„Noch ein kleines Stück“, rief Helena, die vorne am Bug der Sofia stand und konzentriert nach unten sah, während Nikos die Jacht geschickt an den Anleger des kleinen Hafens manövrierte. Als sie ihn fast erreicht hatten, warf sie die Leine dem weiß gekleideten Hafenassistenten zu, der auf dem Steg bereits darauf wartete, ihnen beim Anlegen zu helfen. Er schlang es um den Poller, und sein Kollege tat dasselbe mit der Achternleine, die Nikos ihm zuwarf.
„Sie sind spät dran“, rief ihnen einer der Männer zu und deutete hinauf zu der weißen Villa oberhalb des Anlegers. Es dämmerte bereits, deshalb waren alle Fenster hell erleuchtet, und man hörte Musik und Stimmengewirr. Offenbar war die Party bereits in vollem Gange.
Nikos unterdrückte einen Fluch. „Wir wurden aufgehalten“, erwiderte er knapp und warf Helena einen scharfen Blick zu, obwohl er wusste, dass sie nicht dafür verantwortlich war, dass sie es letztlich doch nicht ganz rechtzeitig nach Santorios geschafft hatten. Ein Anruf von Vasili hatte sie zu einem Zwischenstopp in Naxos gezwungen. Nikos hatte sich per Videokonferenz noch mal um das Problem mit dem Stiftungsprojekt kümmern müssen, das ihm schon am Tag zuvor so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte. Das hatte sie wertvolle Stunden gekostet, sodass sie nicht wie geplant pünktlich zum nachmittäglichen Empfang eingetroffen waren. Es war nicht Helenas Schuld, dass sie zu spät kamen, sie hatte damit gar nichts zu tun gehabt. Im Gegenteil. Ohne sie säße die Sofia noch in Piräus fest, erinnerte er sich, während er sie betrachtete.
Sie war ihm noch immer ein Rätsel, denn sie verhielt sich anders als alle Frauen, die er kannte. Er war es einfach nicht gewohnt, zwar freundlich, aber distanziert behandelt zu werden, zumindest dann nicht, wenn er mit einer Frau auf so engem Raum allein war. Denn das waren sie, da Vasili nun doch in Athen geblieben war, und es hätte jede Möglichkeit zu einer Annäherung gegeben.
Doch Helena, die für die Dauer ihres Aufenthaltes auf der Sofia ihre Sachen in dem einen der beiden Gästezimmer untergebracht hatte, legte viel Wert darauf, ihm deutlich zu zeigen, dass ihre Verbindung rein geschäftlich war, und hielt ihn auf Abstand, wann immer sie konnte. Und sie zog auch keines der Teile an, die er ihr in Athen gekauft hatte, weil diese, wie sie betonte, für ihre Rolle gedacht seien, die sie ja erst nach ihrer Ankunft spielen müsse. Sogar ihren eigenen Badeanzug hatte sie getragen, als sie die erzwungene Unterbrechung durch die Videokonferenz nutzte, um sich im Meer zu erfrischen, und nicht den schicken Bikini aus der Boutique.
Was vielleicht, wie Nikos sich eingestehen musste, auch besser gewesen war, denn darin hätte sie vermutlich noch verführerischer ausgesehen, und es fiel ihm auch so schon schwer genug, sein Verlangen nach ihr zu unterdrücken. Wie konnte jemand, der sich so spröde verhielt, nur so unglaublich sexy sein? Oder war das gerade der Grund, warum er an fast nichts anderes mehr denken konnte als daran, was er gerne mit ihr getan hätte, wenn sie nicht so abweisend zu ihm gewesen wäre?
Die trotzige Unnachgiebigkeit, mit der Helena Medeus ihm bisher begegnet war, stand jedoch in einem krassen Gegensatz zu dem hilflosen, fast ängstlichen Ausdruck, der jetzt auf ihrem Gesicht lag, als sie zu der Villa hinaufblickte. Es versetzte Nikos einen unerwarteten Stich, sie so zu sehen, aber er bemühte sich, das Gefühl zu ignorieren, während er zu ihr ging.
„Wir sollten uns jetzt umziehen“, erklärte er ihr, plötzlich ungeduldig.
Helena hörte seine Worte, doch sie konnte den Blick einfach nicht losreißen von dem Bild, das sich ihr bot und das sie voller ängstlicher Faszination anstarrte.
Der kleine Jachtanleger von Santorios war genauso exklusiv wie die Insel selbst, die insgesamt flacher war als andere Teile Griechenlands und zu großen Teilen bewaldet. Doch oberhalb des Anlegers war der Wald gerodet und machte terrassenförmig angelegten Gärten Platz, in denen blühende Sträucher und Blumen kunstvoll um knorrige alte Olivenbäume, Palmen und Pinien- und Eukalyptusbäume angeordnet waren und die Luft in ein herrliches Meer aus Düften verwandelten. Schatten spendende Pergolas standen an den Enden der ausladenden sattgrünen Rasenflächen, und die Wege und weißen Treppen führten alle auf das Prunkstück der Insel zu, eine dreistöckige weiße Villa mit griechischen Säulen und einem roten Dach.
Ein Schauer durchlief Helena und sie legte die Hände um ihre Oberarme, wie um sich zu wärmen. Das ungute Gefühl, das sie die ganze Zeit über nicht losgelassen hatte, verstärkte sich zu einer kalten Angst und ließ sie schwer schlucken. Die Boutique in Athen mit ihrer exklusiven, teuren Atmosphäre war schon einschüchternd für sie gewesen, aber das hier war – eine völlig andere Welt. Eine, in die sie auf gar keinen Fall gehörte. Erst jetzt wurde ihr klar, auf was sie sich da eingelassen hatte, und unwillkürlich schüttelte sie den Kopf.
„Ich … ich kann das nicht“, sagte sie, bevor sie sich zurückhalten konnte. „Ich kann da nicht reingehen. Die Leute werden sofort merken, dass ich nichts weiter bin als eine kleine Mechanikerin aus Piräus in einem viel zu teuren Fummel.“ Verlegen blickte sie zu Boden.
„Nein, das werden sie nicht“, entgegnete Nikos, und als er Helena zu sich herumzog und die Hand unter ihr Kinn legte, um sie zu zwingen, ihn anzusehen, wurde ihr voller Entsetzen klar, dass sie – mal wieder – ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte. „Sie werden eine wunderschöne junge Frau in einem atemberaubenden Kleid sehen, und niemand wird es wagen, etwas zu sagen, solange ich bei dir bin. Also entspann dich, Helena. Du stehst denen da oben in nichts nach, glaub mir.“
Mit seinen dunklen Augen sah er sie bewundernd an, und Helena vergaß für einen Moment zu atmen. Fand er sie wirklich wunderschön? Sie hätte es gerne geglaubt, doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie für ihn nur ein Geschäft war. Vermutlich sagte er das alles nur, damit sie nicht zusammenbrach und ihn im letzten Moment im Stich ließ. Sie wandte den Kopf ab und unterbrach den Blickkontakt. „Ich gehe mich umziehen“, murmelte sie leise und floh in ihre Kabine.
Nikos sah ihr nach und musste die Hand zur Faust ballen, um sich davon abzuhalten, ihr nachzugehen. Sie glaubte ihm nicht, das spürte er. Aber was noch viel schlimmer war: Er glaubte sich selbst nicht mehr. Den ganzen Tag schon sagte er sich unablässig, dass Helena Medeus nichts weiter war als ein nützliches Anhängsel. Eine Begleitung, an die er nicht so viele Gedanken verschwenden musste wie an die Freundinnen, die sonst an seiner Seite gewesen waren, weil sie nicht bleiben würde. Doch gerade das schien sein Verlangen nach ihr nur noch zu verstärken, schien die Faszination, die sie auf ihn ausübte, immer weiter wachsen zu lassen. Und als er ihr eben so nah gegenübergestanden und in die tiefen blauen Seen ihrer Augen geblickt hatte, war er nur noch einen Herzschlag davon entfernt gewesen, sie in seine Arme zu reißen und zu küssen.
Nikos schüttelte den Kopf, während er selbst nach unten in seine Kabine ging, um sich für das Fest umzukleiden, nur schwer in der Lage, diesen Gedanken wieder abzuschütteln. Es wurde wirklich Zeit, diese Party hinter sich zu bringen, denn dann würde Helena Medeus wieder aus seinem Leben verschwinden und er konnte sie vergessen. Und wenn er das nicht konnte – dann würde er sich eine andere Lösung überlegen müssen …
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als Helena an Nikos’ Arm die weißen Stufen zu der großen Eingangstür der Villa hinaufstieg. Ihr war ganz schlecht vor Aufregung, und sie war sicher, dass ihr alle Gäste sofort ansehen würden, dass sie nicht auf dieses Fest gehörte, an dem sie nun teilnehmen würde. Unsicher blickte sie zu Nikos auf, der ruhig neben ihr ging. Sein Smoking saß perfekt und betonte seine breiten Schultern.
Er sah zu ihr herunter, aber sie konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht deuten. Doch er schien zu spüren, was sie bewegte, denn er legte seine Hand auf ihre, die auf seinem Arm lag, und drückte sie sanft. „Du siehst toll aus“, sagte er, und Helena errötete verlegen und zupfte den Rock des roten Seidenkleids zurecht, während sie vor der Tür darauf warteten, eingelassen zu werden.
„Du auch“, erwiderte sie leise und fragte sich für einen Moment, ob sie sich wohl jemals daran gewöhnen würde, wie attraktiv dieser Mann war. Das musst du nicht, erinnerte sie sich. In ein paar Tagen hatte sie nichts mehr mit ihm zu tun. Dann würde er sich vermutlich gar nicht mehr an sie erinnern. Unwillkürlich seufzte sie leise auf. Dann blickte sie wieder nach vorn und nahm deshalb den verwunderten Blick nicht wahr, mit dem Nikos sie musterte.
Er war es gewohnt, dass Frauen ihm Komplimente machten, um ihm zu schmeicheln, doch Helenas Bemerkung wirkte ehrlich und direkt, und ihre Worte berührten ihn seltsam. Als die Tür sich öffnete und ein Butler sie mit einem freundlichen Lächeln hereinbat, ließ er sie los und legte die Hand in ihren Rücken, um sie über die Schwelle zu geleiten.
Staunend sah Helena sich in den großzügigen, edel eingerichteten Räumen um, durch die der livrierte Mann sie führte, doch für eine längere Betrachtung blieb ihr keine Zeit, denn schon kurz darauf traten sie auf eine breite, stimmungsvoll beleuchtete Terrasse. Am einen Ende spielte auf einem Podest eine fünfköpfige Band Tanzmusik, und einige Paare drehten sich auf der freien Fläche davor. Die meisten Gäste standen jedoch in Grüppchen zusammen oder saßen an den weißen runden Tischen am Rand der Terrasse. Die anderen Männer trugen ebenfalls Smokings, die Damen elegante Kleider in allen nur erdenklichen Farben, Längen und Varianten.
„Nikos, wie schön!“ Eine junge Frau in einem türkisfarbenen Etuikleid eilte auf sie zu. „Ich habe schon auf dich gewartet.“ Sie küsste Nikos auf beide Wangen und strahlte ihn an. „Wurdest du aufgehalten?“
„Ja, ein wenig. Leider.“ Er legte den Arm um Helenas Schultern. „Darf ich dir Helena Medeus vorstellen?“
Das Lächeln der Brünetten wurde einen Hauch weniger strahlend, als sie sich Helena zuwandte. „Freut mich. Ich bin Athina Herodias“, erklärte sie.
Helena erschrak beinahe, denn sie hatte sich die Frau, wegen der Nikos sie extra zu dieser Feier als Begleitung brauchte, anders vorgestellt, nicht so – hübsch. Athina Herodias war schlank, mit langen, wohlgeformten Beinen, dunklem Haar und schönen leuchtend braunen Augen. Sie lächelte freundlich und wirkte nicht nur elegant, sondern auch sehr weltgewandt. Und diese Frau wollte Nikos nicht? Die Vorstellung, dass er lieber mit ihr zu dieser Feier ging, kam Helena jetzt noch befremdlicher vor.
Sie erwiderte das Lächeln der Frau. „Freut mich auch“, entgegnete sie. Doch noch bevor Athina ein weiteres Wort an sie richten konnte, fühlte Helena, wie Nikos seinen Griff um ihre Schultern verstärkte.
„Komm“, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, „ich möchte dich noch anderen Leuten vorstellen. Wir sehen uns später, Athina.“ Damit ließ er die Tochter seines Geschäftspartners stehen und schob Helena weiter.
Während sie von Gast zu Gast gingen und sie freundlich lächelte und Hände schüttelte, blickte Helena immer wieder zu Nikos auf. Er war zuvorkommend und höflich zu seinen Gesprächspartnern, von denen die Männer ihm vor allem Respekt entgegenbrachten, während die Damen ihn offen anhimmelten. Doch trotz all dieser Wertschätzung wirkte er auch irgendwie distanziert, so als gäbe es eine unsichtbare Wand, die ihn von all diesen Menschen trennte, mit denen er doch scheinbar so viel gemeinsam hatte. Und das verstärkte ihren Eindruck, dass Nikos Pandakis ein Mann war, der sich nicht so einfach einschätzen ließ, wie es zunächst den Anschein hatte.
Die Medien mochten ihn als einen skrupellosen Geschäftsmann und Playboy darstellen, doch das wusste Helena inzwischen besser. Bei ihrem erzwungenen Stopp in Naxos hatte sie zufällig mitbekommen, dass er die Aurora-Stiftung leitete. Helena kannte diese Organisation, denn sie war schon einmal in einem der Aurora-Häuser gewesen, in denen griechische Straßenkinder eine neue Heimat und Ausbildungsmöglichkeiten bekamen. Dass jedoch Nikos Pandakis dahinter stand, war ihr nicht bewusst gewesen. Bei der Videokonferenz auf der Jacht war es um ein Problem beim Bau einer neuen Einrichtung gegangen, und an der Art, wie Nikos sich persönlich um eine Lösung bemüht hatte, war deutlich zu merken gewesen, wie sehr ihm dieses Engagement am Herzen lag. Ob es etwas mit der Tatsache zu tun hatte, dass er angeblich ebenfalls aus einfachen Verhältnissen stammte? Helena war sicher, einmal gelesen zu haben, dass er sich von ganz unten hinaufgearbeitet hatte. War er vielleicht selbst mal einer dieser Straßenjungen gewesen, um die er sich jetzt so sorgte?
Helena seufzte leise. Was der Grund auch sein mochte, er machte es ihr damit fast unmöglich, ihn weiter unsympathisch zu finden. Im Gegenteil. Je länger sie ihn kannte, desto faszinierter war sie von ihm, und wenn sie nicht sehr aufpasste, dann würde sie ihn am Ende noch genauso verliebt anstarren wie die anderen Frauen auf diesem Fest. Das durfte auf gar keinen Fall passieren, denn so wenig sie bisher über ihn wusste, eines stand völlig außer Frage: Wenn sie ihr Herz an Nikos Pandakis verlor, dann würde er es ihr brechen, denn er war an Liebe und Beziehungen ganz offensichtlich nicht interessiert.
„Möchtest du noch etwas trinken?“, fragte Nikos sie irgendwann, als sie in der Nähe der Bar standen, und Helena nickte dankbar. Sie hatte sich zwar schon ein Glas Champagner vom Tablett eines livrierten Kellners genommen und getrunken, weil sie dann etwas in der Hand hatte und weil der prickelnde Alkohol ihr ein bisschen von ihrer Nervosität nahm, aber ihr Mund war immer noch trocken. Außerdem schwirrte ihr der Kopf vor all den Namen und Gesichtern, und sie war erschöpft von der Anstrengung, möglichst nicht unangenehm aufzufallen.
Als Nikos jetzt jedoch in Richtung Bar ging, fühlte Helena sich plötzlich alleine und schutzlos und wünschte, sie hätte ihn nicht gebeten, ihr den Champagner zu holen. Unglücklich sah sie, dass er von einem älteren Mann und seiner Begleiterin angesprochen und aufgehalten wurde, und überlegte, ob sie wieder zu ihm gehen sollte. Sie entschied sich jedoch dagegen, damit er nicht glaubte, dass sie ihm nachlief. Weil sie aber auch nicht einfach stehen bleiben wollte, schlenderte sie zu dem überwachsenen Bogen am Ende der Terrasse hinüber. Dahinter lag der Garten, wo es ruhiger und weniger hell war.
Ein Kiesweg führte weg vom Haus, und Helena folgte ihm, froh darüber, den vielen neugierigen Blicken, die ihr die ganze Zeit über gefolgt waren, für einen Moment entkommen zu können. Außerdem war sie begeistert von der Schönheit des Grundstücks und wollte es gerne ein wenig genauer erkunden.
Inzwischen war es nach elf Uhr und dunkel, doch auch in den weitläufigen Gärten war überall eine indirekte Beleuchtung angebracht, die ihr den Weg wies, und sie staunte darüber, wie kunstvoll das parkähnliche Grundstück angelegt worden war. Bei einigen prächtig blühenden Oleanderbüschen blieb sie stehen und hielt die Nase dicht über die herrlich duftenden Blüten.
„Guten Abend.“ Die Stimme, die plötzlich hinter ihr erklang, ließ sie erschrocken herumfahren. Ein weißhaariger Mann, den sie erst jetzt entdeckte, saß etwas weiter entfernt in einer weißen Gartenlaube vor einem kleinen Tisch und sah sie mit einem freundlichen Gesichtsausdruck an. „Haben Sie sich verlaufen?“
„Ich … nein … ich wollte mir nur den schönen Garten ein bisschen ansehen“, erklärte sie und dachte mit Schrecken, dass das vermutlich ein Fauxpas gewesen war. „Tut mir leid“, fügte sie hastig hinzu. „Ich wollte Sie nicht stören. Ich gehe wieder zurück und …“
„Sie stören mich ganz und gar nicht“, unterbrach er sie und deutete mit einer einladenden Geste auf den Stuhl ihm gegenüber. „Kommen Sie doch zu mir und leisten Sie mir einen Moment Gesellschaft.“
Zögernd folgte Helena der Aufforderung und erkannte im Näherkommen, dass der Mann noch nicht ganz so alt war, wie er auf den ersten Blick gewirkt hatte, vielleicht Mitte sechzig. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Schachspiel, bei dem eine Partie bereits begonnen war. Einen Mitspieler konnte sie jedoch nirgends sehen.
„Warum sind Sie ganz alleine hier draußen?“, fragte sie, bevor sie sich zurückhalten konnte, und bereute ihre Worte sofort. Bestimmt durfte man auch eine so direkte Frage in diesen Kreisen nicht stellen.
Aber der Mann lächelte nur. „Das Gleiche könnte ich Sie fragen“, erwiderte er und bedeutete ihr noch einmal, sich zu setzen, was sie tat. „Gefällt Ihnen das Fest nicht?“
„Doch, doch“, versicherte Helena ihm hastig, weil sie nicht unhöflich sein wollte. „Ich wollte nur … ein bisschen frische Luft schnappen.“
„Sind Sie ganz allein hier?“
Helena schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin mit Nikos Pandakis gekommen.“
„Mit Nikos!“ Der Mann schien erstaunt. „Und wie heißen Sie, meine Liebe?“
Helena nannte ihm ihren Namen.
„Ich bin Panaiotis Thandopulous“, stellte der ältere Mann sich vor, und Helena sog erschrocken die Luft ein.
„Aber dann … dann sind Sie der Mann, dem zu Ehren dieses Fest stattfindet, oder?“ Nikos hatte den Namen seines Freundes mehrfach erwähnt – nur nicht, dass er so viel älter war als er selbst.
Panaiotis nickte. „Meine Familie hat darauf bestanden, meinen fünfundsechzigsten Geburtstag mit einem großen Fest zu begehen“, erklärte er.
„Aber wieso sitzen Sie dann hier draußen? Müssten Sie nicht da drin bei Ihren Gästen sein?“
Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Wenn man so alt ist wie ich, dann tut man nur noch, was man möchte“, meinte er. „Und im Moment möchte ich eben keine Hände schütteln, sondern lieber dieses Schachspiel beenden, das mein Neffe und ich begonnen haben. Leider scheint Angelos vergessen zu haben, dass ich hier draußen sitze und auf ihn warte, deshalb wäre ich sehr froh, wenn Sie mir einen Moment Gesellschaft leisten.“
Helena lächelte. „Ich sitze auch lieber bei Ihnen hier draußen, als da drin zu sein“, gestand sie und bereute ihre offenen Worte sofort wieder. Doch sie sah Verständnis in seinem Blick, und für einen Moment lächelten sie sich verschwörerisch an. Er ist ein richtig netter Mann, dachte Helena verwundert und ahnte plötzlich, warum es Nikos so wichtig gewesen war, seinen Freund zu besuchen.
„Spielen Sie Schach?“ Er deutete auf die Figuren, die auf dem Brett verteilt standen.
Helena nickte. „Mein Vater hat es mir beigebracht“, erklärte sie. Kostas hatte Schach geliebt und gerade in der letzten Zeit, als er für viele andere Dinge zu schwach gewesen war, hatten sie es oft gespielt. Sie betrachtete die Stellung der Figuren genauer. „Sie haben Ihren Gegner ganz schön in Bedrängnis gebracht“, bemerkte sie.
Der Mann hob die Augenbrauen. „Tatsächlich?“
„Ja. Er sitzt schon fast in der Falle.“ Sie deutete auf das Brett. „Wenn Ihre Dame den schwarzen Turm schlägt, bedroht sie den König. Dem könnte sich Ihr Gegner zwar noch entziehen, aber wenn Sie ihn dann mit Springer und Läufer in die Enge treiben, ist er in wenigen Zügen schachmatt.“
„Und was würden Sie tun, wenn Sie mein Gegner wären?“, wollte er wissen.
Helena überlegte. „Ich glaube, ich würde als Erstes meinen Springer opfern, um die Dame abzulenken.“
„Dann tun Sie es doch“, forderte er sie auf.
Überrascht sah Helena auf. „Aber ich kann doch nicht einfach weiterspielen. Wird Ihr Neffe denn nicht wütend sein, wenn ich mich in seine Partie einmische?“
Wieder lächelte der ältere Herr, und das verschmitzte Funkeln in seinen Augen erinnerte sie schmerzhaft an Kostas. „Nicht, wenn Sie seinen Kopf aus der Schlinge ziehen“, erklärte er und deutete einladend auf das Spielbrett.
Helena zögerte nur noch ganz kurz, dann setzte sie das Pferd auf seinen neuen Platz. „Garde“, sagte sie und lächelte, dankbar dafür, sich endlich nicht mehr so verloren zu fühlen. Schach war etwas, das sie beherrschte, und zum ersten Mal machte ihr etwas an diesem Abend wirklich Spaß. Sie spielten eine Weile schweigend, und tatsächlich gelang es ihr bald, das Blatt zu wenden.
„Schach“, erklärte sie schließlich und blickte den älteren Mann triumphierend an, der nach einem Moment geschlagen die Arme hob.
„Und matt“, meinte er anerkennend und kippte den König zur Seite. „Es ist lange her, dass mich jemand geschlagen hat.“
„Sind Sie mir jetzt böse?“, fragte Helena erschrocken, als ihr klar wurde, dass es vielleicht angebrachter gewesen wäre, gegen ihren Gastgeber zu verlieren.
Doch er lachte nur. „Ich wäre Ihnen böse, wenn Sie mich aus Höflichkeit hätten gewinnen lassen“, sagte er, und Helena beschloss, dass sie ihn wirklich mochte.
„Ach, hier bist du.“ Erschrocken darüber, die inzwischen schon so vertraute tiefe Stimme zu hören, blickte Helena auf und sah Nikos in die Laube treten. Sofort schlug ihr Herz aufgeregt, auch wenn sie sich bemühte, ihre Reaktion zu verbergen.
„Panaiotis!“ Er schien zwar überrascht, aber sehr froh, den älteren Mann zu sehen.
„Nikos!“ Auch Panaiotis strahlte und stand auf, als Nikos zu ihm ging und ihn herzlich umarmte. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr!“, sagte er fast ein bisschen vorwurfsvoll.
„Es gab ein Problem mit einem Bauprojekt, um das ich mich noch kümmern musste, deshalb sind wir zu spät“, erklärte Nikos. „Ich habe Helena gesucht, um sie dir vorzustellen, aber wie ich sehe, habt ihr euch bereits kennengelernt“, sagte er.
„Das haben wir in der Tat schon, und ich bin ganz begeistert von ihr“, erwiderte Panaiotis und lächelte Helena strahlend an. „Endlich bringst du mal eine Frau nach meinem Herzen mit. Wieso hast du mir nichts von diesem Juwel erzählt?“
Das Kompliment ließ Helena erneut erröten, und sie sah fast ein bisschen verzweifelt zu Nikos auf, den die Bemerkung seines Freundes jedoch nicht aus der Ruhe zu bringen schien, denn er trat nur neben sie und legte ihr besitzergreifend die Hand auf die Schulter.
„Weil ich sie gerade erst gefunden habe“, erklärte er ungerührt und sah sie auf eine so merkwürdig intensive Weise an, dass sie für einen Moment zu atmen vergaß. Doch dann erklangen plötzlich Schritte auf dem Kiesweg hinter ihnen, und er unterbrach den Blickkontakt.
„Da bin ich wieder, Onkel. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“ Ein junger Mann mit hellbraunem, kurz geschnittenem Haar betrat die Laube. Das Lächeln, das auf seinem Gesicht gelegen hatte, erstarb abrupt, als sein Blick auf Nikos und Helena fiel. „Aber wie ich sehe, hast du Gesellschaft“, meinte er, und seine Stimme klang jetzt sarkastisch.
„Angelos“, meinte Nikos knapp und nickte dem jungen Mann, der die Begrüßung ebenso knapp und unterkühlt erwiderte.
„Wenn du willst, können wir jetzt weiterspielen“, meinte Angelos, doch Panaiotis winkte ab.
„Danke, aber das ist nicht mehr nötig. Helena hat die Partie für dich zu Ende gespielt, weil ich nicht sicher war, ob du überhaupt wiederkommen würdest, und du kannst ihr dankbar sei, denn sie hat das Spiel für dich gewonnen. Wie sich herausgestellt hat, ist sie eine ganz hervorragende Strategin.“
„Das glaube ich sofort“, meinte der junge Mann, und der böse Blick, den er Helena zuwarf, machte ihr deutlich, dass er mit dieser Bemerkung auf mehr anspielte als die Schachpartie. „Aber ich lege auf derartige Schützenhilfe keinen Wert.“ Dann wandte er sich mit einem ähnlich kalten Gesichtsausdruck an Nikos. „Ich möchte mit meinem Onkel noch etwas Familieninternes besprechen – unter vier Augen.“
„Wir sehen uns später noch, Panaiotis“, erklärte Nikos und schob Helena mit sanftem Druck aus der Laube und auf den Kiesweg, der durch die Gärten zurück zum Haus führte.
„Ist dieser Angelos immer so unfreundlich?“, wollte Helena wissen, sobald sie außer Hörweite waren.
Nikos seufzte. „Zu mir schon. Er neidet mir meinen Erfolg und mein gutes Verhältnis zu seinem Onkel. Wenn es nach ihm ginge, dann hätte Panaiotis ihm schon längst die Führung des Familienunternehmens übergeben sollen, doch Panaiotis findet, dass ihm dafür noch die nötige Reife und Erfahrung fehlt. Angelos weiß, dass ich ebenfalls dieser Meinung bin, und dafür hasst er mich. Für ihn bin ich ein Konkurrent, und er hat Angst, dass ich ihm die Nachfolge streitig machen könnte.“
„Und wirst du das tun?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Die Reederei Thandopulous ist ein Familienunternehmen, und das wird so bleiben. Ich finde zwar, dass Angelos nicht der geeignete Mann für die Firmenleitung ist, aber ich verdanke Panaiotis zu viel, als dass ich ihm jemals in den Rücken fallen würde. Er wird den richtigen Zeitpunkt für einen Wechsel schon finden.“
Helena hakte sich bei ihm unter und lächelte. „Das glaube ich auch. Panaiotis ist ein wirklich netter Mann. Du magst ihn sehr, oder?“
Nikos sah sie an. „Ja, ich mag ihn“, sagte er nach einigem Zögern und fügte dann, fast mehr zu sich selbst, hinzu: „Wie es scheint, hast du ihm aber auch sehr gefallen.“ Es kam selten vor, dass sein väterlicher Freund sich so überschwänglich über jemanden äußerte, den er erst so kurz kannte, und er wusste noch immer nicht so recht, wie er dessen Worte auffassen sollte.
Helena sah ihn an, sagte jedoch nichts, weil sein Blick sie verunsicherte. Gefiel ihm diese Tatsache oder störte sie ihn?
Sie schwiegen, bis sie die Terrasse erreichten. Helena schluckte und straffte die Schultern, als sie erneut in die Menge der Gäste eintauchten. Ihre Angst, etwas falsch zu machen, kehrte sofort mit Macht zurück, und ohne es zu merken, krallte sie sich fester in Nikos’ Arm.
„Nikos! Auf ein Wort.“ Sie waren noch keine zwei Meter weit gekommen, als er von einem älteren, besorgt aussehenden Mann zur Seite genommen wurde, der ihr entschuldigend zunickte und Nikos dann in eine Diskussion über ein Geschäft verwickelte, an dem er beteiligt war und bei dem es offenbar Probleme gab.
Helena hörte zu, bis ihr jemand unvermittelt die Hand auf die Schulter legte. Als sie sich umdrehte, stand die schöne Athina vor ihr und lächelte sie gewinnend an.
„Helena, ich würde Sie gerne ein paar Freundinnen von mir vorstellen.“ Sie hakte sich bei ihr unter. „Darf ich sie kurz entführen, Nikos?“, fragte sie und zog die überrumpelte Helena weiter zu einer Gruppe junger Frauen, die in einer Ecke zusammenstanden. Helena blickte zurück und sah, wie Nikos sich zu ihr umdrehte. Doch der ältere Mann beanspruchte erneut seine Aufmerksamkeit, deshalb konnte sie vermutlich nicht darauf hoffen, dass er sie noch retten würde.
Hastig nahm sie sich im Vorbeigehen noch ein Glas Champagner von dem Tablett eines Kellners, um sich für eine erneute Begegnung mit Athina zu stärken und sich gegen die neugierigen Blicke und Fragen zu wappnen, mit denen sie zweifellos jetzt konfrontiert sein würde.
„Darf ich vorstellen“, sagte Athina in die Runde, „das ist Helena Medeus, die neue Frau an Nikos’ Seite. Das ist ja so aufregend, wissen Sie“, meinte sie an Helena gewandt. „Nikos hat sich erst vor wenigen Tagen von seiner letzten Freundin getrennt, und plötzlich taucht er hier mit Ihnen auf. Das muss ja rasend schnell gegangen sein mit Ihnen beiden.“
Sie hob die Augenbrauen, und für einen Moment befürchtete Helena, sie könnte von ihrem Deal mit Nikos wissen. Aber das war unmöglich. Wahrscheinlich wollte sie tatsächlich nur herausfinden, wie Nikos zu ihr stand. Für einen Moment war Helena versucht, der jungen Frau zu sagen, dass das alles nur eine Inszenierung war, mit der Nikos sich vor ihren Annäherungsversuchen schützen wollte. Aber das durfte sie natürlich nicht tun. Und außerdem sagte ihr Instinkt ihr, dass Athina Herodias nur so freundlich tat, denn sie spürte die Feindseligkeit, die unter der lächelnden Fassade lauerte. Offenbar wartet Athina nur darauf, dass ich einen Fehler mache, um mich dann bloßzustellen.
Hastig nahm sie noch einen Schluck Champagner und lächelte etwas gezwungen. „Schnell ist gar kein Ausdruck“, sagte sie und überlegte trocken, dass zumindest das nicht gelogen war. Sie kannten sich schließlich gerade zwei Tage. Als die anderen sie weiter erwartungsvoll ansahen, fügte sie hinzu: „Wir haben uns gesehen, und es hat sofort zwischen uns gefunkt.“ Auch das stimmte im Grunde, auch wenn es eher ein Feuerwerk der Wut gewesen war, das Nikos in ihr entfacht hatte. Aber das brauchte ja niemand zu erfahren.
„Und wo haben Sie sich kennengelernt?“, wollte Athina wissen.
Helena zögerte und beschloss dann, dass die Wahrheit vermutlich am sichersten war. „Auf seiner Jacht“, erklärte sie dann.
„Waren Sie dort eingeladen?“
„Mehr oder weniger“, sagte Helena ausweichend, der die vielen Fragen unangenehm waren. „Es war eigentlich eher eine zufällige Begegnung.“
„Eine zufällige Begegnung, ja?“, erkundigte sich Athina süffisant und blickte die anderen Frauen bedeutungsvoll an, die sofort anfingen, wissend zu grinsen. Dann machte sie eine wegwerfende Geste und lächelte. „Wir verstehen das schon. Bei einem Mann, der einem so viel zu bieten hat, wird man eben schwach.“ Sie seufzte. „Obwohl es für Nikos bestimmt nicht einfach ist. Ich meine, er kann sich ja nie sicher sein, ob die Frauen ihn wegen seines Geldes oder um seiner selbst willen wollen.“
Die Frauen nickten und kicherten, und Athina lächelte breit, offenbar zufrieden über die erfolgreich gesetzte Spitze.
„Doch, natürlich kann er das“, erwiderte Helena kühl und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie wütend sie war. Der Champagner war ihr inzwischen zu Kopf gestiegen, und obwohl sie wusste, dass sie sich mit dieser Bemerkung vermutlich in Teufels Küche brachte, konnte sie nicht anders. Hatten diese dämlichen Kühe denn gar keine Augen im Kopf? „Ein Mann, der so attraktiv ist wie Nikos, wird niemals befürchten müssen, dass irgendeine Frau ihn nur wegen seines Geldes wollen könnte.“
„Oh, meine Liebe, wenn Sie sich da mal nicht täuschen“, meinte Athina herablassend. „Geld hat seine ganz eigene Anziehungskraft. Da kann auch Nikos ein Lied von singen.“
„Wirklich?“ Helena nahm noch einen Schluck Champagner. „Dann würden Sie nur schwach bei ihm werden, weil er reich ist?“
Athinas Lächeln verschwand. „Nein, natürlich nicht“, sagte sie irritiert. „Aber wollen Sie etwa behaupten, dass die Tatsache, dass er einer der reichsten Männer Griechenlands ist, für Sie keine Rolle spielt?“
„Es interessiert mich nicht, wie viel Geld er hat“, erklärte Helena, „sondern was er mit diesem Geld anfängt.“
„Sie meinen, dass er Ihnen davon schöne Geschenke macht?“ Athinas Stimme triefte vor Sarkasmus.
„Nein, ich meine, dass er mit seiner Aurora-Stiftung Einrichtungen baut, die arme Kinder von der Straße holt und ihnen ein neues Zuhause gibt“, widersprach Helena zornig und lauter, als sie eigentlich wollte. Doch als sie sah, wie überrascht Athina und die anderen sie ansahen und dass auch andere Gäste, darunter der inzwischen zurückgekehrte Angelos Thandopulous, sich interessiert zu ihr umsahen, wurde ihr auf einmal klar, dass Nikos’ soziales Engagement vielleicht nicht allgemein bekannt war. Um von dem Thema abzulenken, fügte sie hastig hinzu: „Und im Übrigen hätte ich ihn auch genommen, wenn er keinen Cent besitzt, weil er …“, sie senkte die Stimme, „… einfach so unglaublich heiß ist.“
Die Frauen, die sich zu ihr nach vorn gebeugt hatten, keuchten kollektiv auf, und Helena musste fast lächeln, als sie ihre schockierten Mienen sah. Sie beschloss, noch einen draufzusetzen, und verdrehte schwärmerisch die Augen. „So heiß, dass ich gar nicht genug von ihm bekommen kann.“
„Tatsächlich, Schatz?“, fragte Nikos plötzlich dicht an ihrem Ohr, und Helena spürte, wie seine Hände sich von hinten um ihre Hüften schlossen. „Das freut mich zu hören“, sagte er, und als sie sich atemlos zu ihm umdrehte, lag auf seinen Lippen ein Lächeln. Doch der brennende Blick, mit dem er sie ansah, sagte ihr, dass sie in großen Schwierigkeiten steckte.