9. KAPITEL

„Bist du fertig?“ Nikos stand an der Tür zu ihrem Zimmer und schloss gerade die Manschettenknöpfe an seinem weißen Hemd, das er zu einer dunklen Anzugshose trug. Sein Haar war noch feucht von der Dusche, die er gerade genommen hatte, und glänzte schwarz. Wie immer, wenn sie ihn sah, setzte Helenas Herz für einen Moment aus, und ihr Blick blieb an seinem attraktiven Gesicht hängen.

„Einen Moment noch“, antwortete sie und spürte, wie sie errötete. Hastig wandte sich wieder zu dem Spiegel auf ihrer Frisierkommode um und legte die kleinen Diamantohrringe an, die zu dem silberfarbenen Kleid passten, das sie für den Abend gewählt hatte. Sie durfte einfach nicht ständig darüber nachdenken, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Genauso wenig wie sie darüber nachdenken durfte, was er ihr inzwischen bedeutete.

„Das steht dir gut“, sagte Nikos, der hinter sie getreten war, und als seine Finger sanft über ihre nackten Schultern fuhren, die der Ausschnitt des Kleides frei ließ, vergaß sie für einen Moment zu atmen und starrte wie gebannt in seine Augen, die ihre im Spiegel trafen.

Inzwischen lebte sie seit gut zwei Wochen bei ihm in seinem Penthouse in Athen, und noch immer kam ihr das alles unwirklich vor – die luxuriöse Umgebung, die schicken Restaurants, in denen sie aßen, die Gala-Empfänge, zu denen er sie mitnahm. Es war wie ein Traum, so als wäre sie über Nacht zu einer Prinzessin geworden, der man jeden Wunsch von den Augen ablas.

Nikos’ Assistent Vasili und alle Mitarbeiter aus seiner Firma, die Helena bei ihren Besuchen dort kennenlernte, behandelten sie ausgesucht höflich. So, wie sie es vermutlich mit jeder Frau an der Seite ihres Chefs taten. Das Frühstück wurde ihr von Nikos’ Haushälterin jeden Morgen ans Bett gebracht, und wenn sie irgendetwas brauchte, kümmerte sich immer jemand darum. Nichts musste sie selbst einkaufen. Außerdem wurde eine Auswahl an Kleidern jeden Abend aus den besten Boutiquen der Stadt in Nikos’ Apartment gebracht, damit sie sich etwas zum Anziehen für all die vielen Termine aussuchen konnte, zu denen sie Nikos begleitete. Und sogar den passenden Schmuck wie die Diamantohrringe, die jetzt an ihren Ohrläppchen funkelten, ließ er vom Juwelier für sie kommen.

Es fehlte ihr an nichts. Doch sie war so unglücklich wie nie zuvor und wurde es mit jedem Tag mehr.

Denn mit jedem Tag, der verging, wurde ihr klarer, dass sie das, was sie wirklich wollte, nicht bekommen würde. Sie wollte diese ganzen Reichtümer nicht, die Kleider, die Luxusessen. Darauf konnte sie jederzeit wieder verzichten, das alles bedeutete ihr nichts.

Aber Nikos schon. Sehr viel sogar. Zu viel.

Sie konnte es selbst nicht fassen, wie wichtig er ihr in dieser kurzen Zeit geworden war. Jeden Tag fieberte sie dem Zeitpunkt entgegen, an dem er aus dem Büro nach Hause kam. Denn er hielt das, was er ihr auf Santorios versprochen hatte, und konzentrierte all seine Aufmerksamkeit nur auf sie, unternahm etwas mit ihr, führte sie zum Essen aus oder nahm sie mit zu den Empfängen und Feiern, auf die er eingeladen war. Und danach, wenn sie wieder zu Hause waren, liebte er sie, manchmal die ganze Nacht, führte sie ein in eine Welt der Leidenschaft, weckte wildes Verlangen in ihr und stillte es auf immer neue, herrliche Weisen.

Helena lebte nur noch für diese Augenblicke, auch wenn es ihr schwerfiel, sich das einzugestehen. Es war, als wäre sie süchtig danach, mit ihm zusammen zu sein, als könnte sie nicht genug von ihm bekommen, weder im Bett noch sonst – und sie hatte aufgehört, gegen dieses Gefühl anzukämpfen. Sie wäre ohnehin machtlos gewesen, denn Nikos musste sie nur ansehen oder sie berühren, und sie schmolz dahin.

Für einen Moment schloss sie die Augen und schämte sich für ihre Schwäche, für die sie am Ende vielleicht einen hohen Preis zahlen würde. Denn wie ihre Zukunft mit ihm aussehen würde, ob sie überhaupt eine hatten, wusste sie nicht.

Nach außen hin, für die Gesellschaft und die Paparazzi, die ihnen fast überall begegneten, war sie die neue Frau an Nikos Pandakis’ Seite. Doch für wie lange? Als plötzlich ein dezenter Klingelton in der Stille ertönte, ließ Nikos ihre Schulter los und holte sein Handy aus der Tasche. Nach einem Blick auf das Display nahm er das Gespräch an. Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer, sodass Helena nicht hören konnte, mit wem er sprach.

Ihr Herz schlug schneller. War das vielleicht der Anruf vom Gynäkologen? Würde sie jetzt erfahren, wie es mit ihr und Nikos weiterging? Ob sie ein Kind miteinander bekamen?

Sie fühlte sich nicht schwanger, aber da sie es noch nie gewesen war, hatte sie keine Ahnung, wie sich das anfühlen musste. Und der Frauenarzt, bei dem sie vor zwei Tagen gewesen waren, hatte auch keine eindeutige Diagnose stellen können, weil es dafür noch zu früh war. Er hatte ihr zwar Blut abgenommen, aber bisher schien das Ergebnis dieses Tests noch nicht vorzuliegen, sonst hätte Nikos sicher etwas gesagt.

Helena wusste nicht, was sie sich wünschen sollte. Wenn sie nicht schwanger war, würde er sie dann trotzdem bleiben lassen, damit sie versuchen konnten, die Beziehung, die sich zwischen ihnen zu entwickeln begann, fortzuführen? Oder würde er sie tatsächlich wegschicken, so wie er es angedroht hatte?

Und wenn sie schwanger war und ihn tatsächlich heiratete, was für eine Art von Beziehung würden sie dann führen? Konnte sie glücklich werden mit einem Mann, der seine Gefühle vor der Welt verbarg? Würde sie jemals hinter die Mauer blicken können, die er um sich gezogen hatte? Und wenn ja, würde sie dann dort finden, was sie sich erhoffte?

Helena seufzte und wünschte sich, alles wäre nicht so kompliziert. Wenn sie nachts in seinen Armen lag, dann war es das. Dann fühlte sie sich ihm nah und gab sich zumindest für diese Augenblicke der Illusion hin, dass es ihm genauso ging. Die Verhütung vergaß er zwar kein einziges Mal mehr, doch die Feindseligkeit, mit der er ihr nach jener ersten Liebesnacht begegnet war, schien vorbei. Keiner von ihnen hatte das Thema der Schwangerschaft seit dem Arztbesuch angesprochen, und es war fast so, als hätten sie einen vorübergehenden Waffenstillstand geschlossen. Nur wie lange würde der halten?

Als Nikos’ Gesicht plötzlich über ihr im Spiegel auftauchte, erschrak Helena. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie ihn nicht wieder hatte hereinkommen hören. Er stützte die Arme auf die Lehnen ihres Stuhls, und sein Blick suchte und fand ihren im Spiegel. Der Ausdruck, der darin lag, war anders als sonst. Ernster.

„Was ist?“, fragte sie unsicher, und als er nicht sofort antwortete, schlug ihr Herz vor Aufregung schneller, und sie wandte sich zu ihm um. Instinktiv legte sie schützend die Hand auf ihre Brust, so als wollte sie damit den Schlag abmildern, den er ihr vielleicht zufügte. „War das der Gynäkologe?“

Nikos schüttelte den Kopf. „Es war mein Büro in England“, erklärte er. „Sie haben deine Mutter ausfindig gemacht.“

Überrascht sog Helena die Luft ein. Diesen Teil ihrer Abmachung damals auf der Jacht hatte sie über den Ereignissen danach völlig vergessen.

„Und?“

Nikos sah sie einen Moment unverwandt an, bevor er antwortete. „Sie heißt jetzt Georgia Whitman und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in der Nähe von Brighton.“

Helena brauchte einen Moment, um diese Informationen zu verdauen.

„Sie ist verheiratet?“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.

Nikos nickte. „Seit vierzehn Jahren. Ihre beiden Söhne sind dreizehn und elf. Hier“, er reichte ihr einen Zettel, „das ist die Adresse.“

Helena starrte auf den Namen, der ihr nichts sagte, und spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Fast unwillkürlich sank sie ein wenig in sich zusammen. Eine große Leere breitete sich in ihr aus, und sie fühlte sich mit einem Mal furchtbar allein. Würde sie wirklich den Mut aufbringen, zu dieser fremden Frau zu gehen und sie mit der Tatsache zu konfrontieren, dass sie ihre Mutter war? Hilflos sah sie zu Nikos auf, unfähig, ihre Gefühle vor ihm zu verbergen.

Nikos beobachtete aufmerksam die verschiedenen Regungen, die über Helenas ausdrucksvolles Gesicht huschten, und musste gegen den Impuls ankämpfen, sie an sich zu ziehen und zu trösten. Es war wie verhext. Sie hatte ihn verhext.

Er hätte sie wegen ihrer Absicht, ihn durch ein Baby an sich zu binden, eigentlich verachten müssen. Er hätte wütend auf sie sein müssen. Sein Plan war gewesen, sich von ihr zu nehmen, was er bekommen konnte, und sie dann entweder aus seinem Leben zu entfernen oder sie, wenn er ihr als der Mutter seines Kindes einen Platz darin einräumen musste, spüren zu lassen, wie sehr er deswegen auf sie herabsah.

Das Problem war nur, dass er diese Wut einfach nicht empfinden konnte, wenn er mit ihr zusammen war. Im Gegenteil. Er genoss es, Zeit mit ihr zu verbringen, und oft wurden ihm die Stunden im Büro lang, und er kürzte seine Arbeitstage ab, um schneller bei ihr zu sein. Er bekam einfach nicht genug von ihr, wurde ihrer nicht überdrüssig, so wie er es sich anfangs eingeredet hatte. Wenn sie, wie jetzt, zu ihm aufsah, die Lippen leicht geöffnet und mit diesem fast hilflosen Ausdruck in den Augen, dann wollte er sie auf die Arme nehmen, sie hinüber zum Bett tragen und sich in ihrer Süße verlieren. Er wusste nicht, woran es, verdammt noch mal, lag, aber es fiel ihm immer schwerer, Helena mit der gebührenden Distanz zu betrachten, so wie er es bisher bei allen seinen Frauen gemacht hatte.

Vielleicht wäre es besser gewesen, sich jetzt gleich, in diesem Augenblick, von ihr zu trennen. Die Gelegenheit war da, denn es bestand kein Grund mehr, dass sie blieb, und der Zeitpunkt war genauso gut wie jeder andere.

Und doch zögerte er. Es sprach nichts dagegen, sie noch ein weniger länger als geplant an seiner Seite zu behalten. Sie würde bleiben, wenn er das wollte. Natürlich würde sie das. Und solange es ihm gelang, gefühlsmäßig Abstand zu ihr zu wahren, brauchte er sie eigentlich noch nicht gehen zu lassen.

„Warum tust du dir das an?“, fragte er, fast ein bisschen gereizt, weil ihre Hilflosigkeit ihn so traf. „Wieso willst du noch Kontakt zu dieser Frau, wenn sie dich so offensichtlich aus ihrem Leben gestrichen hat?“

Helena zuckte mit den Schultern. „Sie ist meine Mutter“, erklärte sie mit leiser Stimme. „Ich möchte wissen, wer sie ist und warum sie getan hat, was sie getan hat.“

„Und was denkst du, was sie dir erzählen wird? Glaubst du, das war alles irgendein tragisches Missverständnis? Sie wollte dich nicht, Helena.“

„Das weißt du doch gar nicht“, wehrte sie sich, während sie jetzt verzweifelt gegen die Tränen anblinzelte.

„Aber ich weiß, dass es nicht normal ist, sein Kind einfach im Stich zu lassen.“ Helena hörte den verbitterten Tonfall in seiner Stimme und sah auf.

„Ist dir das auch passiert?“, fragte sie erschrocken. „Hat deine Mutter dich im Stich gelassen?“ Er erzählte nie etwas über seine Eltern oder seine Herkunft, doch irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass es da etwas gab, das ihn quälte, etwas, über das er nicht sprechen wollte.

„Meine Mutter ist tot“, erklärte Nikos.

„Oh, das tut mir leid.“ Helena legte ihm die Hand auf den Arm, doch er wandte sich ab und trat ans Fenster. Sie spürte seine Abwehr und überlegte einen Moment, ob es besser war, ihn in Ruhe zu lassen. Doch etwas zog sie wie magisch zu ihm, deshalb erhob sie sich und ging zu ihm hinüber. Vorsichtig berührte sie erneut seinen Arm.

„Und dein Vater?“

Nikos starrte weiter durch das Fenster des Penthouse-Apartments auf die Lichter der Stadt, die sich unter ihnen ausbreiteten.

„Meinen Vater habe ich nie kennengelernt“, antwortete er schließlich.

Helena schluckte und strich ihm über den Arm in dem hilflosen Versuch, ihn zu trösten. „Das muss schwer für dich gewesen sein.“

Langsam drehte Nikos sich zu ihr um und blickte ihr wie gebannt in ihre offenen blauen Augen. Vergeblich kämpfte er gegen die Gefühle an, die ihm die Brust eng machten und ihn zu überwältigen drohten. Wut und Verzweiflung, Enttäuschung und Schmerz.

Schwer? Sie hatte ja keine Ahnung, durch welche Hölle er als Kind gegangen war. Doch dieses dunkle Kapitel seiner Vergangenheit war abgeschlossen. Daran würde er nicht mehr rühren. Das konnte ihn nicht mehr treffen. Daran wollte er nicht erinnert werden.

Instinktiv griff er nach ihr und zog sie an sich, senkte seinen Mund verlangend auf ihren, kostete von ihrer Süße. Verlangen flammte in ihm auf, und er hieß das Gefühl willkommen, das ihm Vergessen versprach.

„Nikos, nicht“, keuchte Helena atemlos, als er für ein paar Sekunden ihre Lippen freigab. Sie hatte Mühe, klar zu denken. Aber hatten sie sich nicht gerade für einen Theaterbesuch umgezogen? „Wir müssen doch los!“

Nikos ignorierte ihren Einwand und küsste sie erneut. Zufrieden stellte er fest, dass sie ihren Widerstand aufgab und sich zitternd an ihn drängte, seinen Kuss mit dem gleichen Hunger erwiderte, der ihn immer wieder zurück in ihre Arme trieb.

„Wir müssen gar nichts“, sagte er heiser an ihrem Mund, während er den Reißverschluss ihres trägerlosen Kleides öffnete und es nach unten schob. Er legte die Hände um ihre vollen Brüste in dem verführerischen schwarzen Spitzen-BH, streichelte langsam mit dem Daumen darüber, bis sie erschauerte und diesen kleinen, fast verzweifelten Laut des Begehrens ausstieß, nach dem er inzwischen süchtig war. Dann senkte er den Kopf und atmete den lieblichen Duft ihrer Haut ein, zog eine Spur heißer Küsse über ihren Hals, bevor er die Körbchen des BHs nach unten streifte und eine der aufgerichteten Brustspitzen in den Mund nahm.

Zitternd vor Verlangen klammerte Helena sich an ihn, und als er sie hochhob und zum Bett trug, ließ sie es willig geschehen. Sie wusste nicht, was plötzlich in ihn gefahren war, aber sie spürte seine Verzweiflung. Er wollte nicht darüber reden, was ihm passiert war, aber die Wildheit, mit der er sie jetzt liebte, sprach von dem Schmerz, den er nicht zulassen wollte.

Eine Welle der Zärtlichkeit überrollte sie und machte sie ganz hilflos. Sie hätte so gerne gewusst, was ihn quälte. Vielleicht hätte sie dann besser verstanden, was ihn zu dem Mann gemacht hatte, der er war. Doch solange er sich ihr nicht öffnete, konnte sie das nicht, und sie wusste nicht, ob das jemals geschehen würde.

Und dann ließ sie sich wegtragen von der Leidenschaft, die er in ihr weckte, und als sie schließlich nach dem Höhepunkt nebeneinanderlagen, legte sie den Kopf auf seine Brust, spürte seine starken Arme, die sie fester zu halten schienen als sonst, und wartete, bis sein Atem wieder ruhig ging.

Es dämmerte schon, und die Lichter der Geschäfte und Bars der belebten Straßen von Athen huschten am Fenster der Limousine vorbei. Helena saß schweigend neben Nikos, der abwesend etwas in sein Handy tippte.

Nervös zupfte sie an ihrem silbernen Seidenkleid, das sie erneut trug, da sie gestern Abend ja dann doch keine Gelegenheit mehr dazu gehabt hatte, weil sie nicht mehr ins Theater gegangen war. Der Sommerempfang eines einflussreichen griechischen Industrieverbandes, zu dem sie jetzt unterwegs waren, gehörte jedoch zu den Terminen, bei denen man fest mit Nikos’ Erscheinen rechnete. Und weil dort fast die ganze High Society von Athen anwesend sein würde, war Helena nervös. Es fiel ihr noch immer schwer, mit diesen Leuten zu verkehren, die sie nicht richtig einschätzen konnte.

„Und Panaiotis kommt wirklich?“, fragte sie noch einmal.

Nikos nickte und steckte das Handy wieder ein. „Das hat er jedenfalls gesagt.“

„Und was ist mit Angelos?“ Helena dachte mit Schrecken an ihre letzte Begegnung mit Panaiotis’ Neffen auf Santorios.

„Er weiß, dass ich komme, also wird er da sein, um sicherzustellen, dass ich keine geheimen Absprachen mit Panaiotis treffe, von denen er nichts weiß“, meinte Nikos spöttisch. Er blickte Helena an. „Du siehst übrigens großartig aus“, sagte er und beugte sich spontan vor, um ihr einen Kuss auf den Mund zu geben. Dann flüsterte er ihr ins Ohr: „Und ich würde viel lieber das tun, was wir gestern Abend getan haben, anstatt auf diesen langweiligen Empfang zu gehen.“

Helena lächelte und spürte, wie ihr Röte in die Wangen stieg. „Ich auch“, gestand sie leise.

Nikos lachte, dann küsste er sie noch einmal und legte den Arm um sie. Sie lehnte sich an seine Schulter und spürte, wie er ihr Haar küsste. „Du bist so entwaffnend ehrlich, wenn es um diese Dinge geht“, sagte er.

Helena hob den Kopf und sah ihn an. „Ich bin immer ehrlich“, erklärte sie mit fester Stimme. „Ich lüge dich nicht an.“

Er hielt ihrem Blick stand, doch sie konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten. Dann wandte er fast abrupt den Kopf ab. „Wir sind da“, sagte er mit ausdrucksloser Stimme, und als er ihr aus dem Wagen half und sie über die breite Treppe zu der Villa vor den Toren Athens hinaufgingen, in der der Empfang stattfinden würde, sah er sie nicht an.

Unglücklich dachte Helena darüber nach, dass sie ihn vielleicht wirklich niemals würde erreichen oder davon überzeugen können, dass ihre Gefühle für ihn aufrichtig waren.

Der Saal, in dem der Empfang stattfand, war hell erleuchtet, und zahlreiche Gäste standen bereits in Gruppen zusammen. Viele davon kannte Helena schon von anderen Gelegenheiten, und während sie an ihnen vorbeigingen, nickten ihr einige davon freundlich zu. Sie erwiderte den Gruß, suchte jedoch instinktiv nach Panaiotis.

Obwohl sie sich inzwischen etwas sicherer auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegte, fühlte sie sich doch immer noch nicht wirklich wohl unter den Reichen und Schönen der griechischen Gesellschaft. Der Einzige, den sie wirklich mochte, war Nikos’ väterlicher Freund, der ihr immer offen und ohne Falsch begegnet war.

Doch als sie sich jetzt mit Nikos der Stelle hinten im Saal näherte, wo er mit seinem Neffen Angelos zusammenstand, spürte Helena sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Das Gesicht des älteren Mannes wirkte wie versteinert, und als sein Blick auf Nikos und sie fiel, lächelte er nicht wie sonst.

„Oh, hallo, Nikos“, sagte Angelos mit unverhohlener Häme in der Stimme, als er den Blick seines Onkels bemerkte und sich zu den beiden Neuankömmlingen umdrehte. „Wir sprachen gerade von dir.“

„Tatsächlich?“, entgegnete Nikos kalt. „Ich hoffe, es war etwas Gutes.“

„Wie man es nimmt“, meinte Angelos. „Ich habe Panaiotis gerade davon berichtet, was meine Recherchen über deine Vergangenheit ergeben haben.“ Helena spürte, wie Nikos sich anspannte. „Als deine kleine Freundin sagte, dass du hinter der Aurora-Stiftung stehst, wurde ich neugierig. Wieso gibt ein reicher Geschäftsmann sehr viel Geld für arme Straßenkinder aus und setzt gleichzeitig alles daran, dass niemand davon erfährt, was er für ein Wohltäter ist? Das hat mich neugierig gemacht, und ich habe ein wenig nachgeforscht. Und was musste ich da erfahren?“

Da Nikos schwieg, wandte Angelos sich triumphierend an Helena, die ihn verstört ansah. „Wussten Sie, dass Ihr feiner Freund aus der Gosse kommt?“

Helena umfasste Nikos’ Hand fester. „Er stammt aus einfachen Verhältnissen“, erklärte sie ruhig. „Daran ist nichts auszusetzen.“

„Aber wie einfach diese Verhältnisse waren, hat er Ihnen vermutlich nicht erzählt, oder?“ Angelos’ Augen funkelten feindselig, während er Nikos fixierte. „Er ist ein Gossenkind, eines von der schlimmsten Sorte. Wissen Sie, warum seine Stiftung den Namen Aurora trägt? So hieß seine Mutter. Aurora Pandakis. Aber viel hast du nicht von ihr gehabt, oder Nikos?“

Nikos hielt Angelos’ Blick stand, während er die Dämonen niederrang, die mit einem Schlag wieder in ihm wach wurden. „Halt den Mund“, sagte er mit gefährlich ruhiger Stimme. „Halt den Mund, oder ich stopfe ihn dir.“