Hilde sitzt vor der Kiste mit den Briefen und hält ihre Hände vors Gesicht. Das gibt es nicht, denkt sie. War sie das oder war das jemand anderer? Kalter Schweiß läuft ihr über den Rücken, aber sie kann nicht aufhören, sich über sich selbst und die Zeit, in der sie jung gewesen war, zu wundern. Warum hatte sie nicht auf ihr Inneres gehört? Warum wollte sie unbedingt daran glauben, was der Führer sagte, auch wenn es mit ihrem Glauben überhaupt nicht vereinbar war?
Die Briefe, die stummen Zeugen der Vergangenheit und ihrer eigenen Schwäche, lassen ihr keine Ruhe. Da muss sie durch, entscheidet sie, auch wenn sie daran zugrunde geht.
Mit 20 Jahren war sie unglücklich über ihr Aussehen, das nicht den Anforderungen der Partei entsprach. Ihr rundes, fast slawisches Gesicht, dünnes, mausgrau-blondes Haar, die dunklen Augen und die kleine, gedrungene Figur hielt sie für einen Rassenmakel, den sie ideologisch auszugleichen versuchte. Was hätte sie damals nur für dicke, goldblonde Zöpfe wie die ihrer besten Freundin Steffi gegeben! Und für blaue Augen. Und für eine schlanke Figur. Steffi, Abbild der deutschen Frau, Musterbeispiel an genetischer Perfektion, war für sie nicht nur das schönste Mädchen der Schule und des Dorfes, sondern der ganzen Welt.
Ein länglicher, germanischer Schädel war das Ideal, nicht der böhmische »Plutzer«, der von Weitem schrie: »Ich bin rassisch nicht so wertvoll, wie man es von mir erwartet.« Und dabei konnte sie auf einen starken schlesisch-deutschen Zweig in ihrem Stammbaum verweisen, der alle Zweifel an ihrer makellosen, arischen Herkunft beseitigen müsste.
Hilde, eine vom Alter gekrümmte Frau mit schütterem, weißem Haar und matten Augen blickt zurück auf ihr Leben und kommt nicht aus dem Staunen heraus. »Oh, Karl«, sagt sie mehr zu sich als zu ihrem im Rollstuhl schlummernden Mann, »was haben sie nur aus uns gemacht? Oder sind wir selbst schuld daran?« Hildes Lippen bewegen sich ohne einen Laut, und doch dröhnt tief in ihr eine innere Stimme.
»Frau Dorn, ein Mann ist am Tor und möchte Sie sprechen.« Markus, der gerade mit dem Einkauf zurückkommt, reißt sie aus ihren Gedanken. Er trägt zwei volle Körbe mit Lebensmitteln, die er auf den Stufen ins Haus abstellt.
»Wer ist es?«
»Ich weiß nicht. Er hat nicht gesagt, wie er heißt. Nur, dass er Sie sprechen möchte.«
»Er soll hereinkommen.«
Als Markus einen kleinen Mann mit kurzen, dicken Beinen in den Hof führt, überkommt Hilde ein ungutes Gefühl. Er kommt ihr nicht bekannt vor, dennoch fühlt sie gleich eine Abneigung, wie sie sie kaum kennt.
»Guten Tag«, sagt sie und geht dem Besucher entgegen. Sie reicht ihm die Hand, er erwidert ihren Händedruck, wobei er ihr direkt in die Augen schaut.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Hilde, wir haben uns stark verändert … aber du bist es. Das sehe ich sofort.«
»Verzeihung. Wer sind Sie?«
»Kennst du mich nicht mehr?«, fragt der alte Mann und grinst sie dabei an.
»Woher sollte ich Sie kennen?«
»Von hier«, er macht mit der Hand einen großen Bogen. »Wir kennen uns von hier. Von deinem Hof. Ich war als Kind sehr oft hier.«
»Wann?«
»In den 40ern. Die Fischers waren damals die Pächter der Bäckerei.« Er macht einen Schritt auf sie zu, macht eine Geste, als ob er sie umarmen möchte. »Verstehst du nicht? Ich bin’s, der Willi.«
»Willi?«
»Ja, Willi Hammer.«
»Was hat das aber mit den Fischers zu tun?«
»Stimmt, die Fischers waren einmal Pächter hier. Ich kann mich erinnern, sie hatten zwei Söhne, einen großen, wie hieß er noch …?« Hilde dreht ihren Kopf zum Haus, damit der Besucher ihre zitternden Mundwinkel nicht sehen kann.
»Hubert. Er hieß Hubert.«
Kaum fällt der Name, verspürt Hilde einen Stich im Herz. »Hubert, natürlich«, stottert sie. Den Namen hat sie nicht vergessen, nur verdrängt. Hubert, der Mann, der in ihrem Leben eine größere Rolle gespielt hat als manch anderer. Nicht einmal Karl war so sehr präsent gewesen wie der junge Sohn der Pächterfamilie. Sie dachte Tag und Nacht an ihn, hatte das Gefühl, dass er ein wuchernder Teil ihres eigenen Körpers war. Ein eitriges Geschwür, das nie heilte.
»Hubert«, flüstert sie. »Ich kann mich vage an ihn erinnern«, lügt sie.
»Und sie hatten auch einen jüngeren Sohn.«
Sie wendet sich wieder zu Willi Hammer: »Bist du das etwa?«
»Nein, das war der Paul.«
»Und du?«
»Ich war sein bester Freund.«
»Von Paul?«
»Ja, wir haben hier jeden Tag gespielt. Am liebsten Verstecken. Hinter den Mehl- und Getreidesäcken ging das wunderbar. Und im Stall bei den Kühen.«
»Aha«, Hilde ringt um Fassung. »Und was machst du hier? Du wohnst doch nicht im Dorf, oder?«
»Jetzt schon. Ich habe das Haus meiner verstorbenen Eltern geerbt und es gleich meiner Enkelin geschenkt. Was soll ich damit? Milli ist ein gutes Mädchen. Sie hat das Haus hergerichtet und mich zu sich genommen, zumindest in den Sommermonaten. Genau genommen habe ich den Umbau finanziert, das hätte sie aus eigener Kraft nicht geschafft. Das kannst du mir glauben, ich habe eine schöne Stange Geld in die Renovierung gesteckt. Aber jetzt ist alles perfekt. Und meine Kleine hat ein hübsches Häuschen und lässt mich bei sich wohnen.«
»Im Sommer.«
»Und ich mache dafür den ganzen Garten. Rasen mähen, Sträucher und Obstbäume ausschneiden, sogar die Marmeladen koche ich ein. Sie muss sich um nichts kümmern.«
»Wie praktisch.«
»Ich genieße es, wieder hier zu sein«, ereifert er sich. »Endlich kann ich meinem Hobby nachgehen.«
»Was für ein Hobby?«
»Geschichte. Ich sammle geschichtliche Daten. Mit Vorliebe aus unserem Dorf. Irgendwann möchte ich eine Dorfchronik schreiben. Es wäre an der Zeit, dass jemand alles zusammenträgt.«
Ist das ein Zufall oder eine göttliche Strafe, dass Willi, an den sie sich kaum erinnern kann, gerade jetzt auftaucht, wo sie Ordnung in ihre Erinnerung bringen möchte? Sie solle sich erinnern, hat die Ärztin zu ihr gesagt. Ihrem Mann davon erzählen, was sie in ihrer Jugend erlebt hätten. Das würde ihm helfen, sich im Alltag besser zurechtzufinden. Und Hilde macht mit, versucht mit den Briefen das Unheilvolle wieder vorsichtig zu berühren, zu prüfen, wie es sich nach so einer langen Zeit anfühlt, ob es noch wehtut oder unter einer Kruste des Vergessens ruht, und auf einmal steht Willi vor ihr und bedroht ihren sanften Weg der Annäherung an ihre und Karls Geschichte.
Hilde schaut Willi an, spürt den Betonblock auf ihrer Brust, der alles erstickte, was unter ihrer Rechtschaffenheit hinauszuwachsen versuchte, riecht den Verwesungsgestank, der sie ihr Leben lang begleitete. Sie steht im Hof, schaut zum Himmel, wo die Wolken aus Weiß und bläulichem Grau sich bedrohlich über ihr zusammenziehen und auseinandertreiben, starrt in das grelle Licht zwischen ihnen, strengt ihre Augen an, bis sie schmerzen und brennen. Ihr Herz rennt Marathon, der Atem stockt. Sie bewegt sich nicht, steht wie angewurzelt da. Von Weitem hört sie eine Stimme.
»Geht’s Ihnen nicht gut?«, fragt jemand, der sie am Arm nimmt, zu einem Stuhl führt und ihr ein Glas Wasser reicht. »Heute ist es sehr heiß und schwül.«
Das Wasser ist eiskalt, brennt im Hals, vertreibt den Nebel im Kopf.
»Ist schon gut. Danke.«
»Soll ich einen Arzt rufen?«
»Nein, bitte nicht. Mir ist nur ein bisschen schwindlig geworden.«
Markus begleitet die alte Frau ins Bett, um Karl kümmert sich Vroni. Willi sucht das Weite.