiele auf einem Tisch dekorierte. Daneben standen Thermosflaschen in Anthrazit und farblich passende Kaffeepötte. Außer der Frau war niemand im Servicezentrum.
Dieser Umstand war sicherlich der kalten Jahreszeit geschuldet. In der Hauptsaison sah das bestimmt ganz anders aus. Finja kam eine Idee. Spontan drückte sie die Tür auf und betrat die Tourismuszentrale.
Die Frau nickte ihr lächelnd zu. »Moin!«
»Guten Tag«, grüßte Finja. »Ich habe mich gefragt, ob ich hier vielleicht ein Gastgeberverzeichnis bekommen könnte?«
»Aber sicherlich. Da sind Sie genau an der richtigen Stelle.«
»Oh, toll!«
»Ich kann Ihnen sogar noch eine aktuelle Ausgabe unseres Magazins mitgeben.« Die Frau griff nach einem Katalog und einem dünneren Heft. »Bitte schön.«
»Ach, vielen Dank. Das ist wirklich nett.« Finja warf einen Blick auf die Unterbringungsmöglichkeiten. »Sind in dem Gastgeberverzeichnis alle Unterkünfte von St. Peter-Ording aufgelistete?«
»Eigentlich schon. Gelegentlich kommt es sicherlich mal vor, dass im Laufe eines Jahres neue Hotels oder Ferienwohnungen hinzukommen, die dann nicht aufgeführt sind. Doch es müssten weit über neunzig Prozent der Übernachtungsmöglichkeiten in und um St. Peter-Ording sein, die Sie in dem Verzeichnis finden«, versicherte die Frau ihr.
Finja bedankte sich noch einmal bei ihr und verließ die Touristeninformation. Sie steckte die Prospekte in ihre Umhängetasche. Das Barnsteenhus war gewiss keine neue Unterkunft und musste somit im Gastgeberverzeichnis aufgeführt sein. Womöglich fand sie bei den Kontaktdaten gleich einen Hinweis auf den Besitzer. Manchmal stand sogar neben der Adresse der Unterkunft auch eine Telefonnummer dabei.
Solche Verzeichnisse waren ideal, um sich einen besseren Überblick über die Immobilienarten eines Ortes zu verschaffen. Nun brauchte sie noch eine gescheite Straßenkarte, auf der sie herumkritzeln konnte. Sie erinnerte sich, dass sie in der Nähe der Apotheke einen Buchladen gesehen hatte. Dort gab es bestimmt auch Ortskarten von St. Peter-Ording.
Vorsichtig pustete Finja auf den Dampf, der von der Tasse mit heißem Kakao emporstieg. Das Getränk duftete herrlich schokoladig und nach einem Hauch von Zimt. Eine pure Zuckerbombe. Ein Glück, dass ihre Patienten sie nicht so sehen konnten. Ihnen empfahl sie nicht selten, ihren Zuckerkonsum einzuschränken und auf gesündere Süßungsmittel umzusteigen. Einen Rat, den sie in St. Peter-Ording bisher in den Wind geschlagen hatte.
Sie nippte an dem Getränk und widmete sich dann wieder der Karte, die sie in der Buchhandlung erstanden hatte. Nach ihrem Einkauf war sie in das gegenüberliegende Café Die Insel gegangen, um in Ruhe die Ortskarte studieren zu können. Mit einer Hand strich sie das bedruckte Papier auf dem Tisch glatt und beugte sich etwas vor, um die Straßennamen besser lesen zu können.
Mit einem Kugelschreiber markierte sie die Stelle, an der sich der Wilhelmshof befand. Dies war ihr Ausgangspunkt. Ein dickes Kreuz zeichnete sie auch an die Position, wo ungefähr das Barnsteenhus lag.
Mit der Straßenkarte konnte sie St. Peter-Ording gleich viel leichter überblicken. Das funktionierte auf Papier deutlich besser als digital auf ihrem Handy, wo sie sich bloß bestimmte Ausschnitte ansehen konnte.
Ihre vagen Kindheitserinnerungen an St. Peter-Ording halfen ihr nicht wirklich bei der Orientierung. Dafür waren die Ausflüge mit ihren Eltern und mit Oma Grete schon viel zu lange her, und außerdem hatte sich der Ort im Laufe der Jahre verändert. Aus dem einst beschaulichen Kurbad war ein attraktiver Urlaubsort geworden, der so ziemlich jedem Anspruch gerecht wurde.
Finja legte den Kopf schief. Das Barnsteenhus hatte tatsächlich eine außergewöhnlich gute Lage – die garantiert nicht billig war. Ob sie die Immobilie so einfach verkaufen würde, wenn sie die Eigentümerin wäre? Vermutlich nicht, denn es brauchte nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass der Wert des Hauses und des Grundstücks mit der Zeit immer weiter steigen würde. An die Sichtung von alternativen Immobilien würde höchstwahrscheinlich kein Weg vorbeiführen.
Mit einem Finger fuhr sie die Straße Im Bad entlang, bis sie ihre Position fand. Bis zum Meer war es von hier nicht mehr weit. Sie musste bloß die Straße überqueren und dann immer geradeaus gehen. Wo sie schon mal in St. Peter-Ording war, wollte sie wenigstens einen kurzen Ausflug an den Strand unternehmen. Das war eine gute Gelegenheit, um noch ein paar Schnappschüsse mit dem Handy zu machen, die sie später ihrer Chefin und ihren Eltern zeigen konnte.
Sie nahm ihr Mobiltelefon zur Hand und gab den Namen des Schauspielers in eine Suchmaschine ein. Auf seinem Instagram-Profil teilte er auch Fotos seiner Familie. Drei Kinder hatte er. Zwei Jungen und ein Mädchen. Alle noch keine zehn Jahre, schätzte sie. Den Kleinen würde es bestimmt in St. Peter-Ording gefallen. An die größte Sandkiste Deutschland hatte sie nur die schönsten Erinnerungen. Welches Kind würde nicht davon träumen, einen endlosen Strand vor der Haustür zu haben?
Nachdem sie ihren Kakao bezahlt hatte, machte sie sich auf den Weg Richtung Meer. Dabei kam sie an einigen Geschäften und dem Hotel StrandGut Resort vorbei. Auf dem großen Platz vor der Seebrücke fegten stürmische Böen über das Pflaster. Einige Spaziergänger drehten ihren Rücken zum Wind und hielten mit einer Hand ihre Kapuze fest.
Die Luft war wunderbar frisch, fühlte sich jedoch eisig an. Finja setzte ebenfalls die Kapuze ihrer Jacke auf und band vorsorglich die Kordel am unteren Teil zu. Außerdem schob sie die Hände tief in die Taschen ihrer Jacke. Unwillkürlich musste sie an das Mädchen mit der Regenbogen-Steppjacke denken. Gegen ein Paar Handschuhe hätte sie nichts einzuwenden.
Die Fahnen vor dem Fischrestaurant Gosch knatterten im Wind mit den schnatternden Möwen um die Wette. Hinter den Fensterscheiben konnte Finja Gäste ausmachen, die heiße Getränke genossen oder sich ein Fischgericht gönnten. Von der Promenade aus führte eine über tausend Meter lange Seebrücke über gefrorene Salzwiesen und Priele. Weit hinten erspähte sie den Strand und die Pfahlbauten. Trotz der steifen Brise waren erstaunlich viele Leute auf der Brücke unterwegs, die dem ungemütlichen Wetter sprichwörtlich die kalte Schulter zeigten. Sie schlug ebenfalls den Weg über die Brücke ein.
Mit gesenktem Kopf und mit dem Pfeifen des Windes in den Ohren kämpfte sie sich vorwärts. Traf eine starke Böe vom Meer aufs Land, drehte sie ihr den Rücken zu. So kam sie langsam voran, bis sie schließlich das Ende der Brücke erreichte. Ein paar Treppenstufen aus Holz führten auf den Strand. Vor ihr erhoben sich Pfahlbauten, auf deren Holzgeländer Möwen herumstolzierten.
Finja musste blinzeln, als plötzlich Sonnenstrahlen eine Lücke in der Wolkendecke fanden. An den Pfahlbau Arche Noah erinnerte sie sich sogar und auch daran, dass es im Sommer am Strand vor Strandkörben nur so gewimmelt hatte und vor der blauen Eisbude immer eine lange Menschenschlange gewesen war.
Mit ihren warmen Stiefeln stapfte sie durch knirschenden Sand und über glitzernde Eisflächen im Watt, bis sie letztendlich die Wasserkante erreicht hatte, die sich während der Ebbe weit zurückgezogen hatte. Die Wellen brandeten geräuschvoll heran. Sie waren Vorboten der zu erwartenden Flut. Fast berührte die Gischt ihre Stiefelspitzen.
Finja atmete die frische, salzige Winterluft ein. Mit jeder Zelle ihres Körpers spürte sie die Kraft des Meeres. Jede Welle schien durch ihre Glieder gespült zu werden, und jede Böe pustete belastende Gedanken aus ihrem Kopf.
Die wunderbare Naturkraft der See ließ sie tief durchatmen und entspannen. Mit einer kalten Brise im Gesicht hatte sie das Gefühl, dass ihre Sorgen Stück für Stück fast wie von Zauberhand weggeweht wurden.
Allmählich schöpfte sie neue Zuversicht, dass sie den Immobilien-Deal schon an Land ziehen würde. So, wie sie es bisher immer getan hatte.