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ST. PÖLTEN, 21. AUGUST 2008, MORGEN

»Mama, ihr macht Sachen!«, schimpft Trudi am Telefon. »Ihr habt mir eine Riesenangst eingejagt.«

»Liebes, es ist nichts passiert. Mach dir keine Sorgen um uns.«

»Wie kann ich mir keine Sorgen machen? Meine beiden Eltern stürzen und liegen im Spital, und ich muss morgen nach London aufbrechen. Peter ist schon dort, du weißt, die Konferenz und dann die diversen Empfänge. Du hast doch selbst gesagt, ich soll mich mehr um meinen Mann kümmern.«

»Trudi, beruhige dich. Es gibt keine gebrochenen Knochen, nichts ist gerissen, nur ein bisschen geprellt. Und ein paar blaue Flecken, sonst nichts. Und der Papa hat eine kleine Platzwunde an der Stirn. Drei Stiche. Das vergeht. Sie behalten uns hier nur zur Beobachtung, in ein, zwei Tagen sind wir wieder zu Hause.«

»Du weißt, was ich mir gerade denke …?« Trudis Stimme wird leise, und trotzdem schwingt eine Bestimmtheit mit, die keinen Widerspruch duldet.

»Ich weiß … aber ein Heim … nein, Trudi, vergiss es gleich. Wir werden weitermachen wie bisher.«

»Von mir aus. Aber darüber reden wir noch. Zumindest Michi und Tommy könnten euch besuchen und euch helfen. Rasen mähen, einkaufen …«

»Dafür haben wir Markus. Lass die Buben, wo sie sind. Wir kommen schon zurecht.«

»Wenn Peter einmal die Firma ganz an Michi übergeben hat und wir mehr Zeit haben, werde ich mich mehr um Euch kümmern. Versprochen.«

»Sieht das dein Peter auch so?«

»Das lass nur meine Sorge sein.«

Nach ein paar Untersuchungen sind Karl und Hilde auf eigenen Wunsch wieder zu Hause. Keine einzige Nacht mussten sie im Krankenhaus verbringen. Hilde liegt im Bett und denkt an die Briefe in der Kiste. Was, wenn sie jemand liest?, schießt es ihr durch den Kopf. Und wenn schon, kommt ihr der nächste Gedanke. Damals war das halt so. Das Schlimme, das wirklich passiert ist, steht sowieso nicht darin. Und dann ist da wieder ihre eigene Stimme, die ihr zuflüstert: Gib alles zu, entlaste dein Gewissen, du kannst nichts dafür, das Ganze war nur eine Verkettung unglücklicher Umstände. Aber so sehr sie auch nach einer Selbstentschuldigung sucht, sie weiß, dass sie etwas Unrechtes, ja sogar eine Todsünde begangen hat.

Nicht einmal dachte sie an eine Erleichterung bei der Beichte, an die Möglichkeit, alles zu erzählen, den Priester zum Verbündeten zu machen und sich von der großen Schuld reinzuwaschen. Ein paar Vaterunser, die Absolution, und alles wäre gut. Sie geht zum Altar, empfängt die Hostie, beichtet im Geiste, gesteht ihre Schuld und schweigt. Sie hört Bruchstücke aus der Predigt. Wer ohne Fehler ist, werfe den ersten Stein. Unsicher verlässt sie die Kirche, wartet auf den Blitz vom Himmel, auf Gottes Strafe, aber es kommt nichts. Im Gegenteil. Die Sonne scheint prächtiger als beim Betreten der Kirche.

Hilde leidet, möchte Abbitte leisten, bittet um Vergebung. Aber egal, was sie tut, sie spürt Gott nicht bei sich. Er deutet ihr nicht an, ob er mit ihren Taten einverstanden oder böse mit ihr ist. Nichts. Sie hadert, innerlich schimpft sie mit ihm. »Bitte, gib mir ein Zeichen«, fleht sie ihn in ihren täglichen Gebeten an. »Sprich zu mir. Vergib mir oder bestrafe mich. Nur bitte, schweig nicht.«

Und dann fällt ihr ihre geliebte Nichte Lina ein, die sie zu stark hätte belasten müssen, die sich aber, weil sie unauffindbar war, nicht hätte wehren können. Vielleicht, sollte Hilde mit dem Drama wieder beginnen, würden sie nochmals nach ihr suchen, einen weltweiten Fahndungsbefehl herausgeben, Lina wie eine Verbrecherin behandeln, verhören oder gar verhaften. Sie würden sie ganz sicher verhaften, denn das, was damals geschehen ist, man kann es drehen, wie man will, war ein Verbrechen. Nein, das will und kann sie dem armen Mädchen nicht antun.

Mitten in der Nacht steht sie auf, sie hat das Gefühl, keine Minute geschlafen zu haben. Der Kopf schmerzt, als ob er in einen Schraubstock gespannt wäre. Die Füße brennen, an der Schläfe pocht eine Vene. Langsam schleppt sie sich ins Badezimmer, sieht einen Grashüpfer, der sich in die Badewanne verirrt hat. Kurz entschlossen hebt sie ihn auf und wirft ihn aus dem Fenster. Dann bleibt sie vor dem Spiegel stehen. Eine alte Frau mit geröteten Augen schaut sie an, die nur eine entfernte Ähnlichkeit mit ihr hat. Hilde spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht, genießt die Frische und wird auf einmal munter. Viele Menschen fürchten sich vor dem Älterwerden, denkt sie. Sie nicht. Sie freut sich, wenn die Haut der gepflügten Erde gleicht, dann haben sie etwas gemeinsam. Das Leiden.