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FISCHBACH, 19. AUGUST 2008, NACHMITTAG

Seit Hilde die Kiste vom Dachboden holen ließ und deren Inhalt in Beschlag nahm, gibt es für sie kaum noch etwas anderes. Während Karl unter dem Nussbaum döst, sitzt sie fast den ganzen Tag auf dem überdachten Vorplatz und stöbert darin. Manche Briefpäckchen sind nach Datum geordnet, andere nach Absendern oder Empfängern. Sie blättert die Briefe durch, betrachtet die Umschläge, die Briefmarken, befühlt das vergilbte, spröde Papier, das manchmal zu zerbröseln droht, riecht daran, entscheidet spontan, welchen sie zur Hand nimmt und liest. Unter den Briefen liegen Dokumente, Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden, Arbeitsverträge, Schulzeugnisse, diverse Ausweise, Miet- und Pachtverträge sowie Fotos. Verblichene Bilder in Schwarz-Weiß und in Sepia. Lachende Menschen, ernste Menschen. Stumme Zeugen der Vergangenheit. Die meisten von ihnen sind tot. Einige erkennt sie nicht mehr.

Sie steht auf, geht ein paar Schritte, knickt ein wenig ein. Das rechte Knie ärgert sie schon wieder. Sie spürt, wie trocken, schwer beweglich und schmerzhaft das Gelenk ist, aber Hilde will nichts von einer Operation und schon gar nichts von einem künstlichen Knie hören, das ihr der Arzt einzureden versucht. Dazu ist es zu spät, denkt sie. Das hätte vielleicht vor zehn, 15 Jahren funktioniert, aber jetzt, wo die Kräfte schwinden, hat es nicht viel Sinn. Sie kämpft gegen das Alter an, bemüht sich, aus eigener Kraft vorwärtszukommen, nimmt nur hin und wieder den Rollator, der ihr ein wenig Stabilität verleiht. Und wenn die Zeit reif ist für einen Rollstuhl, dann wird sie sich ihrem Schicksal beugen. Aber erst dann.

Sie setzt sich wieder in den Stuhl, streicht über das schmerzende Knie und überlegt, sich eine Salbe zu holen, dann kommt ihr die Idee, am Abend Vroni zu bitten, ihr das Knie zu massieren. Oder doch ein paar Anwendungen im Therapiezentrum in Anspruch nehmen? Ultraschall, Moorpackung, Gymnastik. Nur wie kommt sie dorthin? Vroni und Markus haben schon genug mit ihr und Karl zu tun.

Und wieder läutet es am Tor, zum zweiten Mal schon in dieser Woche, ansonsten kommen kaum unangemeldete Besucher. Nachdem Vroni und Markus unterwegs sind, muss Hilde selbst aufstehen und nachsehen.

»Ich komme schon!«, ruft sie und schlurft langsam ins Haus, um den Schlüssel zu holen. »Gleich bin ich da!«, ruft sie noch einmal und ihre Schritte werden zwar ein bisschen schneller als gewöhnlich, dennoch setzt sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Erst unlängst ist sie ausgerutscht und gestürzt, das darf nicht wieder passieren. Ein Bruch, gar ein Oberschenkelhalsbruch könnte das Ende bedeuten. Die Steinmayer Erika aus der Waldsiedlung, die es vor einem knappen Jahr erwischt hat, liegt deshalb nach einer schweren Lungenentzündung, die oft eine Folge des langen Liegens ist, seit ein paar Monaten unter der Erde.

Im Spalt zwischen dem Holztor und dem Boden erkennt sie einen Schatten. Der Schlüssel raschelt im Schloss, das Tor geht auf, und sie steht erneut Willi Hammer gegenüber, der sie mit einer skurrilen Bitte überfällt. »Grüß dich, Hilde, könntest du mir ein paar Ansichtskarten schreiben?«

»Was? Was willst du schon wieder von mir?«

Willi greift in seine Sakkotasche und zieht ein Kuvert heraus. »Ich habe gerade ein paar Karten mit Fischbacher Motiven gekauft und bitte Menschen aus dem Dorf, mir darauf schöne Grüße zu schicken.«

»Hast du keine anderen Sorgen?«, brummt Hilde. »Du bist schon ein bisschen … sonderbar. Findest du nicht?«

»Wieso? Die einen sammeln Bierdeckel oder Zündholzschachteln und ich eben geschichtliche Daten«, sagt er und klebt auf die Postkarten bunte Briefmarken, sie sehen aus wie Sondermarken, die er vorher abgeleckt hat. »Damit die Karten einen historischen Wert haben, müssen sie den offiziellen Postweg durchlaufen.«

»Warum das Ganze?«, fragt Hilde nervös, weil ihr der komische Kauz in seinem karierten Holzfällerhemd schon ganz schön auf die Nerven geht.

»Ich sammle alles, was mit unserem Dorf zu tun hat«, erwidert Willi ganz ruhig. »Visitenkarten, Urkunden, Zeitungsausschnitte, Baupläne, Schriftmuster, einfach alles. Das ist mein Hobby, eigentlich meine Passion.«

»Aha. Sag einmal …«, sie versucht das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, »… was hast du früher gemacht? Ich meine beruflich.«

»Einiges. Zuerst habe ich in einer Tischlerei ausgeholfen, später war ich Friedhofsgärtner. Und ganz zum Schluss, eigentlich die letzten 24 Jahre, war ich Bestatter.«

»Was?«

»Totengräber. Das ist ein ehrenwerter Beruf.«

»Ja, sicher.«

»Und einträglich. Am Tag des Begräbnisses ist die Trauerfamilie wie in Trance. Der Verblichene hinterlässt in der Regel ein Vakuum. Und es ist egal, ob die Hinterbliebenen ehrlich trauern oder sich heimlich über das Verschwinden des unbeliebten Familienmitglieds freuen. Sie alle öffnen ihre Herzen und Geldbörsen und verleihen ihren aufrichtigen Gefühlen Ausdruck in Form von Geldscheinen, die ihr Gewissen erleichtern.«

»Das ist aber ganz schön hinterlistig, wenn du mit der Trauer der Menschen ein falsches Spiel spielst.«

»Was ist daran hinterlistig oder ein falsches Spiel? Meistens sterben alte Leute und hinterlassen einen Batzen Geld. Was ist schon dabei, wenn ich einen kleinen Teil davon abbekomme? Für die Familie bleibt immer noch genug, worum sie streiten können.«

»Du wirst mir immer unheimlicher«, wundert sich Hilde.

»Na, was ist? Schreibst du mir jetzt?« Willi grinst, zeigt dabei seine makellosen Dritten und hält ihr zwei Karten unter die Nase.

»Von mir aus. Komm weiter«, murmelt sie resigniert.

Sie nehmen unter dem Dachvorsprung Platz. Hilde setzt ihre Brille auf, die an einer Kette um ihren Hals hängt, und nimmt einen Stift zur Hand. »Was soll ich schreiben?«

»Egal. Es reichen schöne Grüße.«

»Na gut. Schöne Grüße aus Fischbach sendet dir Hilde Dorn. Reicht das?«

»Ja, vollkommen. Und jetzt noch meine Adresse.« Willi reicht ihr einen Zettel, sie schreibt die Adresse ab. Das Gleiche zwei Mal.

Als er endlich geht, atmet sie erleichtert auf. Ein unangenehmer Mensch, denkt sie. Er kommt hierher, tut so, als ob wir seit Jahren befreundet wären, und quetscht mich nur aus. Was will er von mir? Ist er einsam und sucht auf diese Art Gesellschaft oder ist er tatsächlich verrückt? Hilde weiß nichts über ihn außer, dass er als Kind mit seiner Familie in Fischbach lebte und später von dort wegzog. Es interessiert sie nicht, ob er eine Frau und Kinder hat und wo er bisher wohnte.

Aber allein die Tatsache, dass Willi Hubert Fischer kannte, den aufdringlichen Sohn der Pächterfamilie, weil er mit dessen jüngeren Bruder Paul befreundet gewesen war und hier im Haus öfter gespielt hatte, bereitet ihr ein großes Unbehagen. Und auch jetzt, wo er weg ist, gerade jetzt in diesem Moment spürt sie wieder aufsteigende Panik und ein Gefühl der Hilflosigkeit. Wenn er etwas weiß, ist sie ihm ausgeliefert, denkt sie. Und bevor sie nach dem nächsten Brief greift, wünscht sie sich, sie wäre lieber tot.