Karl ruht in einem Gartensessel. Hilde schaut ihm dabei eine Weile zu. Was ist aus dem jungen, attraktiven Mann geworden, den sie so sehr liebte, denkt sie. Wohin sind sein Charme, Humor und jugendliches Draufgängertum verschwunden? Schon allein optisch ist er kaum wiederzuerkennen, mit der Demenz hat sich auch der letzte Rest seiner Persönlichkeit davongeschlichen. Geblieben ist eine gebrechliche Körperhülle, die ganz allein durch die permanenten Schmerzen ein Leben vorgaukelt. Mit Medikamenten wird der letzte Rest an Energie künstlich gedämmt, damit sich der lebende Tote ruhig verhält.
Hilde mag nicht mehr daran denken, wie es mit Karls Krankheit begonnen hat. Die alltäglichen Hoppalas passieren doch jedem. Hier und da geht ein Glas zu Bruch, die Brille, der Ausweis, der Schal oder die Handschuhe sind nicht mehr auffindbar. Aber wenn das Zittern und die unbemerkt gebliebene nasse Hose im Schritt sowie die zeitweise völlige Orientierungslosigkeit dazukommen, ist es doch etwas anderes.
Zuerst fällt es ihr auf, dann den Kindern, irgendwann sehen es alle, nur der Betroffene nicht. »Warum lacht ihr?«, fragt er, »seid ihr blöd, oder was?« Alle sind blöd, alle sind arrogant, keiner hat Verständnis. Sie verstecken absichtlich seine Sachen, wollen ihn ärgern, warum kommen ständig fremde Menschen ins Haus, was hat das alles mit ihm zu tun? »Lasst mich in Ruhe, ich will niemanden sehen und mit niemandem sprechen, wo sind wir überhaupt, ich möchte endlich nach Hause gehen!«, schreit er.
Zum Internisten geht er nicht freiwillig. Hilde und Vroni führen ihn wie einen Gefangenen in die Ordination, drücken ihn in den Stuhl, hieven ihn auf die Liege, sprechen für ihn und ziehen ihm die Kleider vom Leib. Es folgt eine Reihe an Untersuchungen, das Blut fließt in schmale Röhrchen, der Harn in den Becher, der ganze Körper, in ein unförmiges Nachthemd gehüllt, wird in eine Röhre geschoben. Es klopft laut darin, tausende Spechte pochen gegen das Metall, durchdringen Karls Kopf. Wer kann bei dem Krach nur ruhig und gelassen bleiben? Er drückt auf den Panikknopf, den er mit den Händen umklammert und auf die Brust presst, er wird umgehend aus der Röhre geholt. Man reicht ihm einen Plastikbecher mit Wasser, es schmeckt seifig, die Chemie beruhigt. Einatmen, ausatmen, die Schwester tätschelt Karls Hand, setzt ihm Kopfhörer auf und schiebt ihn wieder in die enge Höhle. Diesmal ist er tapfer, er hält still, auch wenn sein Herz davonzurennen versucht. Die endlosen Minuten vergehen irgendwann.
In der Apotheke bekommen sie einen vollen Papierbeutel mit Medikamenten, weiße, cremefarbene und bläuliche. Vroni befüllt später einen Plastikdosierer – Morgen-Mittag-Abend-Nacht. Alle paar Monate eine Kontrolle in der Klinik, die Krankheit schreitet fort und lässt sich trotz der Medikamente und diverser Therapien nicht mehr aufhalten.
»Nützen Sie die Zeit, solange es noch geht. Erfreuen Sie sich an Kleinigkeiten, feiern Sie jeden Tag, als ob er der letzte wäre. Sie werden sehen, wie viel Schönes noch auf Sie wartet.« Sie fahren mit dem Taxi nach Hause, Vroni vorne, die beiden Alten auf der Rückbank halten einander an den Händen. In ihren Augen Angst wie in der Geisterbahn.
Hilde hadert nicht mehr mit ihrem Schicksal. Wozu auch? Sie hat sich ihm ergeben, was ihr die Kraft gibt weiterzumachen. Und die Kraft wird sie noch brauchen. Als sie zu den alten Briefen in der Holzkiste zurückkehren und weiterlesen will, kommt Markus und fragt: »Was haben Sie heute für mich?«
»Nichts. Nichts Besonderes. Wollen wir nicht lieber ein bisschen plaudern?«
Markus kennt sehr gut die Launen seiner Schützlinge und ist auch mit Hildes Einsamkeit bestens vertraut. Die Arme, denkt er oft, mit dem infantilen Karl kann sie nicht richtig reden und die Kinder sind weit weg. Nach einem langen Leben ist es ungerecht, so alleingelassen zu werden. Aber dann fallen ihm seine Eltern ein und er ist sich nicht mehr sicher, ob er vielleicht auch eines Tages das Weite suchen wird, nur um ihrem Einfluss zu entkommen. Sie sind keine schlechten Eltern, in gewissem Sinne und auf ihre Art sogar cool, aber sie haben kein Verständnis für die Entscheidungen ihres Sohnes.
Auf ihren Wunsch hin hat er ein Wirtschaftsmanagement-Studium begonnen und mit dem Bachelor vorerst abgeschlossen. Auch wenn sein Vater ein Banker ist und mit einem einträglichen Posten in der Wirtschaft winkt, kann sich Markus sein Leben in Anzug und Krawatte in einem Büro nicht vorstellen. Er bekommt die Meetings des Vaters mit, den Stress und den Ärger mit den Mitarbeitern, die hysterischen Ausbrüche der Mutter, weil ihr Mann mehr Zeit mit seiner Sekretärin verbringt als mit ihr, unzählige Flugreisen in Städte, von denen er nur die Flughäfen kennt.
Der Vater sei tolerant, sagt er, er zwinge ihn nicht zum Studium. »Aber was möchtest du sonst machen?«, hatte er herausfordernd gefragt. »Was interessiert dich?« Das ist es ja. Markus weiß noch nicht ganz genau, was er später machen möchte. Die Natur interessiert ihn, Geschichte, Philosophie, Musik oder die Arbeit mit Menschen. »Und ist das ein Beruf?«, hatte der Vater gefragt.
»Noch nicht … aber … ich möchte mich ausprobieren.«
»Und das auf unsere Kosten?«
»Ich brauche euer Geld nicht. Ich verdiene es mir selbst.«
»Und wie? Als Straßenmusikant?«
»Warum nicht?«
Der Zivildienst ist eine Zwischenstation. Die Zeit des Wartens auf eine Entscheidung. Oder Weichenstellung. Markus ahnt, dass sein Vater auf seine Rückkehr an die Fachhochschule oder die Universität hofft, und er möchte ihm diese Hoffnung auch nicht nehmen, auch wenn es für ihn definitiv ausgeschlossen ist, ein Wirtschaftsmanager zu werden.
An den Wochenenden führt er Touristen durch das ehemalige Konzentrationslager in Mauthausen.
Dass er einen Vermittlerkurs in der KZ-Gedenkstätte absolviert hat – das Wort Führer darf man in Mauthausen nicht benützen –, davon hat er seinen Eltern nichts gesagt. Wozu auch? Das hätten sie sowieso nicht verstanden. Auch wenn sein Großvater, der Vater seiner Mutter, von der Gestapo nach Mauthausen verschleppt worden war, wo er ums Leben kam.
Markus wusste, sein Opa war bei der Familie in Ungnade gefallen. Man sprach nicht gern über ihn, in der Erinnerung schien er ausgelöscht zu sein. Nicht nur, dass er verheimlicht hatte, Jude zu sein, er schwängerte sogar seine damalige Freundin und lief dann feige davon. Irgendwann gegen Ende des Krieges erfuhren sie von seinem Tod und keiner weinte ihm eine Träne nach. Keiner, außer Markus, der seinen Großvater gern kennengelernt hätte.
Der Kurs und die Führungen in Mauthausen waren seine Rebellion gegen die Eltern. Der Drang, etwas Eigenständiges und Vernünftiges zu tun und sich dabei ein Taschengeld zu verdienen, war gleichzeitig die Gelegenheit, sich abseits der Vorstellungen des Vaters zu positionieren und dabei mehr über seinen geheimnisvollen Großvater zu erfahren.