»Erinnerst du dich, Karl, wie du im Sommer 1939 plötzlich und unerwartet nach Hause gekommen bist? Du hast mich überraschen wollen, und das ist dir auch gelungen. Elfi, Lina und ich waren auf dem Acker und haben im Kukuruz gearbeitet, da standest du plötzlich vor uns, und ich dachte, mein Herz bleibt auf der Stelle stehen. Karl, war das nicht schön, als wir uns nach so vielen Monaten der Trennung wieder in den Armen lagen und uns aneinanderdrücken konnten? An dem Tag, glaube ich, war ich die glücklichste Frau auf Erden.«
Hilde und Karl sitzen auf der Veranda und schauen in die Weite des Gartens. Im Gras versammeln sich Krähen, die ihre frühe Herbstversammlung halten, am Himmel sieht man Wildgänse in strenger Formation Richtung Süden ziehen. Das alles kommt heuer viel zu früh, denkt Hilde, sagt aber nichts. Sie hatte es längst aufgegeben, sich über Naturphänomene zu wundern, sondern nimmt die Dinge, so wie sie sind.
Vroni hat vor ein paar Minuten den Mittagstisch abgeräumt und schlichtet das Geschirr in der Küche in die Spülmaschine. Die beiden Alten halten sich an den Händen, eigentlich hält Hilde Karls Hand, der es in dem Moment zulässt. »Karl, es ist so viel in unserem Leben passiert«, seufzt sie, während sie sich zu ihm beugt. »Und ich möchte dir noch so viel sagen, bin mir aber nicht sicher, ob ich dich jetzt damit belasten soll. Karl, willst du alles wissen?«
Karl öffnet den Mund, ein Speicheltropfen rinnt an seinem Kinn herunter und fällt auf sein Hemd. Die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Hilde, die solche Situationen gewohnt ist, tupft das Gesicht ihres Mannes mit einer Serviette ab und reicht ihm ein Wasserglas. »Trink einen Schluck.«
Wo sind die Jahre hin, denkt sie. Was ist aus uns geworden? Zwei alte Menschen, die kaum gehen können und auf Hilfe angewiesen sind.
»Wir haben uns an der Traisen kennengelernt«, sagt sie mehr zu sich als zu Karl. »Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern.« Hilde steht auf, eilt ins Wohnzimmer und holt das alte Fotoalbum aus der Kiste mit den Briefen. Sie legt es auf den Verandatisch, blättert darin und betrachtet die kleinen, unscharfen Fotos auf dunkelgrauem Karton, die nur schemenhaft das wiedergeben, was in ihrer Erinnerung haften blieb. »Karl, Erinnerungen sind das, was uns ausmacht«, sagt sie, während sie an ihm vorbeischaut. »Sie sind das Wertvollste, das uns geblieben ist.«
Sie waren jung, beide nicht besonders groß, heute würde man sagen von mittelgroßer Statur. Karl mit dunklem, nach hinten gekämmtem, dichtem Haar, ein schlaksiger Jüngling mit langen Beinen. Hilde war etwas rundlicher um die Hüften, wenn auch nicht dick, eher kernig, aber das war gerade das, was ihm an ihr so gut gefiel. Mutig sprang sie in das eiskalte Wasser der Traisen und schwamm gegen die Strömung. Das imponierte ihm. Ihre Figur, ihr Mut, ihre Kraft. Und der dunkelrote Badeanzug, der ihren Busen fest umklammerte und seine dralle Form zur Geltung brachte. Trotzdem dauerte es einige Wochen, bis er sich traute, sie anzusprechen. Und dann ging es schnell. Sie spielten jeden Freitagabend im Gasthaus Zither und gingen am Sonntag tanzen. Musik verbindet. Und noch bevor ein Jahr vergangen war, waren sie sich einig, dass sie für immer zusammenbleiben wollten. Das Einzige, das sie an einer schnellen Heirat hinderte, war Karls Arbeitslosigkeit. Schon seit einiger Zeit bemühte er sich erfolglos, einen Arbeitsplatz zu finden, aber die von der Wirtschaftskrise geschüttelten Dreißigerjahre geizten mit Arbeitsmöglichkeiten für junge Menschen ohne Kapital.
Solange er kein regelmäßiges Einkommen hatte, hielt sich Karl mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser und traute sich nicht, Hilde einen Heiratsantrag zu machen. Er hatte kein Haus, keine Arbeit, keine Perspektive. Erbärmliche Bedingungen für den Kampf gegen die Außenwelt. Hildes Vater, wäre er noch am Leben gewesen, hätte ihr nicht seine Einwilligung gegeben, und auch die Verwandten und Freunde hätten ihr von einer Heirat mit einem Arbeitslosen dringend abgeraten. Sie hätten sie sicher ausgelacht und für verrückt gehalten.
»Schön, schön«, sagt Karl und drückt Hildes Hand.
»Ja«, sagt die alte Frau. »Es war sehr schön, als du da warst. Du hast uns bei der Ernte geholfen und auch einen Pächter für meinen Anteil konnten wir gemeinsam finden.« Während Hilde erzählt, begreift sie, dass das Haus, die Wirtschaft und die Bäckerei, um die sie viele Menschen beneidet hatten, damals wie ein großer Mühlstein an ihr hingen, der sie in die Tiefe zog. Es war verlockend gewesen, das Familienerbe anzunehmen, aber sie hatte bald begriffen, dass sie nur dann frei sein konnte, wenn es ihr gelänge, es abzuschütteln. Elfi war zwar immer noch nicht ganz zufrieden mit der Teillösung, aber sie konnte mit Lina im Haus bleiben, ihren Acker bearbeiten und von den Einnahmen der verpachteten Felder gut leben.
»Ja, und dann?«
»Und dann sprachen wir über unsere geplante Hochzeit und die lange Zeit, die wir schon getrennt waren. ›Worauf soll ich noch warten‹, fragte ich dich. Worauf? Ich hasste das ewige Warten. Würde es jemals ein Ende haben? Immer nur warten. Das ganze Leben wartet man auf etwas. Warten, bis man den Kinderschuhen entwächst, endlich in die Schule geht, bis die Schule endlich aufhört, bis man groß genug ist, um endlich tanzen gehen zu dürfen, einen Burschen zu küssen, Händchen zu halten, zu heiraten, Kinder zu bekommen. ›Karl, ich möchte mit dir zusammen sein‹, betonte ich damals, ›in Frieden leben, arbeiten, für unsere kleine Familie sorgen. Spaß haben. Ich habe genug davon, immer nur vernünftig zu sein. Vernünftig zu denken und zu handeln. Immer nur auf den Verstand zu hören, nie auf den Bauch. Denn der Bauch spürt viel früher, was gut und richtig ist und was sich als ›Durchfall‹ erweist.‹«
Und obwohl alles für Hildes Abfahrt vorbereitet gewesen war, fuhr Karl ohne sie nach Deutschland. Die politische Situation hatte sich zu verschärfen begonnen.