5. KAPITEL

Schon als sie die Boutique eines bekannten Designers betraten, spürte Helena den Unterschied zu allen anderen Läden, die sie kannte, denn es war, als würden die Geräusche der belebten Athener Einkaufsstraße draußen von der luxuriösen Kühle der zwei luftigen Etagen geschluckt, die sich vor ihnen ausbreiteten.

Nikos’ Assistent Vasili, ein dunkelhaariger Mann etwa Mitte zwanzig in einem makellos sitzenden Anzug, hatte einen Koffer und mehrere Kisten mit ihren Sachen auf die Sofia gebracht, als sie gerade mit der Reparatur des Motors fertig gewesen war, und nach einer Dusche in dem sehr schicken Bad der Jacht hatte sie sich eine frische Caprihose und ein sauberes weißes Top angezogen. Doch in dieser Umgebung kam sie sich darin sehr schäbig vor und wünschte, sie hätte stattdessen wenigstens eine Bluse gewählt.

Als Nikos von „Stadt“ gesprochen hatte, war sie davon ausgegangen, dass er die Einkaufspassage von Piräus und nicht die nobelste Geschäftsstraße Athens meinte, in die Vasili in einer dunklen Limousine sie gefahren hatte. Die Läden mit den wenigen, edel drapierten Taschen, Schuhen und Kleidern in den Schaufenstern, an denen natürlich keine Preise standen, hätte sie unter normalen Umständen niemals betreten. Nicht, weil sie es nicht gewagt hätte, sondern weil sie in dem Leben, das sie gewohnt war, gar nicht vorkamen. In den letzten Jahren hatten sie jeden Cent umdrehen müssen, um über die Runden zu kommen, und allein die Vorstellung, was hier schon ein Schal kostete, machte sie ganz schwindelig. Fast ehrfürchtig blickte sie sich um.

Alles wirkte exklusiv und teuer, von den schicken Kleidern, die dezent an silbern glänzenden Ständern in dem hellen, minimalistisch eingerichteten Raum hingen, über den weißen Marmorboden bis hin zu den tiefen Ledersesseln, die zum Sitzen einluden.

Hilfe suchend blickte sie sich zu Nikos um, der ihre Nervosität jedoch gar nicht zu registrieren schien.

Kyrios Pandakis, wie schön, Sie mal wieder bei uns zu haben“, rief eine Frau mittleren Alters und kam über die breite Treppe, die in den ersten Stock führte, auf sie zugeeilt. Sie trug ein perfekt sitzendes pastellfarbenes Kostüm, und jede Strähne ihres dunklen, modisch gestylten Haars lag genau an ihrem Platz. Sie küsste Nikos auf beide Wangen und strahlte dann Helena an, die sich sofort noch schäbiger vorkam. Doch das Lächeln der Frau wirkte aufrichtig.

„Und Sie müssen Helena sein“, sagte sie. „Ich bin Apollonia. Herzlich willkommen bei uns.“ Sie sah Nikos an. „Ich war so frei, schon einiges nach Ihren Wünschen zusammenzustellen. Wollen wir?“

Sie deutete nach oben und ging über die Treppe voran, als er nickte und Helena die Hand auf den Rücken legte, um sie sanft nach oben zu geleiten. Vor lauter Überraschung ließ Helena das widerspruchslos geschehen. Er war hier offenbar kein Unbekannter, und sie fragte sich unwillkürlich, mit welchen Frauen er vor ihr schon hier eingekauft hatte. Mit vielen, dachte sie unglücklich, als sie den hinteren Bereich des obersten Stocks erreichten, in dem exklusive Umkleideräume lagen, und sie sah, dass ihr die Kleider, die bereits an einem rollbaren Ständer bereit hingen, alle perfekt passen würden. Er musste ihr Kommen angekündigt und den Frauen die richtige Größe genannt haben, was davon zeugte, dass er auf diesem Gebiet über einige Erfahrung verfügte.

Wie um ihren Verdacht zu bestätigen, wandte sich Apollonia an Nikos. „Vielleicht möchten Sie sich wie üblich die Wartezeit ein wenig verkürzen?“, fragte sie und deutete auf ein weißes Ledersofa, das vor den Kabinen stand. Daneben lagen mehrere Wirtschafts- und Sportmagazine auf einem Glastisch, und eine jüngere, ähnlich elegant gekleidete Frau eilte zu ihm, um ihn zu fragen, was er trinken wollte. Er bestellte einen Espresso und setzte sich, während Helena zögernd eine der Kabinen betrat, in die Apollonia den Kleiderständer gerollt hatte. Sie war fast so groß wie das Wohnzimmer in ihrer alten Wohnung.

„Wow“, entfuhr es Helena, und die Verkäuferin lächelte.

„Wollen wir mit dem ‚Darunter‘ anfangen?“, fragte sie und deutete auf einen Haken an der Wand, an dem diverse Dessous an durchsichtigen Bügeln hingen.

Helena war schockiert. „Nein, ich brauche keine … so was …“ Sie wurde rot. „Das brauche ich nicht. Nur ein Kleid, das ist alles.“

„Aber ich bin sicher, dass Kyrios Pandakis gesagt hat, dass Sie ganz neu eingekleidet werden sollen“, beharrte die ältere Frau. Als sie jedoch bemerkte, wie unwohl Helena sich fühlte, lenkte sie ein. „Sehen Sie doch schon mal die Kleider durch, die ich herausgesucht habe, ob etwas dabei ist, das Ihnen zusagt. Ich bin sofort zurück.“

Zögernd ging Helena zu dem Ständer, an dem etwa zehn Kleider in verschiedenen Farben hingen, und fuhr mit der Hand über die edlen, kühlen Stoffe, bewunderte die sanft schimmernde Seide, den zarten Chiffon und die raffinierte Spitze. Ein Modell war schöner als das andere. Vor allem ein kurzes zartblaues Bandeau-Kleid aus glänzendem Jersey mit asymmetrisch gerafftem Rock und ein langes Neckholder-Kleid aus roter Seide mit einem atemberaubend tiefen Rückenausschnitt hatten es ihr angetan. Beide waren wunderschön, und für einen Moment vergaß sie den Grund für ihren Besuch in der Boutique und freute sich einfach darüber, diese exklusiven Modelle tatsächlich anziehen zu dürfen.

Sie hielt gerade das zartblaue Kleid in der Hand, als Apollonia zurückkehrte. „Oh, das ist eine gute Wahl, das passt sehr gut zu Ihren Augen“, sagte sie und ging hinüber zu der Stange, an der die Dessous hingen. „Ich habe mich noch einmal bei Kyrios Pandakis vergewissert. Er sagt, dass sie alles haben sollen, was nötig ist.“ Sie beugte sich verschwörerisch vor. „Und glauben Sie mir, gut sitzende Unterwäsche ist gerade unter eng anliegenden Kleidern von ganz entscheidender Bedeutung.“

Helena schluckte. Es war ihr extrem unangenehm, dass Apollonia sich bei Nikos wegen der Dessous erkundigt hatte, und noch unangenehmer war der Gedanke, dass er bereit war, sie ihr zu kaufen. Doch weil die Verkäuferin darauf bestand, probierte sie einen Spitzen-BH und den passenden Slip an, die ihr wie eine zweite Haut am Körper saßen und sich so wunderbar weich anfühlten wie nichts, was sie jemals getragen hatte. Das Gleiche galt für das zartblaue Kleid.

„Und hier noch die passenden Schuhe. Größe 37, nicht wahr?“ Apollonia reichte ihr ein paar farblich abgestimmte Slingpumps.

Erstaunt darüber, wie gut sie aussah, drehte Helena sich vor dem raumhohen Spiegel, der eine ganze Wand bedeckte. „Sehr schön“, verkündete die Verkäuferin und zwinkerte ihr zu, während sie ihr die Kabinentür aufhielt. „Mal sehen, wie das männliche Auge das findet.“ Verlegen trat Helena vor die Kabinen.

Nikos, der in eine Zeitschrift vertieft gewesen war, sah auf. Auch er hatte sich umgezogen, bevor sie nach Athen aufgebrochen waren, trug jetzt einen maßgeschneiderten Anzug und ein weißes, am Hals offenes Hemd, was ihm genauso gut stand wie die legeren Sachen von vorher. Aber vermutlich sah er einfach in allem umwerfend attraktiv aus. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, doch Helena konnte an seinem Gesicht nicht ablesen, was er dachte.

„Sieht sie nicht wunderschön aus?“, fragte Apollonia.

Er nickte, doch sein Gesichtsausdruck blieb ernst. „Das nehmen wir. Aber wir brauchen noch mindestens zwei weitere Outfits.“

„Was?“ Helena schüttelte den Kopf, und weil sie ihm vor der Verkäuferin keine Szene machen wollte, die sich vermutlich ohnehin wunderte, in was für einem Verhältnis sie zueinander standen, ging sie zur Couch und beugte sich zu Nikos hinunter. „Das ist nicht nötig“, sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Ich brauche ein Kleid für das Fest. Das reicht doch.“

„Nein, tut es nicht“, widersprach er genauso leise. „Du brauchst ein Kleid für das Fest, das stimmt, aber auch eins für den Empfang am Nachmittag vor dem Fest und für den nächsten Tag, den wir ebenfalls noch auf Santorios verbringen. Außerdem noch einen Bikini, falls wir im Pool oder im Meer baden, und etwas Legeres, falls Panaiotis uns zu einem Spaziergang über die Insel einlädt, was er sehr gerne tut.“

Erschrocken wich Helena zurück. „So viel?“ Es widerstrebte ihr, diese ganzen Sachen von ihm anzunehmen. „Aber kann ich denn ein Kleid nicht auch zweimal anziehen?“

Nikos schüttelte amüsiert, aber auch ein bisschen ungläubig den Kopf. „Hör zu, wenn du als meine Begleiterin auftrittst, dann brauchst du für diese Rolle auch eine angemessene Garderobe. Keine der Frauen, die zu diesem Fest kommen, wird ein Kleid zweimal anziehen, deshalb sorge ich dafür, dass du das auch nicht musst. Das ist Teil unserer Abmachung, deshalb kannst du das ruhig annehmen. Okay?“

„Okay“, sagte Helena, der ihr Missfallen deutlich anzusehen war, und ging zurück in die Kabine.

Amüsiert legte Nikos die Zeitschrift zurück auf den kleinen Glastisch und lehnte sich zurück. Er konnte sich nicht erinnern, je eine seiner Freundinnen dazu überredet haben zu müssen, sich mehr als ein Kleid auszusuchen, und schon gar nicht wäre irgendeine von ihnen auf die Idee gekommen, es aufzutragen. In seinen Kreisen, oder besser gesagt, in den Kreisen, in denen er sich heute bewegte, bedeuteten materielle Dinge nichts – und alles. Man zeigte, was man hatte, und vergaß gleichzeitig den Wert der Sachen, die zu einer Selbstverständlichkeit wurden, zu etwas, über das man nicht mehr nachdachte.

Nikos hatte nichts vergessen, nicht eine der bitteren Nächte und der trostlosen Tage seiner Kindheit, und er sorgte auf seine Weise dafür, dass es anderen besser ging als ihm damals. Doch offenbar spielte er dieses Spiel der Reichen schon zu lange mit, um es noch zu hinterfragen, und es war erfrischend, es wieder von einer anderen Warte aus zu sehen.

„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragte die junge Verkäuferin, die ihm vorhin schon den bestellten Espresso gebracht hatte, und sah ihn mit einem strahlenden Lächeln an.

„Nein, danke“, erklärte er und nickte ihr zu. Er registrierte die bewundernden Blicke, die sie ihm zuwarf, doch seine Gedanken kehrten zu Helena zurück, die kurz darauf in einem langen roten Seidenkleid aus der Kabine trat und sich vor ihm drehte. Es war ein Neckholder-Kleid mit einem atemberaubend tiefen Rückenausschnitt, das ihre zierliche, schlanke Figur perfekt zur Geltung brachte. Ihre Haut war zart und makellos, das Haar fiel ihr jetzt offen in einer goldenen Kaskade über die Schultern. Ihre strahlend blauen Augen waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Doch er konnte sie für einen Moment nur fassungslos anstarren.

Das zartblaue Kleid hatte ihr schon gut gestanden, aber jetzt war die Verwandlung absolut perfekt. Nichts, gar nichts trennte die junge Mechanikerin Helena Medeus nun noch von den Damen des griechischen Jetsets, abgesehen vielleicht von der Tatsache, dass sie darin nicht so selbstsicher wirkte wie jene Frauen.

„Und?“, fragte sie unsicher, und Nikos sah, wie sie sich auf die Unterlippe biss, während sie auf seine Reaktion wartete.

„Das nehmen wir auch“, sagte er knapp und erhob sich. „Ich muss noch kurz etwas erledigen. Sie wissen ja, was wir brauchen“, meinte er zu Apollonia, die offenbar in alles eingeweiht war und schweigend nickte. Dann richtete er den Blick noch einmal auf Helena. „In einer Stunde bin ich zurück. Such dir aus, was dir gefällt“, erklärte er und verließ mit großen Schritten den Laden.

Verwirrt sah Helena ihm nach und spürte einen kleinen schmerzhaften Stich. Stand ihr das Kleid nicht? Aber wieso wollte er dann, dass sie es nahm? Und warum musste er so plötzlich gehen?

„Sie sehen fantastisch darin aus“, meinte Apollonia, die ihre Unsicherheit zu spüren schien. „Ich werde schon mal ein paar leichte sommerliche Kombinationen für den Tag heraussuchen, während Sie sich umziehen, und dann wählen wir etwas Schönes für Sie aus.“ Sie hielt Helena die Schwingtür der Umkleidekabine auf. „Ich wünschte, mein Mann wäre so großzügig“, sagte sie mit einem Lächeln und ließ die Tür zuklappen, als Helena hindurchgegangen war.

Helena blieb allein in der Kabine stehen und starrte auf ihr Spiegelbild. Aber genau das war ja das Problem. Nikos Pandakis war nicht ihr Mann, sondern ein Fremder, und für seine Großzügigkeit gab es einen ganz konkreten Grund. Es spielte keine Rolle, ob sie ihm in dem Kleid gefiel. Und seine Komplimente wollte sie gar nicht hören. Schließlich musste er sie nicht schön finden.

Hastig schlüpfte sie aus der edlen Seidenrobe und hängte sie seufzend wieder über den Bügel. Ihr Kopf hatte das begriffen. Es war nur viel schwerer als gedacht, im Herzen zu akzeptieren, dass er es tatsächlich nicht tat …

Nikos lief über die belebte Einkaufsstraße und versuchte, sich wieder zu beruhigen und nicht mehr daran zu denken, wie unschuldig und bezaubernd Helena Medeus in diesem sündhaft verführerischen Traum von einem Kleid ausgesehen hatte. Unschuldig … Nein, sie ist nicht anders als die anderen Frauen in deinem Leben, sagte er sich immer wieder. Vielleicht fühlte sie sich jetzt noch fremd in der Welt der Reichen, aber daran gewöhnte sie sich vermutlich schnell. Und am Ende würde sich zeigen, dass sie genauso war wie die anderen.

Er holte sein Handy heraus und setzte sich mit Vasili in Verbindung. „Wie läuft es mit dem Stiftungsprojekt?“

Doch noch während er dem Bericht seines Assistenten lauschte, sah er erneut das Bild von Helena in der roten Seidenrobe vor sich. Frustriert ballte er seine freie Hand zur Faust, um sich gegen das heiße Verlangen zu stemmen, das es in ihm weckte. Deshalb war er so abrupt gegangen – weil er die Wirkung unterschätzt hatte, die sie auf ihn ausübte.

Denn er wollte nicht fasziniert von ihr sein. Herrgott, sie war eine kleine Mechanikerin, die ihm einen Gefallen tat – und vielleicht längst nicht so unschuldig, wie es den Anschein hatte. Es war gut möglich, dass sie eine Rolle spielte und er nur noch nicht dahintergekommen war, was sie damit bezweckte. Aber er würde nicht auf sie hereinfallen.

Mit knappen Worten bestätigte er Vasili, dass alles, was dieser ihm berichtet hatte, genau in seinem Sinne war, und legte auf. Das zumindest lief so, wie er es wollte. Und die Sache mit Helena Medeus würde er auch wieder in den Griff bekommen. Es gab definitiv Wichtigeres, als sich über diese Frau den Kopf zu zerbrechen.

Entschlossenen, den Mund zu einer schmalen Linie zusammengepresst, machte er sich auf den Weg zurück zu der Boutique.