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FISCHBACH, 18. AUGUST 2008, NACHT

Hilde kann nicht schlafen. Vor ihr tauchen alte Bilder auf, die sich mit neuen blitzschnell abwechseln und zu einer Collage verbinden. Die Gedanken werden laut und verursachen Chaos in ihrem Kopf. Plötzlich sieht sie ihren Vater, den tüchtigen Bäckermeister und Landwirt Alfred Biehler. Er schaut sie mit seinem messerscharfen Blick an, der keinen Widerspruch duldet. »Kümmere dich um deine Schwester und die Kleine«, sagt er, bevor er für immer geht. Als ob es nicht selbstverständlich wäre, denkt sie in ihrem Wachtraum, dass man sich um die Verwandten kümmert, die Hilfe brauchen.

Karolina, die uneheliche Tochter ihrer Schwester Elfi, ihr heiß geliebtes Linchen, ihr Patenkind und Schützling, eroberte von Anfang an ihr Herz. Sie sieht, wie sie sie im Babyalter im Arm trägt, ihr Schlaflieder vorsingt, Kinderreime beibringt, mit ihr spielt, im Wald Kräuter sammelt, Kartoffelsuppe kocht, Kekse bäckt, ihr zeigt, wie man Hühner füttert und den Zeichenstift richtig in der Hand hält.

Linas Vater Radek Zahradník war einer der böhmischen Saisonarbeiter am Hof, ein Knecht auf Wanderschaft, den Alfred im Stall und auf den Feldern dringend brauchte. Dass sich der Junge auf Anhieb in die schöne Elfi verguckte, gefiel dem Vater zwar nicht, ein Habenichts hatte in seiner Familie nichts zu suchen, aber er hoffte auf die Vernunft seiner Tochter. Doch als er sah, dass Radek dem Mädchen ständig nachlief, es im Stall küsste und ihr unter den Rock griff, reichte es dem Familienoberhaupt. Er wurde zornig und warf den Burschen kurzerhand aus dem Haus. Der Sommer verging, Elfi weinte immer noch ihrem Freund nach, sie weinte überhaupt viel in dieser Zeit, und bald wussten auch alle, warum. Sie war in anderen Umständen, und von Radek Zahradník, der ihr als Einziger die Schmach hätte ersparen können, eine ledige Mutter zu sein, fehlte jede Spur.

Lina, das pausbackige, blonde Engelchen, wurde im Frühjahr 1926 geboren und von Anfang an von zwei liebevollen Müttern umsorgt. Den männlichen Part übernahm ihr Großvater. Linas Großmutter war allzu früh an Brustkrebs gestorben. Und als der Großvater fünf Jahre nach seiner Frau einer Lungenentzündung erlag, war Lina gerade sechs Jahre alt. Alfred Biehler hatte entschieden, das Haus, die Wirtschaft und die Bäckerei seinem »Dreimäderlhaus« zu vermachen. Zu diesem Zeitpunkt waren seine vier älteren, längst verheirateten Töchter, mit anständiger Mitgift bedacht und seit ein paar Jahren aus dem Haus, zunächst damit einverstanden gewesen.

»Hilde, bist du auch noch wach?«, fragt Karl in die Dunkelheit.

»Ja«, stöhnt sie. »Ich kann nicht schlafen.«

»Ich auch nicht.« Karl dreht sich zu seiner Frau, tastet nach ihrem Gesicht, berührt ihre Wange. »War da nicht gerade einer der Fischerbuben bei uns?«

Hilde richtet sich auf und lächelt. War das gerade Karl, ihr Mann, wie sie ihn seit Jahrzehnten kennt, fragt sie sich erfreut. Ist ihm gerade ein Licht in einem der Fenster aufgegangen, die den Blick in sein altes Leben gewähren? »Nein«, sagt sie sanft und sucht dabei nach seiner Hand. »Das war Willi. Willi Hammer.«

»Wer ist Willi?«