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FISCHBACH, 20. AUGUST 2008

In der zweiten Augusthälfte kippt das Wetter meistens. Von heute auf morgen fallen die Temperaturen, der Wind spielt mit den Ästen der Bäume, der Regen holt auf, was er die vergangenen Wochen versäumt hat. Die durstige Erde saugt alles, was von oben kommt, gierig auf. Das erste Laub fällt und legt sich ins Gras. In der Dämmerung raschelt der Igel darin, der sich für den Winter ein warmes Bett richtet. Die Menschen beginnen die Früchte des Sommers in die Häuser und die Vorratskammern zu tragen.

Markus holt am Abend die Kiste mit den Briefen vom Hof und stellt sie auf den Couchtisch im Wohnzimmer. »Was sind das für Briefe?«, fragt er, und Hilde beginnt zu stottern. Instinktiv spürt er, dass es keinen Sinn hätte, ein zweites Mal danach zu fragen, denn wenn sie ein Geheimnis hütete, wäre er wahrscheinlich der Letzte, dem sie es anvertrauen würde. Am Nachmittag erledigte er den Einkauf, kehrte das Laub mit dem Rechen zusammen und trug es auf den Kompost. Dann pflückte er je einen Korb Äpfel und Birnen, sammelte gefallenes Obst auf und brachte es zum Bauern, der im Winter einen Obstler daraus brennen würde. Früher hat Karl den Obstler gern getrunken, heute weiß er nicht mehr, was das ist.

»Frau Dorn, haben Sie noch Arbeit für mich?«, fragt er daraufhin wie jedes Mal, bevor er geht. Und obwohl die Zeit, die Markus im Haus verbringen soll, noch nicht ganz um ist, ist Hilde wie immer großzügig und will sagen: »Laufen Sie. Die Liebe soll man nicht warten lassen«, da läutet es wieder am Tor. Der Ton wird zunehmend schriller, und Hilde ahnt, dass es nur Willi sein kann. Wäre sie allein, würde sie nicht öffnen, aber sie möchte sich vor Markus keine Blöße geben und stellt sich der Situation. »Würden Sie noch aufmachen«, bittet sie Markus, »und wenn es Willi ist, bleiben Sie bitte noch ein bisschen. Allein ertrage ich den alten Kauz nicht.«

»Ich habe gründlich recherchiert und nachgedacht«, verkündet der selbst ernannte Dorfchroniker beim Betreten des Hauses. »Jetzt wird mir alles klar.«

»Was willst du noch von mir?«, stöhnt Hilde und stellt sich Willi in den Weg, damit er nicht ins Wohnzimmer vordringen kann.

»Ich kann mich noch sehr gut an den Hubert Fischer erinnern. Er war ein großer Bursche, breite Schultern, braunes Haar und er hatte einen schiefen Zahn auf der Seite. Das war sein Markenzeichen. Ich glaube, wegen des schiefen Zahns waren die Mädchen so wild nach ihm.«

»Kein Mädchen war wild nach Hubert!«

»Oh doch. Und eines Tages war er fort. Und am gleichen Tag verschwand auch das Mädchen. Lina. Sicher war sie auch verrückt nach ihm.«

»Verzeih Willi, aber was geht dich das alles an? Lina gehört zu unserer Familie. Das sind, wenn überhaupt, unsere Probleme.«

»Mich geht alles an, was in unserem Dorf passiert oder früher passiert ist.«

»Markus, bringen Sie Willi bitte zum Tor. Ich bin sehr müde und kann und will mich auf solche Diskussionen nicht einlassen. Außerdem tut mir mein Knie weh, ich kann kaum noch stehen und mein Kopf … Willi, bitte, geh.«

»Da habe ich es schwarz auf weiß. Das war hier, in diesem Haus«, lässt Willi nicht locker, wobei er mit einer alten Zeitung vor Hildes Augen winkt. »Hermanngasse 77. Schau!«

»Gib endlich Ruhe! Was geht dich unser Haus an?«

»Sie schreiben hier nur die Initialen, aber H. F. und K. B., das ist doch eindeutig.«

»Willi, du warst damals noch ein Kind. Ein verspielter Bursche, der sich gern hinter den Mehlsäcken versteckte und Zimtschnecken in der Backstube klaute. Spiel jetzt nicht Räuber und Gendarm.«

»Aber die zwei wurden nie gefunden. Zumindest habe ich nichts davon in den Zeitungsarchiven gefunden. Nicht einmal Milli hat eine Spur von den beiden im Internet entdeckt.«

»Verdammt noch mal, was hat deine Enkelin damit zu tun? Sie ist viel zu jung und hat keine Ahnung davon, was früher war«, murrt Hilde genervt und setzt sich. »Markus, bringen Sie mir bitte meine Tabletten und ein Glas Wasser«, stöhnt sie und fährt sich dabei mit beiden Händen durchs Haar. »Sie liegen in der Küche auf der Fensterbank.«

»Aber die Milli ist ein tüchtiges Mädchen. Sie kennt sich gut im Internet aus und sie ist eine Polizistin. Was glaubst du, wie g’scheit das Madl ist!«

»Du meinst, sie ist eine Politesse, die Strafzettel verteilt.«

»Nein, sie ist bei der Kripo.«

Hilde wird schwarz vor Augen. Der Mann bringt sie noch ins Grab, denkt sie. Wenn er nicht auf der Stelle aufhört …

»Mama! Mama!«, ruft Karl aus dem Schlafzimmer. Bald darauf hört man ein lautes Rumoren und einen Schlag, der nichts Gutes erahnen lässt.

»Karl! Was ist passiert?«, ruft Hilde und läuft los. Markus erreicht als Erster den Unglücksort. Karl liegt auf dem Boden vor der Schlafzimmertür und krümmt sich vor Schmerzen.

»Bitte, geh!«, zischt Hilde Willi, der den beiden gefolgt ist, ins Gesicht. »Siehst du nicht, was du angerichtet hast?«

»Mama! Aua, aua!«

»Markus, rufen Sie die Rettung«, sagt Hilde und bückt sich umständlich zu ihrem Mann. In ihrem Kreuz kracht es gefährlich, sie geht in die Knie, das rechte gibt nach und knickt ein. Hilde fällt seitlich zu Boden. Sie liegt neben ihrem Mann, greift sich an den Rücken und wimmert. Markus leistet Erste Hilfe noch vor dem Eintreffen der Rettung.

Der Notarzt untersucht die Verletzten und ordnet für beide einen Abtransport ins Krankenhaus an. Mit zwei Rettungswagen und lautem Tatütata fahren sie davon.