„Nikos.“ Helena war nicht sicher, ob sie seinen Namen überhaupt laut ausgesprochen hatte, denn ihre Stimme schien zu versagen. Was machte er hier?
„Hast du einen Moment Zeit?“, fragte Nikos. „Ich muss mit dir reden.“
„Ja, ich … natürlich.“ Helena starrte hilflos in seine Augen, die er nicht eine Sekunde von ihr abwandte, so als habe er Angst, sie könnte verschwinden, wenn er das tat.
„Alles in Ordnung?“, fragte Georgia, erschrocken über Helenas Reaktion und offensichtlich verwundert über das unerwartete Auftauchen des fremden Mannes.
Helena schluckte. „Ja“, erwiderte sie und riss mit Mühe den Blick von Nikos los, um ihre Mutter beruhigend anzulächeln. „Das ist Nikos Pandakis“, stellte sie ihn vor. „Er ist … ein Freund von mir.“
„Okay.“ Georgia schien nicht ganz überzeugt. „Geht doch ins Wohnzimmer, da ist es gemütlicher. Um das hier“, sie deutete auf die Scherben, „kümmere ich mich schon“, fügte sie hinzu, als Helena gerade protestieren wollte, und holte Handfeger und Kehrblech aus dem Schrank.
Helena führte Nikos beklommen in das großzügige, helle Wohnzimmer, hinter dessen Fensterfronten der Garten mit dem gepflegten Rasen lag. Sie spürte seine Nähe fast körperlich, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals, auch wenn sie sich alle Mühe gab, ruhig zu wirken. Doch ihre Beine trugen sie nicht mehr so recht, deshalb setzte sie sich in einen Sessel und wartete darauf, dass Nikos ebenfalls Platz nahm. Er blieb jedoch stehen und sah sie weiter an, ohne etwas zu sagen.
„Woher wusstest du, dass ich hier bin?“, fragte sie schließlich, um die Stille zu durchbrechen. Weil ihre Hände zitterten, verschränkte sie die Arme vor der Brust. Er sollte nicht merken, wie aufgeregt sie seinetwegen war. Sie konnte sich sein Kommen beim besten Willen nicht erklären.
Nikos räusperte sich, so als habe er Angst, dass seine Stimme sonst versagen könnte. „Du hast mich gebeten, dir die Adresse deiner Mutter zu besorgen“, sagte er dann. „Also nahm ich an, dass du herkommen würdest.“ Er zuckte auf eine Weise mit den Schultern, die fast verzweifelt wirkte, doch Helena war sich sicher, dass sie sich getäuscht haben musste. „Ich hätte nur nicht gedacht, dass es so lange dauert.“
Erst jetzt, verspätet, wurde Helena klar, dass es ein ungewöhnlicher Zufall war, dass er ausgerechnet jetzt, einen Tag nach ihrer Ankunft hier, plötzlich bei ihrer Mutter vor der Tür stand.
„Du hast darauf gewartet, dass ich herkomme?“ Sie konnte es nicht recht fassen. „Aber wieso?“, fragte sie ungläubig, nicht sicher, ob sie ihn wirklich richtig verstanden hatte.
Doch er schien mit etwas ganz anderem beschäftigt. „Wo warst du?“, wollte er wissen, und sie registrierte zum ersten Mal, dass er müde wirkte. Er war blasser als damals, und unter seinen Augen lagen Schatten.
„Wo ich war?“ Helena schüttelte den Kopf, immer noch nicht in der Lage, das alles zu begreifen. „Wieso ist das wichtig, Nikos? Ich dachte, das wäre dir egal. Du hast mich doch weggeschickt, hast du das schon vergessen? Du wolltest, dass ich gehe. Und jetzt stehst du plötzlich hier und …“ Sie sprach nicht weiter, denn ihr wurde klar, dass sie keine Ahnung hatte, warum er hier stand. „Wieso bist du hier?“, fragte sie mit neuer Verwunderung. „Was willst du von mir?“
Gequält stieß Nikos die Luft aus. „Helena, ich …“
Georgia steckte den Kopf durch den Türspalt. „Ich fahre jetzt die Jungs abholen“, sagte sie und lächelte Helena an. „Es dauert nicht lange“, fügte sie mit Blick auf Nikos hinzu. Offenbar war sie noch immer nicht sicher, was sie von der Anwesenheit des großen, attraktiven Mannes in ihrem Haus halten sollte.
Helena nickte. „In Ordnung“, sagte sie, in Gedanken schon wieder bei Nikos und dem Grund für seine Anwesenheit. Doch als sie kurze Zeit später hörten, wie die Haustür hinter Georgia ins Schloss fiel, sah er sie nur wieder auf diese Weise an, die sie nicht deuten konnte.
„Was, Nikos?“, drängte sie ihn, weil sie die angespannte Situation kaum noch aushielt. „Was wolltest du sagen?“
Nikos zögerte. Er schien nach den richtigen Worten zu ringen, und es versetzte ihr einen Stich, dass er so verloren aussah. „Du hast das Geld nicht mitgenommen“, sagte er schließlich tonlos.
Helena starrte ihn verständnislos an. War er gekommen, um es ihr noch einmal anzubieten? „Es war nicht Teil unserer Abmachung“, erklärte sie. „Du solltest nur nachforschen, wo sich meine Mutter aufhält. Das hast du getan, und ich habe dich auf die Feier bei Panaiotis begleitet. Wir waren quitt.“
„Aber du hättest es trotzdem nehmen können“, erwiderte er. „Und die Sachen, die ich dir gekauft habe. Du hast alles zurückgelassen.“
Helena spürte Verärgerung in sich aufsteigen. War das ein Vorwurf? „Das alles gehörte mir nicht, das Geld nicht und auch nicht die Sachen. Deshalb habe ich es nicht mitgenommen“, sagte sie und kämpfte plötzlich mit den Tränen. Sie verstand immer noch nicht, warum er gekommen war, aber seine Anwesenheit bohrte sich wie ein Messer in ihr Herz. Wollte er ihre Qualen verlängern? Ihr noch einmal sagen, dass er sie für berechnend hielt? Oder ihr für ihre „Dienste“ eine Bezahlung anbieten? Wenn er ihretwegen ein schlechtes Gewissen hatte, dann war das sein Problem. „Ich wollte das alles nie, das habe ich dir gesagt. Aber du hast mir nicht geglaubt.“
Nikos ballte die Hände zu Fäusten. Der Ausdruck, der in seinen Augen stand, war jetzt ganz eindeutig verzweifelt. „Ich weiß“, sagte er mit rauer Stimme. „Und das war ein Fehler.“ Für einen Moment hielt er ihren Blick fest. „Was muss ich tun, damit du zurückkommst, Helena?“
Helena konnte sich für einen Moment nicht rühren. „Warum soll ich das?“, fragte sie atemlos, weil sie noch nicht glauben konnte, was sie in seinem Gesicht zu lesen glaubte. „Brauchst du wieder eine Begleitung?“
„Oh Gott, nein!“, stöhnte er und machte einen Schritt auf sie zu, ging vor ihrem Sessel in die Knie. „Bitte, Helena, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Und ich weiß auch nicht, ob du mir jemals verzeihen kannst.“ Er seufzte tief, und erschrocken sah Helena, dass Tränen in seinen Augen standen. „Du hast etwas Besseres verdient als mich“, sagte er heiser. „Wenn ich ein anständiger Mann wäre, dann würde ich dich in Ruhe lassen. Aber die letzten Wochen … waren die Hölle für mich. Ich dachte, ich hätte dich verloren. Ich dachte, ich finde dich nicht mehr wieder.“ Seine Stimme brach, und in seinen Augen spiegelte sich die Qual, die sie selbst seit ihrer Trennung empfunden hatte. Instinktiv legte Helena ihre Hand an seine Wange und strich über die rauen Bartstoppeln.
„Nikos …“
Mit einer fast groben Bewegung riss er sie in seine Arme und küsste sie lange und mit einer Leidenschaft, die ihr den Atem nahm. Dann gab er sie frei und lehnte seine Stirn an ihre. „Komm zu mir zurück, Helena. Bitte. Ich gebe dir alles, was du willst. Alles. Mein ganzes Vermögen lege ich dir zu Füßen, wenn du mir verzeihst und wiederkommst.“
Helena wurde ernst. „Nein“, sagte sie, und Nikos sog scharf die Luft ein. Schmerz spiegelte sich in seiner Miene.
„Ich verstehe“, sagte er niedergeschlagen und wollte sie loslassen, doch Helena hielt ihn fest. Sie wünschte, sie hätte es ihm nicht so schwer machen müssen. Aber vielleicht war es nötig, damit er endlich begriff.
„Nein, du verstehst es nicht“, widersprach sie. „Nikos, ich will dein Vermögen nicht, wann geht das endlich in deinen Dickschädel? Keinen Cent davon.“ Sie schlang die Arme um seinen Nacken. „Ich will dich, nur dich. Ich will dich lieben dürfen, und ich will wissen, ob du mich auch liebst. Denn nur dann komme ich zurück.“
Langsam kehrte das Strahlen in seine Augen zurück, in denen noch immer Tränen schimmerten. „Du bist anders als alle Frauen, die ich jemals getroffen habe“, sagte er und strich liebevoll mit einem Finger über ihre Wange. „Ich weiß nicht, womit ich dich verdient habe.“
„Das war keine Antwort“, neckte sie ihn, aber nur halb im Spaß. Sie musste es von ihm hören, damit sie es selbst glauben konnte.
Er seufzte tief und legte seine Hände um ihr Gesicht. „Ich liebe dich, Helena. Wenn es das ist, was nötig ist, damit du bei mir bleibst, dann wirst du nie wieder einen Grund haben, mich zu verlassen.“ Reuevoll lächelte er sie an. „Das könnte ich nämlich gar nicht ertragen. Ich bin fast verrückt geworden, als ich dich nicht finden konnte. Hast du eine Ahnung, wie viele Leute ich nach dir habe suchen lassen? Eine ganze Armee von Privatdetektiven ist ausgeschwärmt, aber ohne Erfolg. Schließlich ließ ich das Haus deiner Mutter überwachen, aber ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben.“ Ein Schatten huschte bei der Erinnerung über sein Gesicht.
„Du hast dieses Haus überwachen lassen?“ Deshalb war er so schnell hier gewesen. Helena konnte kaum fassen, wie viel Aufwand er betrieben hatte, sie wiederzufinden.
Er nickte. „Ja, und als dann heute Morgen der Anruf kam, dass du hier bist, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht. Ich bin einfach aus dem Meeting gelaufen, das gerade stattfand.“ Ein Lächeln spielte um seine Lippen. „Ich fürchte, das Geschäft, über das wir gerade verhandelt haben, kann ich abschreiben.“
„Ist das schlimm?“, fragte Helena sofort schuldbewusst. „War es etwas Wichtiges?“
„Nicht wichtiger als du.“ Nikos küsste sie. „Ach ja“, fügte er dann noch hinzu, „das hätte ich ja fast vergessen.“ Er griff in sein Jackett, holte einen Umschlag heraus und gab ihn Helena. „Das ist für dich.“
Zweifelnd zog Helena die Blätter aus dem Kuvert. Was wollte er ihr diesmal geben? Es war eine notariell beglaubigte Kaufurkunde.
„Du hast Petros die Werft abgekauft“, flüsterte sie tonlos, als sie durchgelesen hatte, was darauf stand.
„Und ich habe sie dir überschrieben“, erklärte er und zeigte ihr die entsprechende Urkunde. „Die Medeus-Werft gehört jetzt wieder dir.“
Helena drückte die Papiere an ihre Brust und konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. „Danke“, sagte sie und küsste ihn. „Das ist … das ist wundervoll. Jetzt kann Petros niemanden mehr betrügen und Kostas guten Namen in den Schmutz ziehen. Oh, Nikos, das bedeutet mir so viel!“
„Das habe ich mir gedacht“, sagte er. „Wir werden dafür sorgen, dass der Betrieb von jetzt an wieder so geführt wird, wie dein Vater es gewollt hätte.“
„Und ich kann weiter Jachten reparieren“, rief Helena erfreut.
„Wenn ich dich entbehren kann“, erinnerte Nikos sie. „Wir waren viel zu lange getrennt, deshalb habe ich nicht vor, in nächster Zeit von deiner Seite zu weichen.“
„Dann musst du eben mitkommen.“ Helena grinste.
„Und wer leitet dann mein Unternehmen und geht zu den Meetings?“
„Vasili“, erklärte sie mit gespieltem Ernst und legte ihm den Finger auf die Lippen, als er etwas sagen wollte. „Und wenn wir verarmen, weil er alle deine Geschäfte ruiniert, dann ziehen wir eben in die Wohnung über der Werft, leben von dem, was ich verdiene, und sind einfach nur glücklich.“ Es war ein Szenario, das sie sich gut vorstellen konnte. Aber sie wusste, dass sie tatsächlich überall leben konnte – solange er bei ihr war.
Nikos nahm Helena wieder in die Arme. „Und du gehst nicht wieder weg?“ Sie hörte die Sorge in seiner Stimme, und das Herz ging ihr auf.
„Nie wieder“, flüsterte sie an seinen Lippen. Sie drängte sich ganz dicht an ihn, und als er sie diesmal küsste, jubelte sie innerlich vor Glück. Jetzt wusste sie, dass sie nicht träumte. Nikos liebte sie. Die Zukunft, die vor ein paar Stunden noch düster und unsicher ausgesehen hatte, leuchtete jetzt in den schönsten Farben.
„Denkst du, dass deine Mutter sehr böse sein wird, wenn ich dich jetzt entführe?“, fragte Nikos etwas später.
In diesem Augenblick wurde die Haustür geöffnet. Georgia und die Jungen waren zurück. Helena schüttelte den Kopf, erhob sich und zog Nikos mit sich hoch. „Ich habe ihr schon gesagt, dass ich nicht bleiben kann“, erklärte sie. „Ich wäre heute Abend wieder aufgebrochen.“
„Habt ihr euch ausgesprochen?“, erkundigte er sich vorsichtig. Helena nickte. „Und du willst nicht noch ein bisschen mehr Zeit bei ihr verbringen?“
„Nein“, sagte sie. „Ich will bei dir sein.“ Weil er es war, zu dem sie gehörte – bei ihm war der Platz, nach dem sie gesucht hatte. Sie schob ihre Hand in seine und wartete darauf, dass Georgia hereinkam. Für Gespräche mit ihrer Mutter würde später Zeit sein. Jetzt konnte sie es kaum noch erwarten, sich zu verabschieden und ihr gemeinsames Leben mit Nikos zu beginnen.