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FISCHBACH, 19. AUGUST 2008, VORMITTAG

Kurz vor Weihnachten 1938, dachte Hilde, waren wir überzeugt, dass wir uns bald wieder haben würden. Karl schrieb so schöne, hoffnungsvolle Briefe und tat alles dafür, eine Wohnung für uns zu finden. Und ich? Ich war vor allem bereit zu gehen und mein altes Leben hinter mir zu lassen.

Damals war es mir gar nicht bewusst, was es bedeuten würde, nicht nur das Haus und die Wirtschaft zu verlassen, unser Dorf und mein Land, sondern auch meine Schwester mit ihrer Tochter. Aber nach elf Monaten Trennung von meinem Liebsten war mir auf einmal alles egal. Karl hatte recht, als er schrieb, ich solle mein Leben leben und vor allem an mich denken. Und ich bemühte mich auch mit aller Kraft egoistischer zu sein, meine Ziele durchzusetzen und meine Vorteile herauszuschlagen. Wie hart sich das jetzt alles anhört!

Aber ich zögerte die Entscheidung hinaus, wie eine Operation oder einen Eingriff, der sicher wehtun, von dem ich aber wusste, dass er notwendig sein würde. Denn sollte ich mich gegen Berlin entscheiden, wäre es gleichzeitig eine Entscheidung gegen Karl, gegen unsere Ehe, gegen eine eigene Familie, und das kam für mich nicht infrage.

Weihnachten stand vor der Tür, das größte Fest des Jahres. Elfi und ich holten eine Fichte aus dem Wald, stellten sie in der Stube auf, Lina sollte sie aufputzen. Aber die Kleine trieb sich am liebsten mit ihren Freundinnen herum, probte in der Schule ein Krippenspiel, bereitete sich auf ihre Rolle als König Balthasar vor. Mal fragte sie nach einem Schmuckkästchen, das andere Mal nach Weihrauch und Myrrhe. Sie war schon sehr aufgeregt und freute sich auf das Fest. Elfi und mir fehlte die Kraft, den vermeintlich letzten gemeinsamen Weihnachtsbaum zu schmücken und für immer oder zumindest für eine sehr lange Zeit einander pfiat di zu sagen. Er stand allein und verlassen in der Stube und keinen kümmerte es, dass er umsonst sein Leben gelassen hatte.

Die Arbeit auf den Feldern war getan, die Ernte eingefahren, die Tage waren auf ein paar Stunden Licht gekürzt. Und dennoch liebte ich den Winter, der mehr Dunkelheit, dafür aber mehr Freizeit brachte. Die Tiere zu füttern und auszumisten war zwar eine schwere Arbeit, aber bei der lebenslangen Routine doch relativ schnell zu erledigen. Der Winter war die Zeit des Erzählens, Singens, Tanzens, Fortgehens, Handarbeitens, Stickens und Bastelns.

Wie gern ging ich damals tanzen, denkt die alte Frau und massiert dabei ihr schmerzendes Knie. Vor allem an Fasching. Im Gasthaus spielte jeden Samstag die Musik. Von sechs Uhr bis Mitternacht. Aber ich konnte erst um halb acht Uhr kommen. Zuerst mussten die Kühe Mitzl, Vettl, Bibi, Rosa, Lola und Paula, die zwei namenlosen Ziegen, die Pferde Maxl und Bauxl, acht Schweine und 30 Hühner gefüttert werden. Oft dauerte es bis acht, bis alle Tiere zufrieden kauten und verdauten, aber die restlichen Stunden gehörten mir. Vier Stunden tanzen. Jede Woche vier Stunden pures Glück. Werden wir auch in Berlin tanzen gehen?, fragte ich mich. Sicher, warum denn nicht?

Elfi war böse mit mir. Und ich verstand sie sogar. Auf einmal machte mir mein Egoistischsein keine Freude mehr. Ich fühlte mich in meinem Lebensplan gefangen, weil ich mit meinem Glück jemanden verletzte, der mir sehr nahestand. Das Recht, eine eigene Familie zu gründen, weit weg zu ziehen, keine Rücksicht zu nehmen, war eine Herausforderung für mich.

Eine Sache allerdings machte mir große Sorgen – Karls grenzenlose Verehrung des Führers und des NS-Regimes. Mein Verlobter war älter und klüger als ich, kannte sich besser in der Politik aus, aber trotzdem. Ich verstand seine Begeisterung für die Rüstung Deutschlands, für den Anschluss Österreichs sowie die Annektierung der sudetendeutschen Gebiete nicht. Hat nicht jedes Volk das Recht so zu leben, wie es möchte? Warum muss das Deutsche Reich über allen stehen und alles diktieren? Ich bin zur einen Hälfte Deutsche, nach der Linie meines Vaters schlesische Deutsche, zur anderen Hälfte Österreicherin, und trotzdem verstehe ich nicht, warum wir besser sein sollen als Tschechen, Polen oder Ungarn.

Oft dachte ich darüber nach, welche Rolle jeder Einzelne in dem Spiel spielte. Ob ich völlig unbedeutend wie ein Stein am Straßenrand oder ein Teil des großen Plans war. Ob ich nichts dafürkonnte oder die volle Verantwortung trug. Aber solche Gedanken konnte ich aus Angst weder in der Öffentlichkeit aussprechen noch Karl schreiben. Er hätte sie als politisch falsch abgetan. Und nicht nur das. Er hätte mich mit Sicherheit nicht geheiratet. Und das wollte ich auf gar keinen Fall riskieren.